1. Rechtlicher Charakter des Beschwerdeverfahrens
Das Beschwerdeverfahren ist in den Art. 106 bis 111 EPÜ, in den R. 99 bis 103 EPÜ und in der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern besonders geregelt. R. 100 (1) EPÜ spielt dabei eine wichtige Rolle, da sie vorsieht, dass die Vorschriften für das Verfahren vor dem Organ, das die mit der Beschwerde angefochtene Entscheidung erlassen hat, im Beschwerdeverfahren anzuwenden sind, sofern nichts anderes bestimmt ist. Diese analoge Anwendung ist allerdings nicht ohne Weiteres in jedem Fall und für jede Vorschrift zulässig (G 1/94, ABl. 1994, 787). Es mussten daher Kriterien ausgearbeitet werden, wann eine Analogie zulässig ist und wann nicht. Dafür war es notwendig, den rechtlichen Charakter des Beschwerdeverfahrens zu analysieren.
Das Beschwerdeverfahren ist ein vom erstinstanzlichen Verfahren vollständig getrenntes, unabhängiges Verfahren. Seine Aufgabe besteht darin, ein gerichtliches Urteil über die Richtigkeit einer davon strikt zu trennenden früheren Entscheidung der erstinstanzlichen Stelle zu fällen (T 34/90, ABl. 1992, 454; G 9/91, ABl. 1993, 408; G 10/91, ABl. 1993, 420; T 534/89, ABl. 1994, 464; T 506/91). Das Beschwerdeverfahren ist keineswegs eine bloße Fortsetzung des erstinstanzlichen Verfahrens und sollte dies auch nie sein (T 34/90, ABl. 1992, 454; T 501/92, ABl. 1996, 261; T 1251/07; T 719/09; T 177/18). In der revidierten Fassung der VOBK heißt es nun in Art. 12 (2) VOBK 2020 ausdrücklich, dass es das vorrangige Ziel des Beschwerdeverfahrens ist, die angefochtene Entscheidung gerichtlich zu überprüfen.
In T 501/92 (ABl. 1996, 261) leitete die Kammer aus diesem Grundsatz ab, dass prozessuale Anträge oder Verfahrenserklärungen eines Beteiligten während des erstinstanzlichen Verfahrens nicht für ein anschließendes Beschwerdeverfahren gelten und im Beschwerdeverfahren selbst wiederholt werden müssen, um dort eine prozessuale Wirkung zu entfalten.
Dass die Beschwerdekammern Gerichte sind, wurde schon in G 1/86 festgestellt (ABl. 1987, 447, Nr. 14 der Gründe). In G 1/99 (ABl. 2001, 381) hat die Große Beschwerdekammer ausgeführt, dass das Beschwerdeverfahren als verwaltungsgerichtliches Verfahren anzusehen sei (G 9/91, ABl. 1993, 408, Nr. 18 der Gründe und G 8/91, ABl. 1993, 346, Nr. 7 der Gründe sowie G 7/91, ABl. 1993, 356). In G 9/92 date: 1994-07-14 und G 4/93 (beide ABl. 1994, 875) wurde entschieden, dass die Beschwerde den Umfang des Beschwerdeverfahrens bestimmt.
Diese Merkmale des Beschwerdeverfahrens dienen nicht nur als Kriterien bei der Beurteilung der Zulässigkeit einer analogen Anwendung einer Vorschrift im Einzelfall, sondern haben auch allgemeine rechtliche Konsequenzen in mehrfacher Hinsicht. So ergibt sich aus den von der Großen Beschwerdekammer herausgearbeiteten Charakteristika, dass die allgemeinen Grundsätze für Gerichtsverfahren, wie zum Beispiel der Verfügungsgrundsatz, auch im Beschwerdeverfahren gelten (vgl. G 2/91, ABl. 1992, 206; G 8/91; G 8/93, ABl. 1994, 887; G 9/92 date: 1994-07-14, G 4/93), dass die Überprüfung der Entscheidung der ersten Instanz grundsätzlich nur auf der Grundlage der bereits vor der ersten Instanz geltend gemachten Gründe erfolgen kann (G 9/91, G 10/91) und dass der einleitende Antrag das Verfahren bestimmt (ne ultra petita) (vgl. G 9/92 date: 1994-07-14 und G 4/93). Die Große Beschwerdekammer hat außerdem klargestellt, dass die Entscheidungskompetenz der Einspruchsabteilung und der Beschwerdekammer im Einspruchsbeschwerdeverfahren nur in dem Umfang besteht, in dem das europäische Patent im Rahmen der Erklärung nach R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) angefochten worden ist. Darüber hinaus fehlt es an einer Entscheidungskompetenz und an der Befugnis, "einen Sachverhalt zu ermitteln" (vgl. G 9/91). Damit wurde der Anwendungsbereich des Art. 114 (1) EPÜ 1973 definiert und die Abgrenzung zwischen der Befugnis, das Verfahren einzuleiten und dessen Gegenstand zu bestimmen, und der Befugnis, den relevanten Sachverhalt zu prüfen, klargestellt. Die einzelnen verfahrensrechtlichen Folgen sowie die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer werden nachstehend näher behandelt.
Nach der ständigen Rechtsprechung handeln die Beschwerdekammern und die Große Beschwerdekammer als rechtsprechende Organe, die auf gesetzlicher Grundlage geschaffen wurden, und wenden allgemeine Grundsätze des Verfahrensrechts an (s. G 3/08 date: 2010-05-12, ABl. 2011, 10 und G 2/08 date: 2010-02-19, ABl. 2010, 456).
In T 1676/08 ergänzte die Kammer, dass einer dieser Verfahrensgrundsätze in Art. 6 (1) EMRK verankert ist, der auf Rechtsgrundsätzen beruht, die allen Mitgliedstaaten der Europäischen Patentorganisation gemeinsam sind und für all ihre Organe gelten, und in dem es unter anderem heißt: "Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird". Nach der ständigen Rechtsprechung ist ein Inter-partes-Verfahren vor einer Beschwerdekammer außerdem nur dann fair, wenn die Kammer Neutralität wahrt (s. zum Beispiel R 12/09 vom 15. Januar 2010 date: 2010-01-15 und T 253/95).