1. Allgemeine Grundsätze
Vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres wird nach R. 12b (4) EPÜ und Art. 1 (1) VOBK 2020 ein Geschäftsverteilungsplan aufgestellt, nach dem alle Beschwerden, die im Laufe des Jahres eingereicht werden, auf die Beschwerdekammern verteilt und die Mitglieder und deren Vertreter bestimmt werden, die in den einzelnen Kammern tätig werden können. Der Plan kann im Laufe des Geschäftsjahres geändert werden. Ebenso wird vor Beginn eines jeden Geschäftsjahres ein Geschäftsverteilungsplan für die Große Beschwerdekammer erstellt (R. 13 EPÜ, Art. 2 VOGBK). Auch dieser kann im Laufe des Geschäftsjahres geändert werden.
In G 1/05 vom 7. Dezember 2006 date: 2006-12-07 (ABl. 2007, 362) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass es zwar äußerst wichtig ist, dass die Kammermitglieder ihrer Verpflichtung gerecht werden, an den ihnen zugewiesenen Fällen mitzuwirken. Kammermitglieder können sich nicht nach Belieben, d. h. nicht aus Gründen, die in keinerlei Zusammenhang mit Sinn und Zweck der Vorschriften über Ausschließung und Ablehnung stehen, aus dem Verfahren zurückziehen (s. dieses Kapitel III.J.2.1). Andererseits sollte aber auch vermieden werden, dass ein Kammermitglied an einer Sache mitwirken muss, obwohl es überzeugt ist oder befürchtet, dass es nicht unparteiisch sein kann.
In G 2/08 vom 15. Juni 2009 date: 2009-06-15 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass ihre Mitglieder verpflichtet sind, über die ihnen "ratione legis" sowie gemäß ihrer sachlichen Zuständigkeit zugewiesenen Fälle zu verhandeln (s. auch G 3/08 vom 16. Oktober 2009 date: 2009-10-16). Beteiligte an einem Gerichtsverfahren haben somit einen Anspruch darauf, dass ihr Fall von dem durch gesetzliche Regelung bestimmten oder bestellten Richter geprüft und entschieden wird. Dieses Grundprinzip ist sogar in einigen Vertragsstaaten z. B. Deutschland, Österreich, Schweiz verfassungsmäßig verankert (s. G 1/05 vom 7. Dezember 2006 date: 2006-12-07, ABl. 2007, 362; T 954/98 vom 9. Dezember 1999 date: 1999-12-09; date: 1999-12-09;; J 15/04, R 2/14 vom 17. Februar 2015 date: 2015-02-17; R 15/11). In Art. 6 (1) EMRK wiederum heißt es unter anderem: "Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten in Bezug auf ihre zivilrechtlichen Ansprüche und Verpflichtungen … von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird". Diese Grundsätze sind nicht unvereinbar und müssen so ausgelegt werden, dass sie sich nicht gegenseitig ausschließen.
In R 19/12 vom 25. April 2014 date: 2014-04-25 betonte die Große Beschwerdekammer ebenfalls, dass die Auslegung der Vorschriften, die die Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit betreffen, in dem Spannungsfeld steht, dass sich einerseits niemand seinem gesetzlichen Richter entziehen darf, aber andererseits jeder ein Grundrecht auf ein faires Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht hat (Art. 6 (1) EMRK, Art. 47 (2) der Charta der Grundrechte der Europäischen Union).
In R 15/11 stellte die Kammer unter Verweis auf G 1/05 date: 2006-12-07 fest, dass sich Kammermitglieder nicht nur nicht nach Belieben aus dem Verfahren zurückziehen können, sondern außer bei Vorliegen eines zwingenden Grunds auch der Geschäftsverteilungsplan einzuhalten und auf einen vor der Kammer wiedereröffneten Fall anzuwenden ist. Die Große Beschwerdekammer hielt es daher für geboten, bei der Ausübung des in R. 108 (3) Satz 2 EPÜ eingeräumten Ermessens die Kriterien und Maßstäbe zu beachten, die für den Ersatz von Mitgliedern der Beschwerdekammer nach einer Ablehnung wegen Besorgnis der Befangenheit gemäß Art. 24 (3) und (4) EPÜ entwickelt wurden.
In T 281/03 vom 30. März 2006 date: 2006-03-30 erklärte die Kammer, dass die Richtigkeit der Besetzung anhand objektiver Kriterien festgestellt werden sollte, also unter Zugrundelegung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern und des Geschäftsverteilungsplans. Weder gebe es ein subjektives Element, das eine entsprechende Anwendung des Art. 24 (4) EPÜ auf andere Situationen als Ausschließung oder Ablehnung rechtfertige, noch konnte die Kammer in ihrer neuen Besetzung eine Rechtslücke erkennen, die eine entsprechende Anwendung des Art. 24 (4) EPÜ notwendig machte. Sehr wohl aber könnte die Tätigkeit der Kammern, wenn die Besetzung einer Kammer durch deren neue Besetzung überprüft werden müsste, allein durch immer wieder vorgebrachte Befangenheitseinwände blockiert werden.
In T 355/13 wies die Kammer die nicht weiter substanziierte Behauptung des Beschwerdeführers zurück, die Kammer habe durch ihre geänderte Besetzung ein "Spezialtribunal" zu seinen Ungunsten gebildet und die "wahren Gründe" für die Änderung ihrer Besetzung nicht mitgeteilt. In einer Mitteilung an die Beteiligten hatte die Kammer erläutert, dass die Änderungen in ihrer Besetzung durch Änderungen im Geschäftsverteilungsplan bedingt waren, und betont, dass das bisherige technisch vorgebildete Mitglied in eine andere Kammer versetzt wurde und das bisherige rechtskundige Mitglied aus den Beschwerdekammern ausgeschieden war. Dennoch hatte der Beschwerdeführer seinen Einwand aufrechterhalten, seine Behauptung aber durch keinerlei Beweismittel gestützt.
- R 12/22
Zusammenfassung
In R 12/22 machte die Antragstellerin in ihrem Antrag auf Überprüfung mehrere schwerwiegende Verfahrensmängel geltend, unter anderem, dass die kurzfristige Ersetzung des juristischen Mitglieds im vorliegenden Fall ihr Recht auf rechtliches Gehör unter folgenden Aspekten verletze: (a) mangels Möglichkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 24 EPÜ im Hinblick auf das neue Mitglied zu untersuchen, (b) wegen fehlender ausreichender Vorbereitungsmöglichkeit des umfangreichen Falles für das neue Mitglied, (c) wegen fehlender Möglichkeit der Stellungnahme der Antragstellerin zur kurzfristigen Ersetzung vor der mündlichen Verhandlung.
Zu (a) stellte die Große Beschwerdekammer (GBK) fest, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Recht umfassen kann, Informationen zu erhalten, um das Recht zu wahren, das neue Kammermitglied gegebenenfalls nach Art. 24 EPÜ abzulehnen. Das Vorbringen der Antragstellerin, sie hätte das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 24 EPÜ wegen der Kürze der Zeit nicht überprüfen können, überzeugte die GBK jedoch nicht, da die Antragstellerin diese Überprüfung in der mündlichen Verhandlung durch Fragen zu der Thematik an das betroffene Kammermitglied hätte nachholen können. Zudem hatte die Antragstellerin in ihrem Überprüfungsantrag auf keinen denkbaren Verstoß gegen Art. 24 EPÜ hingewiesen, so dass die GBK auch keinen derartigen Sachvortrag auf einen denkbaren Gehörsverstoß überprüfen konnte. Die Antragstellerin hatte zudem argumentiert, dass – auch wenn auf freiwilliger Basis eine Auskunft über ein Kammermitglied erteilt worden wäre – diese in der Kürze der Zeit nicht objektiv nachprüfbar gewesen wäre. Die GBK war von diesem Vortrag nicht überzeugt. Ein Auskunftsrecht bestand nach ihrer Auffassung nur über Umstände, die geeignet sein könnten, eine Ablehnung zu begründen, nicht aber über die Vorbereitung eines Mitglieds auf die mündliche Verhandlung in einem konkreten Fall, da dies mit seiner Unabhängigkeit nicht vereinbar wäre. Ferner müsse es zur Vermeidung der Verzögerung von Verfahren möglich sein, auch kurzfristig eine Kammer im Einklang mit Art. 2 VOBK umzubesetzen. Es reiche aus, dass den Beteiligten die Möglichkeit der Ablehnung eines Mitglieds nach Art. 24 (3) EPÜ wegen eines Ausschließungsgrundes oder wegen Besorgnis der Befangenheit zustehe.
Zu (b), stellte die GBK fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folgt, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen. Insbesondere müsse das Mitglied seine Pflichten nach eigenem Gutdünken erledigen können. Die GBK stimmte der folgenden Passage aus R 5/19 zu: "bis zum Beweis des Gegenteils in einem konkreten Fall [kann] davon ausgegangen werden [...], dass Mitglieder von Beschwerdekammern generell ihre Amtspflichten korrekt ausüben [...]."
Auch hinsichtlich (c), d.h. der fehlenden Möglichkeit sich vor der mündlichen Verhandlung zur kurzfristigen Ersetzung zu äußern, sah die GBK keine Bedenken hinsichtlich der Wahrung des rechtlichen Gehörs in einer solchen Situation.
In der mündlichen Verhandlung vor der GBK, machte die Antragstellerin die kurzfristige Ersetzung des juristischen Mitglieds erstmals auch als Gehörsverstoß unter einem weiteren Gesichtspunkt, nämlich demjenigen eines Verstoßes gegen ein "Recht auf den gesetzlichen Richter" geltend. Die GBK stellte fest, dass ein solches Recht im EPÜ und den dieses ergänzenden Vorschriften, insbesondere denjenigen der VOBK, nicht geregelt ist. Art. 2 VOBK regelt Ausnahmen vom Geschäftsverteilungsplan, nämlich die Ersetzung von Mitgliedern bei Verhinderung an der Mitwirkung. Ähnlich wie im Fall des geltend gemachten Informationsrechts betreffend Art. 24 EPÜ hatte die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer ein Recht auf den gesetzlichen Richter nicht geltend gemacht. Sie hatte explizit lediglich die Kurzfristigkeit der Umbesetzung und die damit angeblich verbundene zu knappe Vorbereitungszeit für das neue Mitglied sowie das Fehlen einer Möglichkeit zur Stellungnahme zur Ersetzung vor der mündlichen Verhandlung beanstandet. Das Nichtvorliegen einer Ausnahme nach Art. 2 VOBK hatte die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung nicht geltend gemacht. Daher entschied die GBK, diesen neu geltend gemachten Gehörsverstoß durch Verletzung eines Rechts auf den gesetzlichen Richter als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.