4. Verspätetes Vorbringen neuer Dokumente, Angriffszüge und Argumente
Gemäß Art. 114 (1) EPÜ muss das EPA den Sachverhalt von Amts wegen ermitteln; es ist dabei weder auf das Vorbringen noch auf die Anträge der Beteiligten beschränkt. In T 223/95 unterstrich die Kammer jedoch den Charakter des der Erteilung nachgeschalteten Einspruchsverfahrens im Rahmen des EPÜ. Das Einspruchsverfahren müsse grundsätzlich als streitiges Verfahren zwischen Parteien angesehen werden, die in der Regel gegenteilige Interessen verträten, die aber Anspruch auf die gleiche Behandlung hätten. Es obliege dem Einsprechenden selber, der Einspruchsabteilung Tatsachen und Beweismittel zur Begründung seines Einspruchs anzugeben. S. auch T 998/04 (mit Verweis auf G 9/91, ABl. 1993, 408 und T 671/03) und T 223/05.
Nach Art. 114 (2) EPÜ braucht das EPA Tatsachen und Beweismittel, die von den Beteiligten verspätet vorgebracht werden, nicht zu berücksichtigen. Bei der Auslegung von Art. 114 EPÜ stellt sich die Frage, wie die Absätze 1 und 2 in ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen sind. In T 122/84 (ABl. 1987, 177) wird eine Zusammenfassung der historischen Entwicklung des Grundsatzes der Amtsermittlung im Hinblick auf verspätetes Vorbringen aus den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973 gegeben. Eine zur Amtsermittlung nicht in Widerspruch stehende Lösung wurde darin gesehen, dass die Berücksichtigung verspätet vorgetragener Tatsachen und Beweismittel nicht ausgeschlossen, sondern dem Ermessen des entscheidenden Organs überlassen wurde.
In T 1002/92 befand die Kammer in Anwendung der in G 10/91 (ABl. 1993, 420) dargelegten Grundsätze, dass im Verfahren vor den Einspruchsabteilungen verspätet vorgebrachte Tatsachen, Beweismittel und diesbezügliche Argumente, die über die gemäß R. 55 c) EPÜ 1973 (R. 76 (2) c) EPÜ) in der Einspruchsschrift zur Stützung der geltend gemachten Einspruchsgründe angegebenen "Tatsachen und Beweismittel" hinausgehen, nur in Ausnahmefällen zum Verfahren zugelassen werden, wenn prima facie triftige Gründe die Vermutung nahelegen, dass die verspätet eingereichten Unterlagen der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen würden. S. auch T 334/06, mit Verweis auf T 273/84 (ABl. 1986, 346), und T 1002/92. Einzelheiten zu den Kriterien für die Ermessensausübung enthält Kapitel IV.C.4.5.
In Bezug auf das Beschwerdeverfahren betonten die Kammern, dass eine starre Regelung, die sämtliche neuen Beweismittel im Beschwerdeverfahren ausschließen würde, sich in einigen Fällen ungerecht und unfair auswirken könnte und mit den in den Vertragsstaaten allgemein anerkannten Verfahrensgrundsätzen nicht vereinbar wäre (J 5/11, J 6/14, T 598/13). Dies gilt umso mehr für das Einspruchsverfahren.
Für das erstinstanzliche Verfahren besagt R. 116 (1) EPÜ, dass mit der Ladung zur mündlichen Verhandlung ein Zeitpunkt bestimmt wird, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können. Nach diesem Zeitpunkt vorgebrachte neue Tatsachen und Beweismittel brauchen nicht berücksichtigt zu werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind. Diese Vorschrift stellt keine absolute Sperre für die Zulassung verspäteten Vorbringens dar; vielmehr ergibt sich schon aus dem Wortlaut, dass diese Vorschrift einen Ermessensspielraum vorsieht (T 798/05, s. auch T 2102/08, T 1253/09).
In T 1485/08 entschied die Einspruchsabteilung, die späte Einreichung (einen Tag vor der mündlichen Verhandlung) einer englischen Übersetzung eines koreanischen Patents, das fristgerecht zusammen mit der Einspruchsbegründung eingereicht worden war, nicht zuzulassen. Die Kammer stellte fest, dass das Dokument (koreanische Patent) zusammen mit der Einspruchsschrift zur Anfechtung der Neuheit des Streitpatents eingereicht worden sei. Obgleich das Dokument nicht in einer der Amtssprachen des EPA abgefasst sei, zeigten schon die diversen englischen Begriffe in der darin enthaltenen Beschreibung, dass sich das Schriftstück auf den beanspruchten Gegenstand beziehe. Die Kammer war der Ansicht, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen nicht korrekt ausgeübt hat, als sie die englische Übersetzung nur wegen des späten Vorbringens nicht zuließ, ohne ihre Relevanz oder irgendwelche anderen Kriterien zu prüfen.