1.7.3 Entscheidungen zur Anwendung der in G 1/03 und G 1/16 von der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Kriterien
In G 1/03 und G 2/03 (ABl. 2004, 413 und 448) führte die Große Beschwerdekammer aus, dass ein Anspruch, der einen Disclaimer enthalte, die in Art. 84 EPÜ 1973 verankerten Erfordernisse der Klarheit und Knappheit erfüllen müsse. Demnach sei ein Disclaimer nicht zulässig, wenn die erforderliche Beschränkung einfacher durch positive ursprünglich offenbarte Merkmale gemäß R. 29 (1) Satz 1 EPÜ 1973 (R. 43 (1) EPÜ) ausgedrückt werden könne. Die Aufnahme mehrerer Disclaimer könne zudem zu einer Anspruchsformulierung führen, die es der Öffentlichkeit unvertretbar schwer mache, zu erfassen, was geschützt ist und was nicht. Es müsse für Ausgewogenheit gesorgt werden zwischen dem Interesse des Anmelders, angemessenen Schutz zu erlangen, und dem der Öffentlichkeit, den Schutzumfang mit vertretbarem Aufwand bestimmen zu können.
Im Interesse der Transparenz des Patents solle aus der Patentschrift klar hervorgehen, dass und warum sie einen nicht offenbarten Disclaimer enthalte. Der ausgeklammerte Stand der Technik sollte in der Beschreibung gemäß R. 27 (1) b) EPÜ 1973 (R. 42 (1) b) EPÜ) angegeben und die Beziehung zwischen dem Stand der Technik und dem Disclaimer sollte aufgezeigt werden.
Die folgende Rechtsprechung zur Klarheit von Ansprüchen, die einen Disclaimer enthalten, erging nach den Entscheidungen G 1/03 und G 2/03:
i) Kombination von Merkmalen, die verschiedenen Dokumenten entnommen wurden
In T 161/02 stellte die Kammer fest, dass der Disclaimer Merkmale miteinander kombinierte, die zwei verschiedenen Dokumenten des Stands der Technik entnommen waren, wobei sich aus der Kombination dieser Merkmale ein Disclaimer ergab, der weder der Offenbarung des ersten noch der Offenbarung des zweiten Dokuments entsprach und der technisch völlig unsinnig war. Die Kammer befand, dass ein derartiger Disclaimer den Anspruch unklar im Sinne von Art. 84 EPÜ 1973 mache, da es der Öffentlichkeit nicht möglich sei, zu erkennen, was geschützt bzw. nicht geschützt sei.
ii) Disclaimer, der eine chirurgische oder therapeutische Behandlung ausschließt
Zur Begründung der Ausschlussbestimmung "nicht therapeutische Verwendung" am Anfang des streitigen Anspruchs hatte sich der Beschwerdeführer in der Sache T 67/02 auf G 1/03 und G 2/03 (ABl. 2004, 413 und 448) berufen, wonach "Disclaimer" für gemäß Art. 52 bis 57 EPÜ 1973 von der Patentierbarkeit ausgenommene Gegenstände zulässig seien. Die Kammer stellte jedoch fest, dass im vorliegenden Fall eine eindeutige Abgrenzung zwischen kosmetischer Anwendung und therapeutischer Behandlung nicht gezeigt werden konnte. Die Ausschlussbestimmung führte daher nach Ansicht der Kammer zu einem Mangel an Klarheit des beanspruchten Gegenstands.
In T 1695/07 stellte die Kammer fest, dass die Ansprüche 1 bis 8 des Hauptantrags auf ein nach Art. 53 c) EPÜ von der Patentierung ausgeschlossenes Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen Körpers gerichtet seien. Anspruch 1 des Hilfsantrags 2 umfasste das Merkmal "wobei das Verfahren kein Verfahren zur chirurgischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ist". Zur Zulässigkeit eines Disclaimers, der einen unter das Patentierungsverbot fallenden Gegenstand ausklammert, hob die Kammer zunächst unter Hinweis auf G 1/03 (ABl. 2004, 413) hervor, dass die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ auch für Ansprüche gälten, die Disclaimer enthielten. Eine klare Abgrenzung und Unterscheidung zwischen von der Patentierung ausgeschlossenen chirurgischen Anwendungen und möglicherweise zulässigen nichtchirurgischen Anwendungen des beanspruchten Verfahrens setze voraus, dass es sich um voneinander verschiedene, also trennbare Verfahren handle, was bedeute, dass sie unterschiedlicher Natur sein müssten und auf unterschiedliche Art und Weise ausgeführt werden könnten. Für die Kammer war nicht ersichtlich, wie das beanspruchte Verfahren ohne den vorgesehenen chirurgischen Schritt funktionieren sollte.
In T 1487/09 stellte die Kammer fest, dass die ausgeschlossenen Verwendungen (nämlich Verwendungen, die einen "invasiven Schritt aufweisen oder umfassen, der einen erheblichen physischen Eingriff am menschlichen oder tierischen Körper darstellt, dessen Durchführung medizinische Fachkenntnisse erfordert und der, selbst wenn er mit der erforderlichen professionellen Sorgfalt und Kompetenz ausgeführt wird, mit einem erheblichen Gesundheitsrisiko verbunden ist") nicht explizit definiert seien, sondern vielmehr aus einer Bedingung hergeleitet werden müssten, die erfüllt sein müsse. Ob diese Bedingung erfüllt sei oder nicht, müsse vom Leser des Anspruchs ermittelt werden. Dadurch, dass dem Leser eine solche Bewertung überlassen werde, entstehe zwangsläufig Unsicherheit darüber, für welchen Gegenstand Schutz begehrt werde. Daraus ergebe sich mangelnde Klarheit und somit ein Verstoß gegen Art. 84 EPÜ. Auch die Tatsache, dass der für den Disclaimer gewählte Wortlaut derselbe war wie der, der in der Entscheidung G 1/07 für die Beschreibung eines chirurgischen Verfahrens verwendet worden war, bedeute nicht, dass der Anspruch die Klarheitserfordernisse des Art. 84 erfülle. Dies müsse von Fall zu Fall geprüft werden.
In T 1916/19, wo es um ein nicht therapeutisches Verfahren zur antimikrobiellen Behandlung der Haut ging, befand die Kammer den Anspruch für klar, weil solche nicht therapeutischen Verfahren existierten und identifiziert werden könnten. Insbesondere seien die Ansprüche nicht widersprüchlich, und der beanspruchte Schutzumfang werde durch den Disclaimer nicht entleert, anders als in T 1635/09 oder T 767/12.
iii) Versteckter Disclaimer
In T 201/99 ersetzten die Beschwerdeführer (Patentinhaber) im fraglichen Anspruch die Angabe "1 - 10 Minuten" für die Behandlungsdauer durch die Angabe "1 - 6 Minuten". Sie trugen vor, durch die Angabe eines Bereichs von 1 bis 6 Minuten werde der Teilbereich einer Behandlungsdauer von mehr als 6 bis höchstens 10 Minuten ausgeschlossen. Die Kammer wies jedoch darauf hin, dass die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer G 1/03 und G 2/03 (Nr. 3 der Gründe) die Möglichkeit ausdrücklich ausschließen, einen Disclaimer dadurch zu verstecken, dass man nicht offenbarte positive Merkmale verwendet, um den Unterschied zwischen dem ursprünglichen Anspruch und der Vorwegnahme zu definieren, da dies die Transparenz des Patents beeinträchtigen würde (Art. 84 EPÜ 1973).
iv) Auslegung von Begriffen
Aus dem Zweck des Art. 84 EPÜ 1973, der Rechtssicherheit gewährleisten solle, ergebe sich in T 286/06, dass der Wortlaut eines Anspruchs nicht durch Berücksichtigung der Lehre weiterer Veröffentlichungen ausgelegt werden kann, auf die in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen nicht ausdrücklich als für die Auslegung bestimmter in der Beschreibung oder in den Ansprüchen verwendeter Begriffe relevant Bezug genommen wird. Dies gelte auch im Fall eines Disclaimers, da die einzige Rechtfertigung für seine Aufnahme in einen Anspruch darin bestehe, eine neuheitsschädliche Offenbarung auszuschließen, und er dem Anmelder oder Patentinhaber nicht die Möglichkeit geben solle, seine Ansprüche willkürlich zu ändern (s. G 1/03, ABl. 2004, 413). Die Kammer prüfte die Deutlichkeit von Anspruch 1 darauf hin, was der Fachmann beim Lesen nur des Anspruchs unter Berücksichtigung des allgemeinen Fachwissens verstanden hätte und gelangte zu dem Schluss, dass Anspruch 1 unklar sei.
v) Bezugnahme auf eine Handelsmarke
In T 447/10 stellte die Kammer fest, dass nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern die Charakterisierung eines Erzeugnisses in einem Anspruch durch Bezugnahme auf eine Handelsmarke unklar ist, weil sich die Zusammensetzung des Erzeugnisses über die Laufzeit des Patents ändern könnte (s. T 762/90, T 270/11, T 2030/13). Im vorliegenden Fall ist der Disclaimer, mit dem eine unter einer Handelsmarke vertriebene Zusammensetzung ausgeklammert wird, von ungewissem Umfang, weshalb der Gegenstand des Anspruchs 1 der Anträge unklar ist.
vi) Disclaimer klammert aus Klarheitsgründen mehr aus, als zur Wiederherstellung der Neuheit unbedingt notwendig
In der Entscheidung T 477/09 erinnerte die Kammer daran, dass in der Entscheidung G 1/03 zwei Bedingungen für die Abfassung von Disclaimern aufgestellt würden. Diese beiden in den Gründen 2.2 (ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist) und 2.4 (Klarheit und Knappheit) genannten Bedingungen seien gleichwertig. Es könne somit nicht davon ausgegangen werden, dass der Patentinhaber bei der Abfassung des Disclaimers und damit bei der Festlegung des Umfangs des Disclaimers über einen Spielraum verfüge. Um den in der Entscheidung G 1/03 festgesetzten Bedingungen zu genügen, dürfe ein Disclaimer nicht mehr ausklammern, als zur Wiederherstellung der Neuheit notwendig sei.
In T 2130/11 entschied die Kammer, dass die Erfordernisse von Art. 84 EPÜ für einen Disclaimer ebenso wie für jedes andere Merkmal eines Patentanspruchs gelten müssten. Die Bedingung aber, dass der Disclaimer nicht mehr ausklammern sollte, als notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen (G 1/03), sollte unter Berücksichtigung ihres Zwecks angewandt werden: "Die Tatsache, dass ein Disclaimer erforderlich ist, heißt nicht, dass der Anmelder seine Ansprüche willkürlich ändern darf" (G 1/03). Insofern wären Situationen vorstellbar, in denen die Bedingung im streng wörtlichen Sinne nicht erfüllt werden könnte, aber eine Definition des ausgeklammerten Gegenstands, die den Erfordernissen des Art. 84 EPÜ genügt und den Zweck der Bedingung erfüllt (d. h. eine willkürliche Änderung der Ansprüche zu verhindern) machbar wäre. Mit anderen Worten: Ein Disclaimer, der mehr ausklammert, als streng genommen notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen, würde nicht dem Geist der Entscheidung G 1/03 zuwiderlaufen, wenn er erforderlich wäre, um Art. 84 EPÜ zu erfüllen, und nicht zu einer willkürlichen Änderung der Ansprüche führen würde. In T 1399/13 schloss sich die Kammer dem in T 2130/11 verfolgten Ansatz an.