3.4. Erfolgversprechendster Ausgangspunkt
Gemäß ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist zudem, wenn der Stand der Technik in Frage kommt, das als nächstliegender anzusehen, von dem der Fachmann am leichtesten zum Erfindungsgegenstand gelangt, nämlich dasjenige, von dem ausgehend der Erfindungsgegenstand am ehesten nahegelegt wird (T 656/90, T 824/05, T 1755/07, T 698/10, T 1940/16).
In T 698/10 stellte die Kammer fest, dass der Ausdruck "nächstliegender Stand der Technik" nicht bedeutet, dass er – absolut betrachtet – der beanspruchten Erfindung ausreichend nahekommt, sondern lediglich, dass er der beanspruchten Erfindung – relativ betrachtet – näherkommt als die sonstigen Offenbarungen im Stand der Technik, d. h. er wurde als erfolgversprechendster Ausgangspunkt ausgewählt – oder als erfolgversprechendstes Sprungbrett zur Erfindung.
In T 694/15 befand die Kammer, dass der Begriff "nächstliegender Stand der Technik" leicht irreführend sei und man vielleicht besser den Begriff "Ausgangspunkt (im Stand der Technik)" verwenden sollte. Es könne Prozessökonomisch sein, von einem Stand der Technik auszugehen, der in gewisser Weise nah an der Erfindung ist, in der Hoffnung, dass die Berücksichtigung dieses einzigen Ausgangspunkts ausreicht, um festzustellen, ob der beanspruchte Gegenstand naheliegend gewesen wäre. Falls dies jedoch nicht gelinge, müsse man andere mögliche Ausgangspunkte berücksichtigen, bevor man darauf schließt, dass der Gegenstand nicht naheliegend gewesen wäre. Entscheidend für die Feststellung des Naheliegens sei nicht die Nähe des Ausgangspunkts, sondern die Wahrscheinlichkeit des Wegs insgesamt - vor dem Hintergrund des Ausgangspunkts.
Bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit soll jedoch die Gefahr der rückschauenden Betrachtungsweise beachtet werden. Wenn ein Fachmann bestrebt ist, eine einfache Konstruktion zu erreichen, so ist es unwahrscheinlich, dass er dabei von einem Stand der Technik ausgeht, der eine außergewöhnliche Ausführung mit einer komplizierten Einrichtung betrifft, um diese komplizierte Einrichtung wegzulassen (T 871/94). In T 2114/16 befand die Kammer, dass ein Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit, der auf der Auswahl eines eindeutig nachteiligen Ausgangspunkts aus dem Stand der Technik E22 basierte, unweigerlich durch eine rückschauende Betrachtungsweise belastet war, weil diese Auswahl nur durch eine vorherige Kenntnis der beanspruchten Erfindung begründet sein konnte. Gemäß dem Aufgabe-Lösungs-Ansatz würde der Fachmann von der Lehre der beispielhaften Ausführungsformen aus E22 ausgehen.
In T 1599/14 befand die Kammer, dass nichts dagegen spricht, wenn der Beschwerdeführer (Einsprechende) als Ausgangspunkt für seine Argumentation einen Stand der Technik oder eine Ausführungsform wählt, die weniger erfolgversprechend sind als andere, dem beanspruchten Gegenstand a priori nähere Offenbarungen oder Ausführungsformen. Siehe auch T 405/14, in der die Kammer schloss, dass jeder Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit gesondert bewertet werden muss und dass ein als Ausgangspunkt ausgewähltes Dokument nicht allein deshalb ausgeschlossen werden kann, weil ein Stand der Technik verfügbar ist, der scheinbar mehr Erfolg verspricht.
In T 1841/11 erklärte die Kammer, dass selbst wenn ein Stand der Technik vorliegt, der sich auf denselben Zweck bezieht, nicht ausgeschlossen ist, dass ein Dokument zu einem ähnlichen Zweck als besserer – oder zumindest gleichermaßen plausibler – nächstliegender Stand der Technik betrachtet wird, sofern für den Fachmann auf Anhieb klar wäre, dass seine Offenbarung direkt und allein mithilfe des allgemeinen Fachwissens für die Zwecke der beanspruchten Erfindung angepasst werden kann. S. auch T 1160/12, T 1518/17.
In T 816/16 befand die Kammer die Frage als irrelevant, ob eine bestimmte Offenbarung näher am beanspruchten Gegenstand oder weiter von ihm entfernt liegt. Beginnt man die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ausgehend vom "nächstliegenden Stand der Technik", so vermeidet man es, mehrere potenzielle Ausgangspunkte berücksichtigen zu müssen, weil angenommen werden kann, dass ein bestimmter beanspruchter Gegenstand, der gegenüber diesem "nächstliegenden Stand der Technik" erfinderisch ist, erst recht erfinderisch wäre, wenn die Beurteilung auf eine Offenbarung gestützt würde, die nicht den "nächstliegenden" Stand der Technik bildet.
In T 1518/17 befand die Kammer wie folgt: Wenn zwei Dokumente als nächstliegender Stand der Technik infrage kommen, muss die erfinderische Tätigkeit in Bezug auf beide Dokumente nachgewiesen werden. Eine Feststellung des Naheliegens in Bezug auf ein Dokument führt zwangsläufig zu dem Schluss, dass die Erfordernisse des Art. 56 EPÜ nicht erfüllt sind, auch wenn dasselbe Vorgehen auf der Grundlage des anderen Dokuments zu einem anderen Schluss führen würde. Siehe auch T 23/17.
In T 787/17 stellte die Kammer fest, dass es einer besonderen Rechtfertigung, z. B. basierend auf Überlegungen des Fachmanns, nicht bedarf. Insbesondere ist die Frage, ob ein solches Element einen Hinweis zur Lösung der objektiven technischen Aufgabe enthält, für seine Wahl als Ausgangspunkt irrelevant. Dies geht schon daraus hervor, dass die objektive technische Aufgabe erst auf Grundlage des Ausgangspunktes definiert werden kann. Es bedarf auch keiner Rechtfertigung, warum der Fachmann innerhalb einer vorveröffentlichten Druckschrift, die eine große Zahl von Ausführungsbeispielen umfasst, gerade von einem bestimmten Ausführungsbeispiel ausgehen würde. Jedes der Ausführungsbeispiele stellt ein Element des Stands der Technik dar, das als solches dem (fiktiven) Fachmann bekannt ist und deshalb auch als Ausgangspunkt dienen kann.
- T 1571/19
Catchword:
Most promising springboard toward the claimed invention too short to allow the skilled person to reach out to cited secondary document and to overcome the considerable gap separating the closest prior art from the claimed subjectmatter (reasons 3.35 to 3.39)