5.11.3 Zweiseitiges Beschwerdeverfahren
Nach der ständigen Rechtsprechung zu Art. 12 (4) VOBK 2007 werden Änderungen, einschließlich geänderter Anträge, in der Regel in das Beschwerdeverfahren zugelassen, sofern sie durch die normale Entwicklung des Verfahrens gerechtfertigt sind oder unter den gegebenen Umständen als normale Reaktion einer unterlegenen Partei zu betrachten sind (T 1072/98, T 540/01, T 848/09, T 2485/11, T 618/14).
In T 848/09 sah die Kammer in der Einreichung des Hauptantrags eine legitime und normale Reaktion auf die Entscheidung, das Patent zu widerrufen, da mit der Änderung einem abhängigen Anspruch ein Merkmal hinzugefügt wurde, das den Gegenstand weiter einschränkte. Darüber hinaus war der Antrag im frühestmöglichen Stadium des Beschwerdeverfahrens eingereicht worden, nämlich zusammen mit der Beschwerdebegründung (s. auch T 881/09). Selbst wenn der Patentinhaber diesen Antrag theoretisch am Schluss der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung hätte einreichen können, hatte er sich nach Ansicht der Kammer im Unterschied zu T 144/09 offenbar nicht "wohlüberlegt und bewusst dafür entschieden", den Antrag nicht einzureichen. Vielmehr waren die Gründe für den Widerruf des Patents nicht so klar ersichtlich wie in T 144/09 und es war plausibel, dass die Formulierung eines geeigneten neuen Antrags nicht auf der Hand lag.
In T 134/11 machte die Kammer darauf aufmerksam, dass ein Antrag nicht automatisch unzulässig ist, nur weil er bereits im erstinstanzlichen Verfahren hätte eingereicht werden können (da die Kammer sonst keinen Ermessensspielraum hätte). Nach Ansicht der Kammer, ist ein solcher Antrag im Gegenteil nur unter außergewöhnlichen Umständen unzulässig. Solche Umstände könnten beispielsweise vorliegen, wenn ein Antrag erst im Beschwerdeverfahren gestellt wird, um eine Entscheidung der Einspruchsabteilung über bestimmte Fragen zu verhindern und diese Entscheidung auf die zweite Instanz zu verlagern (was in T 1067/08 als "Forum-Shopping" bezeichnet wird). Im vorliegenden Fall schien es glaubhaft, dass der Beschwerdeführer nicht beabsichtigte, eine Entscheidung der Einspruchsabteilung über den Hauptantrag zu verhindern. Außerdem hatte der Beschwerdeführer in diesem Hauptantrag keine neuen Fragen aufgeworfen, sondern lediglich seinen im gesamten erstinstanzlichen Einspruchsverfahren verfolgten Ansatz weitergeführt. Die Kammer sah keinen Widerspruch zu T 144/09 und T 936/09
In T 2485/11 hatte der Beschwerdeführer im erstinstanzlichen Verfahren einen geänderten Hauptantrag und einen Hilfsantrag eingereicht, um die in der Einspruchsschrift erhobenen Einwände auszuräumen. Die Einspruchsabteilung kam in der mündlichen Verhandlung zu dem Schluss, dass die geänderten Anträge gegen Art. 123 (2) EPÜ verstießen. Anders als in den Fällen T 144/09 und T 936/09 ergriff der Beschwerdeführer daraufhin die ihm gebotene Gelegenheit und reichte weitere Anträge mit Änderungen des Hauptantrags ein, um den Einwand nach Art. 123 (2) EPÜ der Einspruchsabteilung auszuräumen. Die Tatsache, dass er keinen weiteren Antrag mehr einreichte, nachdem auch diese Anträge als Verstoß gegen Art. 123 (2) EPÜ gewertet worden waren, kann nicht allein deshalb als Missbrauch angesehen werden, weil er theoretisch hätte Änderungen einreichen können. Unter den konkreten Umständen des Falls hielt die Kammer daher die Einreichung der Hilfsanträge 1 bis 5 durch den Beschwerdeführer für eine normale und gerechtfertigte Reaktion einer unterlegenen Partei (s. auch den ähnlich gelagerten Fall T 2244/11).
In T 1226/12 berücksichtigte die Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens, dass die Einspruchsabteilung die angefochtene Entscheidung ohne vorherigen Bescheid und ohne mündliche Verhandlung getroffen hatte.
In T 1311/17 wurde der strittige Hilfsantrag nach Art. 12 (4) VOBK 2007 zugelassen, da die Einspruchsabteilung den Beschwerdeführer (Patentinhaber) im schriftlichen Verfahren nicht eindeutig darauf hingewiesen hatte, dass der – für ihre Widerrufsentscheidung einzig ausschlaggebende – Einwand der Erweiterung des Erfindungsgegenstands für die Rechtsbeständigkeit der erteilten Ansprüche von zentraler Bedeutung war.