4.2.2 Zweite und dritte Stufe des Konvergenzansatzes: Änderungen des Beschwerdevorbringens im Sinne von Artikel 13 (1) und (2) VOBK 2020
In T 482/18 widersprach die Kammer der in T 1914/12 vertretenen der Auffassung, wonach die sich aus den im Verfahren befindlichen Patentdokumenten ergebenden Tatsachen (hier: Offenbarung des Begriffs "stabförmig" in der Anmeldung wie ursprünglich eingereicht und Klarheit dieses Begriffs) ohne ausdrückliche Geltendmachung Gegenstand des Beschwerdeverfahrens sind. Eine derartige Auffassung widerspreche der Natur eines gerichtlichen Verfahrens, wie des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens vor den Beschwerdekammern des EPA, das auf Sachvortrag, also auf der Geltendmachung von Tatsachen, beruht. Zum Verständnis der Kammer des Begriffs "Argument", siehe Kapitel V.A.4.2.2 n).
Die Ansicht der Kammer in T 482/18 wurde von der Juristischen Beschwerdekammer in J 14/19 geteilt. Sie hob hervor, dass auf Grundlage von Art. 114 (2) EPÜ verspätetes Vorbringen, das ein Tatsachenelement enthält, unberücksichtigt bleiben könne. Nach ihrer Ansicht bedeutete der bloße Umstand, dass ein Beteiligter bereits ein bestimmtes Dokument in das Beschwerdeverfahren eingeführt hat, nicht, dass dessen gesamter Inhalt Teil seines Beschwerdevorbringens ist. Beruft er sich in seinem weiteren Vorbringen auf andere als die bisher herangezogenen Textstellen, kann dies eine Änderung des Beschwerdevorbringens bewirken. Die Kammer führte dazu weiter aus, sowohl eine neue Kombination von Tatsachenelementen als auch eine neue Kombination von Tatsachen- und Rechtselementen stelle grundsätzlich eine Änderung des Beschwerdevorbringens dar. Von einer Änderung des Beschwerdevorbringens abzugrenzen sei die bloße Verfeinerung einer bereits bestehenden Argumentationslinie (wie in T 247/20; siehe die Zusammenfassung dieser Entscheidung in Kapitel V.A.4.2.2 m); zum Verständnis der Juristischen Kammer des Begriffs "Argumente" im Sinne des Art. 12 (2) VOBK 2020, siehe auch Kapitel V.A.4.2.2 n)).
In T 2796/17 stellte die Kammer fest, dass der vom Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand gegen die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands laut Anspruch 1 des neuen Hauptantrags (eingereicht mit der Beschwerdeerwiderung als 1. Hilfsantrag), gestützt auf zwei bereits im Verfahren befindliche Dokumente (O2 und O3), neu war. Er beinhaltete neue Tatsachen und diesbezügliche Beweismittel: Der Beschwerdeführer hatte zuvor weder die Patentfähigkeit des Anspruchs 1 dieses Antrags, der eine Kombination der erteilten Ansprüche 1 und 2 war, noch die des erteilten Anspruchs 2 angegriffen. Folglich handelte es sich bei dem auf O2 gestützten Einwand nach Art. 56 EPÜ gegen den neuen Hauptantrag um neues Vorbringen. Dieses wurde nach Maßgabe der Art. 13 (1), 25 (1) VOBK 2020 bzw. Art. 13 VOBK 2007, Art. 25 (3) VOBK 2020 nicht zugelassen, da der späte Zeitpunkt weder nachvollziehbar noch vom Beschwerdeführer gerechtfertigt worden war, der Einwand einen komplexen neuen Sachverhalt enthielt und nicht prima facie relevant schien.
In T 187/18 befand die Kammer, dass eine neue Kombination von Dokumenten (die schon im Rahmen des Angriffs des Beschwerdeführers auf die erfinderische Tätigkeit, aber in anderen Kombinationen angeführt worden waren) keine bloße Präzisierung einer zuvor geltend gemachten Argumentationslinie war, sondern eine Änderung des Vorbringens des Beteiligten. Die Kammer stellte weiter fest, dass die behauptete Prima-facie-Relevanz per se kein zu berücksichtigender Gesichtspunkt war, da der Beschwerdeführer keine speziellen Gründe für die Änderung seines Vorbringens angegeben hatte. In Ausübung ihres Ermessens nach Art. 13 (2) VOBK 2020 ließ die Kammer die neue Angriffslinie im Verfahren nicht zu.
In T 1108/16 argumentierte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) gegen den in der Beschwerdebegründung erhobenen Einwand mangelnder erfinderischer Tätigkeit erst nach Erhalt der Mitteilung gemäß Art. 15 (1) VOBK 2020, indem er erläuterte, warum eine Zusammenschau der betreffenden Druckschriften nicht in naheliegender Weise zur Merkmalskombination des Patentanspruches 1 des Hauptantrages führen könne. Hinsichtlich der Zulässigkeit dieses späten Vorbringens machte er geltend, dass es als eine selbstverständliche Weiterentwicklung von Argumenten aus der Beschwerde-erwiderung anzusehen sei, die bereits eine detaillierte Analyse des Inhalts der betreffenden Schriften enthalten habe. Daraus sei die grundsätzliche Inkompatibilität der Lehren dieser Schriften direkt zu entnehmen gewesen. Die Kammer hingegen betonte, dass insbesondere im kontradiktorischen Einspruchsbeschwerdeverfahren die Kammer grundsätzlich an das jeweilige Beteiligtenvorbringen als Grundlage für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage gebunden ist. Laut der Kammer ist – und kann – es daher nicht ihre Aufgabe sein, Argumente, die ein Beteiligter zur Verteidigung des erteilten Patents oder zur Stützung ihres Antragsbegehrens nicht formuliert hat, von Amts wegen aus dem Vorbringen selbst zu konstruieren und damit ins Verfahren einzuführen. Im vorliegenden Fall wurde das neue Vorbringen daher als Änderung angesehen.
In T 1707/16 erhob der Beschwerdeführer (Einsprechende) in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer erstmals im Einspruchs- bzw. Beschwerdeverfahren den Einwand, dass das strittige Merkmal in Anspruch 1 des Hauptantrags in Figur 9 nicht offenbart worden sei, während er zuvor argumentiert hatte, dass Anspruch 1 eine Zwischenverallgemeinerung enthalte, da das strittige Merkmal untrennbar mit den übrigen Merkmalen der Ausführungsform von Figur 9 verknüpft sei. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass der neue Einwand keine Änderung seines Vorbringens sei, sondern eine Weiterentwicklung des in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Arguments. Der Einwand betreffe dasselbe Merkmal und dieselbe Rechtsvorschrift (Art. 123 (2) EPÜ), der einzige Unterschied sei die Stufe in der Beurteilung der Einhaltung von Art. 123 (2) EPÜ. Die Kammer war jedoch der Ansicht, dass die Frage, ob Figur 9 das betreffende Merkmal eindeutig offenbart hat oder nicht, den Rahmen der Diskussion in Bezug auf Art. 123 (2) EPÜ vollständig geändert hat und deshalb als Änderung des Vorbringens des Beteiligten anzusehen ist.
- T 2866/18
Catchword:
Whether the documents which are taken as starting points for newly raised inventive step objections were previously used for objections regarding a lack of novelty has no bearing for determining whether these inventive step objections constitute an amendment to the opponent's appeal case under Article 13(2) RPBA 2020 (Reasons 4.7).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache