4.3. Maßstab bei der Beweiswürdigung
S. auch Kapitel III.S.4 "Risikosphären und Beweislastverteilung"; verwiesen wird auf den jüngsten Beschluss des Verwaltungsrats vom 15. Oktober 2014, in Kraft getreten am 1. April 2015, zur Änderung der Regeln 2 EPÜ, Regel 124 EPÜ, Regel 125 EPÜ, Regel 126 EPÜ, Regel 127 EPÜ, Regel 129 EPÜ, Regel 133 EPÜ und Regel 134 EPÜ der Ausführungsordnung zum EPÜ (CA/D 6/14 – ABl. 2015, A17; erläuternde Mitteilung – ABl. 2015, A36), auf den im Kapitel über die Zustellung eingegangen wird (R. 126 (1) EPÜ wurde durch den Beschluss des Verwaltungsrats CA/D 2/19 weiter geändert). Zum Beweisrecht (Beweislast) s. im Übrigen auch unten Kapitel III.G.5.1.2 f).
In T 1/12 machte die Beschwerdegegnerin (Patentinhaberin) geltend, dass die Rechtsprechung der Beschwerdekammern bezüglich des anzuwendenden Beweismaßstabs für den Nachweis des Zugangs von Dokumenten beim EPA widersprüchlich sei. In diesem Zusammenhang zitierte sie die Entscheidungen T 1200/01, die eine Abwägung von Wahrscheinlichkeiten vorschlage, und T 2454/11, nach der ein strengerer, zur Überzeugung der Kammer ausreichender Beweis erforderlich sei. Die Beschwerdegegnerin formulierte daher Vorlagefragen. Die Kammer wies diesen Antrag aber zurück, unter anderen mit der Begründung, dass die Beurteilung von Beweismitteln im Rahmen des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung fallspezifisch sei. Welches konkrete Maß die Abwägung von Wahrscheinlichkeiten zu erreichen habe, damit sie zur Überzeugung der Kammer ausreiche, bleibe somit im Ermessen der Kammer selbst. Die Kammer vermochte keinen eindeutigen Widerspruch zwischen T 1200/01 und T 2454/11 festzustellen. In T 1/12 behandelte die Kammer die Frage des Beweismaßstabs insbesondere in Verbindung mit dem durch die Rechtsprechung etablierten Grundsatz der freien Beweiswürdigung.
Gegenstand der Beschwerde in T 1200/01 war die Frage, ob ein Einspruch des Beschwerdeführers gegen das Patent als eingelegt gelten könne. Nach Art. 99 (1) letzter Satz EPÜ gilt ein Einspruch erst als eingelegt, wenn die Einspruchsgebühr innerhalb der Einspruchsfrist entrichtet worden ist. Im vorliegenden Fall war im EPA keine Spur des vom Beschwerdeführer angeblich zusammen mit dem Zahlungsbeleg für die Einspruchsgebühr eingereichten Einspruchs zu finden. Hinsichtlich des Maßstabs, der bei der Prüfung der Frage angelegt werden muss, ob im EPA nicht gefundene Dokumente eingegangen sind, stellte die Kammer fest, die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern laute, dass eine solche Beweisführung zwar nur selten zur absoluten Gewissheit führen könne, sie aber zumindest eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür erbringen müsse, dass die angebliche Einlegung stattgefunden habe (s. auch T 128/87 date: 1988-06-03, ABl. 1989, 406; zitiert durch die Kammer). Sie fügte hinzu, in einigen früheren Fällen (s. T 243/86 und T 69/86; zitiert durch die Kammer) sei als ausreichend akzeptiert worden, dass es konkrete Spuren der gesuchten Eingabe gebe, die zwar keine Gewissheit, aber doch eine hohe Wahrscheinlichkeit dafür erbrächten, dass das verlorene Stück einmal im EPA vorhanden gewesen sei. Nichtsdestoweniger könnten in diesem Zusammenhang auch alle anderen Arten der Beweiserbringung wie beispielsweise Zeugenaussagen geprüft werden.
Die Mitteilung über einen Rechtsverlust nach R. 112 (1) EPÜ (ehemalige R. 69 (1) EPÜ 1973) gilt mit dem zehnten Tag nach der Aufgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, das Schreiben ist nicht oder an einem späteren Tag zugegangen. Im Zweifel hat das EPA den Zugang des Schriftstücks nachzuweisen (R. 126 (2) EPÜ; s. die Änderungen des Wortlauts dieser Regel durch den unlängst ergangenen Beschluss CA/D 6/14; ehemalige R. 78 (2) EPÜ 1973). In J 9/05 und J 18/05 war das einzige von der Prüfungsabteilung vorgelegte Beweismittel ein Schreiben der Deutschen Post, in dem auf die Auskunft eines ausländischen Postdienstes verwiesen wurde, dass das Schreiben einem – nicht näher bezeichneten – befugten Empfänger zugestellt worden sei. Die Kammer erklärte, dass ein Abwägen der Beweiskraft der Beweismittel des EPA einerseits und der Beweiskraft der Ausführungen und Beweismittel des Beschwerdeführers andererseits vorgenommen werden muss. Nach Abwägen der von der Prüfungsabteilung vorgelegten Beweise, die in einem eher vagen Schreiben der Deutschen Post bestanden, und der vom Beschwerdeführer vorgelegten Beweise, gelangte die Kammer unter Berücksichtigung der ernsthaften Folgen für den Beschwerdeführer zu dem Schluss, dass nicht hinreichend nachgewiesen worden sei, dass der Anmelder die Mitteilung nach R. 69 (1) EPÜ erhalten habe. In einem solchen Fall, in dem das EPA die Beweislast trage, sei der im Zweifel stehende Sachverhalt zugunsten des Anmelders auszulegen.
In T 529/09 wurde eine Mitteilung nach R. 82 (3) EPÜ (Aufforderung an die Beteiligten, sich zur Aufrechterhaltung des Patents in der geänderten Fassung zu äußern) am 8. September 2008 als Einschreiben versandt. Das Schreiben war an den Vertreter des Patentinhabers adressiert. Nach R. 126 (2) EPÜ (s. die Änderungen des Wortlauts dieser Regel durch den unlängst ergangenen Beschluss CA/D 6/14) gilt ein Einschreiben mit dem zehnten Tag nach der Abgabe zur Post als zugestellt, es sei denn, das zuzustellende Schriftstück ist nicht oder an einem späteren Tag zugegangen. Nach Auffassung der Kammer bedeutet "Zugang" nicht, dass die betreffende Mitteilung dem zugelassenen Vertreter tatsächlich zur Kenntnis gebracht werden muss. Es genügt, dass das Einschreiben von einer empfangsberechtigten Person entgegengenommen wird, zum Beispiel von einem Angestellten der Kanzlei des Vertreters (s. T 743/05). Im vorliegenden Fall waren die aktenkundigen Beweise nach Auffassung der Kammer hinreichend zuverlässig und umfassend, um die ordnungsgemäße Zustellung des Schreibens nachzuweisen. Die Kammer wies in diesem Zusammenhang aber auf einen bedeutenden Unterschied zwischen dem vorliegenden Fall und den Sachen J 9/05 und J 18/05 hin, wo der Beschwerdeführer eine beträchtliche Zahl von Gegenbeweisen eingereicht und damit konkrete Gründe angeführt hatte, aus denen das Schreiben möglicherweise nicht bei der Kanzlei des Vertreters eingegangen war.
In T 1934/16 bestritt der Beschwerdeführer den Erhalt der Mitteilung nach R. 82 (3) EPÜ, sodass das EPA den Zugang des Schriftstücks und den Tag des Zugangs nachweisen musste (R. 126 (2) EPÜ). Die von der Kammer veranlassten Nachforschungen zeigten, dass das Einschreiben tatsächlich zugestellt worden war, und da der Beschwerdeführer keine begründeten Nachweise für einen anderen Hergang beibrachte, bestand kein Zweifel, dass das Schreiben beim Vertreter des Beschwerdeführers ordnungsgemäß eingegangen war.
Die Inter-partes-Entscheidung T 1587/17 behandelt detailliert den für die Einreichung der Beschwerdeschrift geltenden Beweismaßstab, und zwar insbesondere mit Verweis auf T 2454/11 und T 1200/01. Aufgrund der Aktenlage sah die Kammer den Nachweis als erbracht an; der Beschwerdegegner hatte keine ausreichend belastbaren Zweifel anbringen können.
S. auch die oben erwähnte Entscheidung J 10/04, die sich von den "üblichen" Fällen verloren gegangener Postsendungen dadurch unterscheidet, dass die Anmeldung beim USPTO einging und lediglich ein Teil der eingereichten Unterlagen fehlte. S. die Entscheidung T 1535/10, wonach die Zurechnung von Hindernissen und Verzögerungen beim Zugang von Entscheidungen, die nach R. 126 (1) EPÜ zuzustellen sind, nach Risikosphären erfolgt (s. Kapitel III.S.4 "Risikosphären und Beweislastverteilung").