3.2.3 Internet-Offenbarungen
(i) Allgemeines
Bei der Rechtsprechung zu Internet-Veröffentlichungen geht es im Kern um die Frage des Zeitpunkts der gefundenen Informationen und den anzulegenden Beweismaßstab. Die diesbezügliche Rechtsprechung scheint nunmehr durch die Entscheidungen T 286/10 und T 2227/11 festgelegt zu sein, die in jüngerer Zeit durch T 1711/11, T 353/14, T 545/08, T 1589/13 und T 1066/13 bestätigt wurden. Darin wird auch auf die Praxis des Amts gemäß der Mitteilung des EPA über die Anführung von Internet-Dokumenten (ABl. 2009, 456 – 462) sowie auf den entsprechenden Abschnitt der Richtlinien Bezug genommen. Der angemessene Maßstab der Beweiswürdigung bei Internet-Anführungen ist das "Abwägen der Wahrscheinlichkeit" und nicht der "zweifelsfreie Nachweis".
Der Schlussfolgerung aus der früheren (in T 19/05 und T 1875/06 bestätigten) Entscheidung T 1134/06, wonach auf Internet-Offenbarungen der strengere Beweismaßstab des zweifelsfreien Nachweises anzulegen sei, wurde widersprochen. Die Prüfung der in T 1134/06 behandelten Zuverlässigkeit der Quelle verliert jedoch nicht an Aktualität, s. z. B. T 545/08 (Nrn. 15 und 18 der Gründe), T 353/14 (Nr. 2.2.7 der Gründe) und T 286/10, wo bestätigt wurde, dass es sich bei der von der Zeitung "The Times-Union" betriebenen Website www.jacksonville.com prima facie um eine namhafte und verlässliche Informationsquelle handelte. Während die Kammer in T 2227/11 der ausführlichen Begründung in T 1134/06 zustimmte, dass es bei Internet-Veröffentlichungen des Stands der Technik schwierig ist, die Authentizität insbesondere des Veröffentlichungsdatums und des Inhalts zu beurteilen, gab es keine Veranlassung, einen strengeren Beweismaßstab vorzuschreiben. Diese Schwierigkeiten machen unter Umständen weitreichende Ermittlungen und die Vorlage von Beweismaterial erforderlich.
In T 286/10 führte die Kammer aus, dass sich bei Veröffentlichungen im Internet eine zusätzliche Schwierigkeit gegenüber herkömmlichen Veröffentlichungen daraus ergibt, dass diese Dokumente im Laufe der Zeit unter Umständen verändert worden sind, ohne dass dies ohne Weiteres nachvollziehbar wäre. Sie schloss sich in ihrer Analyse im Rahmen einer freien Beweiswürdigung gemäß T 750/94 (ABl. 1998, 32) den Entscheidungen T 2339/09 und T 990/09 an.
Gemäß T 545/08 heißt es in den Richtlinien (G‑IV, 7.5.2 – Stand November 2016) mit Bezug auf Internet-Offenbarungen zu Recht: "Die Beurteilung dieser Umstände erfolgt nach dem Grundsatz des Abwägens der Wahrscheinlichkeit. Danach reicht es nicht aus, dass der behauptete Sachverhalt (z. B. der Veröffentlichungstag) lediglich wahrscheinlich ist; die Prüfungsabteilung muss darüber hinaus von seiner Richtigkeit überzeugt sein."
Die Beweislast liegt in der Regel bei demjenigen, der eine Behauptung aufstellt. Im konkreten Fall der vom EPA angeführten Internet-Veröffentlichungen des Stands der Technik liegt die Beweislast also beim EPA. Wenn das EPA allerdings nach Abwägen der Wahrscheinlichkeit davon überzeugt ist, dass eine Internet-Veröffentlichung Stand der Technik ist, muss der Beteiligte das Gegenteil beweisen (T 2227/11, T 1589/13, s. auch zur Beweislast T 545/08, Nrn. 12 und 13 der Gründe; T 1066/13, "directory listing").
(ii) Veranschaulichung in der Rechtsprechung
Die Tatsachen, mit denen eine öffentliche Verfügbarkeit begründet wird, müssen mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden, um das zuständige Organ des EPA angesichts aller relevanten Beweismittel davon zu überzeugen, dass sie sich tatsächlich zugetragen haben. Dies gilt selbst dann, wenn die Ermittlung auf der Grundlage der Wahrscheinlichkeiten und nicht der absoluten Gewissheit ("mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit") erfolgt (T 545/08, Nr. 11 der Gründe, angewandt in T 1236/13 – Zeitpunkt des Auffindens einer Seite als Zeitstempel ein Teil der URL).
Es ist die anerkannte Politik des Internet-Archivs "Wayback Maschine", das Internet zu durchsuchen und die durchsuchten Seiten zu archivieren, wobei der Zeitpunkt des Auffindens einer Seite ein Teil der URL ist. Die Kammer konnte nicht nachvollziehen, wie die von der "Wayback Maschine" zur Archivierung verwendete URL als dynamisch betrachtet werden kann, wie dies vom Beschwerdeführer (Anmelder) behauptet worden war, der hierfür keine weitere Begründung lieferte. Die Kammer in T 523/13 war deshalb der Ansicht, dass der Datumsstempel mit hinreichender Sicherheit festgestellt war (vgl. T 545/08, Nr. 11 der Gründe), sofern nichts anderes bewiesen wurde (ebenda, Nrn. 12 und 13 der Gründe). Siehe auch T 884/18.
In der Entscheidung T 286/10 (www.jacksonville.com / www.archive.org) befand die Kammer, dass sich bei Veröffentlichungen im Internet eine zusätzliche Schwierigkeit gegenüber herkömmlichen Veröffentlichungen daraus ergibt, dass diese Dokumente im Laufe der Zeit unter Umständen verändert worden sind, ohne dass dies ohne Weiteres nachvollziehbar wäre. Veröffentlichungen im Internet erfordern nicht grundsätzlich besondere Beweisregeln; die mit derartigen Offenbarungen einhergehenden Unsicherheiten müssen soweit behoben werden, dass ein Grad an Wahrscheinlichkeit gesichert ist, der genügt, um die Zugänglichkeit glaubhaft zu machen und somit das Gericht zu überzeugen.
In T 2339/09 war D4 war laut Recherchenbericht ein Internetartikel vom 22. Mai 2006, der am 21. März im Internetarchiv www.archive.org gefunden wurde, einen Produktkatalog der Firma HBE GmbH betreffend. Das Datum der Online-Veröffentlichung dieses Produktkatalogs war also der 22. Mai 2006 und lag somit vor dem Anmeldetag der vorliegenden Anmeldung, dem 17. November 2006. Der Katalog trug ferner den Aufdruck "11.10.04", was sogar auf ein früheres Veröffentlichungsdatum dieses Katalogs "offline" hinwies. In jedem Fall lagen damit die relevanten Daten vor dem Anmeldedatum, sodass davon auszugehen war, dass D4 zum Stand der Technik gehörte. Die Kammer stellte fest, dass die Darlegungs- und Beweislast für die gegenteilige Behauptung bei dem Beschwerdeführer (Anmelder) lag, also für den Nachweis, dass D4 nicht vor dem Anmeldedatum veröffentlicht worden war.
Im Ex-parte-Fall T 1961/13 stellte die Kammer fest, dass die Beschwerdeführer nicht verpflichtet gewesen wären, die Relevanz der Datumsangaben von Google zu überprüfen. Es sei die Aufgabe des Prüfers, eine bestimmte Datumsangabe und deren Zuverlässigkeit objektiv zu bewerten und gegebenenfalls weitere Nachforschungen anzustellen. Wenn nicht verständlich sei, wie ein bestimmtes von einer Suchmaschine angegebenes Datum erzeugt wurde, könne es nicht als Nachweis eines Veröffentlichungsdatums genutzt werden. Ein von Google angegebenes Datum sei als Nachweis des Tags der Veröffentlichung eines Dokuments grundsätzlich ungeeignet.
Die Zuverlässigkeit der Informationen in den vom Einsprechenden angeführten Wikipedia-Auszügen konnte nicht beurteilt werden bzw. es gab keinen Nachweis, dass der Inhalt dieser Unterlagen vor dem wirksamen Anmeldetag des Patents öffentlich zugänglich war. Deshalb konnten die Unterlagen unabhängig von der Frage, ob ihre Einreichung bei der Beschwerde gerechtfertigt war, nicht zum Nachweis des allgemeinen Fachwissens am maßgeblichen Stichtag des Patents genutzt werden (T 378/15).
In T 1469/10 erklärte die Kammer, dass die ETSI/3GPPOrganisation, ein renommiertes Normierungsgremium, klare und zuverlässige Regeln für die Veröffentlichung von Sitzungsunterlagen und insbesondere für die Dokumentierung des Hochladens auf den öffentlichen Dateiserver habe. Das Veröffentlichungsdatum auf den 3GPP-Dokumentenlisten ("Zeitstempel") sei daher von hoher Beweiskraft und könnte als Prima-facie-Nachweis für den Zeitpunkt dienen, an dem das Dokument für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden sei. Deshalb entsprächen die jeweiligen Zeitangaben ("Zeitstempel") auf den 3GPP-Dokumentenlisten zuverlässig dem Datum, an dem ein bestimmtes Dokument auf den 3GPP-Dateiserver hochgeladen werde.