4. Bestimmung der Offenbarung des einschlägigen Stands der Technik
Fehler, die in einem Dokument enthalten sind, stellen nicht notwendig einen patenthindernden Stand der Technik dar.
In T 77/87 (ABl. 1990, 280) gab eine in der Zeitschrift "Chemical Abstracts" veröffentlichte Zusammenfassung den Inhalt des Originaldokuments nicht korrekt wieder. Die Beschwerdekammer vertrat die Auffassung, dass das Originaldokument die Hauptquelle dessen sei, was als technische Lehre zugänglich gemacht worden sei. Wenn das Originaldokument und seine Zusammenfassung in einem wesentlichen Punkt nicht übereinstimmten, dann gehe eindeutig die Offenbarung des Originaldokuments vor. Diese beweise am deutlichsten, was dem Fachmann zugänglich gemacht worden sei. Gehe aus verwandtem, gleichzeitig vorliegendem Beweismaterial hervor, dass die wörtliche Offenbarung eines Dokuments fehlerhaft sei und nicht den beabsichtigten technischen Sachverhalt wiedergebe, so sei eine solche fehlerhafte Offenbarung nicht als Stand der Technik zu betrachten.
Auch in T 591/90 enthielt ein früheres Dokument Fehler. Die Kammer grenzte sich gegenüber der Entscheidung T 77/87 (ABl. 1990, 280) ab, die einen Spezialfall betreffe, und vertrat die Auffassung, ein Dokument gehöre grundsätzlich auch dann zum Stand der Technik, wenn sein Offenbarungsgehalt fehlerhaft sei. Bei der Bewertung der Offenbarung dieses Stands der Technik sei jedoch davon auszugehen, dass der fachmännische Leser vor allem "an der technischen Realität interessiert ist". Er könne aufgrund seines allgemeinen Fachwissens und auch durch Konsultation der Hinweisliteratur ohne weiteres erkennen, dass die strittige Angabe nicht zutreffe. Man könne davon ausgehen, dass der Fachmann die erkennbaren Fehler richtigzustellen versuche, nicht aber, dass er die fehlerhafte Offenbarung als Anregung zur Lösung einer bestehenden technischen Aufgabe betrachte.
In T 412/91 befand die Kammer, dass die fehlerhafte Lehre aus Dokument (1) nicht zum Stand der Technik im Sinne von Art. 54 EPÜ 1973 gehörte. Sie führte aus, dass der Offenbarungsgehalt eines zum Stand der Technik gehörenden Dokuments grundsätzlich nicht nur durch die tatsächlich in der Zusammenfassung verwendeten Begriffe definiert wird, sondern auch durch das, was das veröffentlichte Dokument dem Fachmann als technische Realität offenbart. Ist eine Behauptung offensichtlich falsch, sei es, dass sie an sich unwahrscheinlich ist, oder, dass sich aus anderen Quellen ergibt, dass sie falsch ist, so gehört sie auch dann nicht zum Stand der Technik, wenn sie veröffentlicht wurde. Wäre es für einen Fachmann hingegen nicht erkennbar, dass eine Lehre falsch ist, so würde diese Lehre zum Stand der Technik gehören. (In T 523/14 betreffend einen Werbe-Newsletter, der als Stand der Technik bezeichnet wurde, befand die Kammer, dass dieser Fall nicht mit der von einem Beteiligten angeführten Sache T 412/91 vergleichbar war).
In T 89/87 stellte die Kammer fest, dass es sich bei der Angabe "0,005 mm" (= 5 μm) in einem älteren Dokument um einen Druckfehler handelte und dass es richtig "0,0005 mm" (= 0,5 μm) hätte heißen müssen. Nach Ansicht der Kammer war von einem fachkundigen Leser zu erwarten, dass er diesen Fehler automatisch berichtigte.
In T 230/01 stellte die Kammer fest, dass ein Dokument normalerweise auch dann zum Stand der Technik gehöre, wenn seine Offenbarung mangelhaft sei, es sei denn, es könne zweifelsfrei nachgewiesen werden, dass die Offenbarung des Dokuments nicht ausführbar sei oder dass der Wortlaut der Offenbarung des Dokuments Fehler aufweise und nicht den beabsichtigten technischen Sachverhalt wiedergebe. Eine derartige nicht ausführbare oder fehlerhafte Offenbarung sei nicht als Stand der Technik anzusehen.
In T 428/15 basierte der Einwand, dass D3 den Gegenstand des Anspruchs 1 vorwegnehme, auf Passagen einer computergenierten Übersetzung, deren Qualität der Kammer nicht erlaubte, den tatsächlichen Inhalt von D3 mit ausreichender Sicherheit zu verstehen. Der Beschwerdeführer reichte keine Humanübersetzung der einschlägigen Passagen ein, die das Problem geklärt hätte, und lieferte auch keine technischen Erläuterungen, die glaubhaft gemacht hätten, dass die tatsächliche Bedeutung der vagen Passagen über die Verwendung von Chloroform und den offenbar beschriebenen Schritt des Spülens für die Schlussfolgerungen bezüglich des erhaltenen Produkts A1 irrelevant wäre. Vgl. T 655/13: hier ließ die erstinstanzliche Entscheidung sowohl die Angabe einer von der Prüfungsabteilung als Stand der Technik angeführten relevanten Passage aus einer japanischen Fachzeitschrift vermissen, die angeblich ein strittiges Merkmal offenbarte, als auch eine Übersetzung derselben; dieser Fall wurde unter dem Aspekt der Verpflichtung zur Begründung von Entscheidungen behandelt (R. 111 (2) EPÜ).