2. Stand der Technik
Art. 55 EPÜ bestimmt, dass eine Offenbarung der Erfindung für die Anwendung des Art. 54 EPÜ außer Betracht bleibt, wenn sie nicht früher als sechs Monate vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung erfolgt ist und unmittelbar oder mittelbar zurückgeht : a) auf einen offensichtlichen Missbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers oder b) auf die Tatsache, dass der Anmelder oder sein Rechtsvorgänger die Erfindung auf amtlichen oder amtlich anerkannten Ausstellungen zur Schau gestellt hat.
In den verbundenen Verfahren G 3/98 (ABl. 2001, 62) und G 2/99 (ABl. 2001, 83) entschied die Große Beschwerdekammer, dass für die Berechnung der Frist von sechs Monaten nach Art. 55 (1) EPÜ 1973 der Tag der tatsächlichen Einreichung der europäischen Patentanmeldung maßgebend ist; der Prioritätstag ist für die Berechnung dieser Frist nicht heranzuziehen.
In T 173/83 (ABl. 1987, 465) beschloss die Kammer, dass ein offensichtlicher Missbrauch im Sinne von Art. 55 (1) a) EPÜ 1973 vorliegt, wenn klar und unzweifelhaft feststeht, dass der Dritte die erhaltene Information ohne Genehmigung in Schädigungsabsicht oder in Kenntnis seiner Nichtberechtigung unter Inkaufnahme eines Nachteils für den Erfinder oder unter Verletzung eines Vertrauensverhältnisses anderen Personen mitgeteilt hat.
In T 585/92 (ABl. 1996, 129) vertrat die Kammer die Auffassung, dass die vorzeitige Veröffentlichung einer Patentanmeldung durch eine Regierungsbehörde infolge eines Versehens nicht zwangsläufig einen Missbrauch zum Nachteil des Anmelders im Sinne des Art. 55 (1) a) EPÜ 1973 darstellt, so verhängnisvoll und nachteilig deren Folgen auch sein mögen. Wenn festgestellt werden soll, ob ein Missbrauch im Sinne des Art. 55 (1) a) EPÜ 1973 vorliegt, spielt es eine Rolle, welche Absichten derjenige verfolgt, der "missbräuchlich" handelt.
In T 436/92 vertrat die Kammer die Auffassung, dass der Vorsatz, dem anderen Beteiligten zu schaden, vermutlich ebenso wie das Wissen um den möglichen Schaden durch eine beabsichtigte Verletzung der Geheimhaltungsvereinbarung einen offensichtlichen Missbrauch darstellt. Die Absichten, die derjenige verfolge, der "missbräuchlich" handle, spielten eine entscheidende Rolle (s. auch T 585/92). Die Kammer vertrat die Auffassung, dass nach Abwägung der Wahrscheinlichkeit vom Beschwerdeführer nicht nachgewiesen worden sei, dass die Veröffentlichung unter Verletzung der stillschweigend vereinbarten Geheimhaltung erfolgt sei. Mit anderen Worten, die Veröffentlichung stellte keinen offensichtlichen Missbrauch im Sinne des Art. 55 (1) EPÜ 1973 dar.