3.2.3 Einspruchsbeschwerdeverfahren
S. auch Kapitel V.A.5.12.14 "Rückkehr zu breiteren Ansprüchen, insbesondere der erteilten Fassung".
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern bedeuten zwischenzeitliche Einschränkungen des Patentbegehrens keinen ausdrücklichen Verzicht auf Teile des Patents, sondern sind nur als Formulierungsversuche anzusehen, die das Patent gegenüber Einwänden abgrenzen sollen. Es steht dem Patentinhaber jederzeit frei, wieder auf breitere Ansprüche oder auf die erteilte Fassung zurückzukehren, vorausgesetzt, es liegt kein Verfahrensmissbrauch vor (T 43/16, s. T 123/85, ABl. 1989, 336; T 296/87, ABl. 1990, 195; T 900/94; T 1018/02; T 934/02; T 699/00; T 794/02 Die Zulassung eines solchen Antrags ins Beschwerdeverfahren unterliegt aber den Bestimmungen des Art. 12 (4) VOBK 2020 (s. T 28/10, T 1135/15).
Laut T 123/85 (ABl. 1989, 336) sieht das EPÜ im Einspruchsverfahren die Erklärung eines Verzichts des Patentinhabers auf sein Patent nicht vor (im Anschluss an T 73/84, ABl. 1985, 241; T 186/84, ABl. 1986, 79); er kann auch nicht teilweise auf sein Patent verzichten und mit der Erklärung eines solchen Verzichts dem Patent einen beschränkten Inhalt geben. Daher könne ein im Einspruchsverfahren zurückgenommener Antrag trotzdem in späteren Einspruchsbeschwerdeverfahren berücksichtigt werden.
In T 1018/02 wurde darauf hingewiesen, dass Änderungen eines europäischen Patents die Erfordernisse der R. 57a EPÜ 1973 (R. 80 EPÜ) erfüllen müssten. Nach dieser Regel seien Änderungen möglich, soweit sie durch Einspruchsgründe veranlasst seien. Dies bedeute jedoch nicht, dass ein Patentinhaber, der in der ersten Instanz beschließe, einen Hauptantrag zu verteidigen, der gegenüber den Ansprüchen in der erteilten Fassung beschränkt sei, im Beschwerdeverfahren nicht über diesen Antrag hinausgehen könne. Gemäß T 407/02 ist es einem Patentinhaber, der sein Patent im Einspruchsverfahren nur beschränkt verteidigt hat, grundsätzlich nicht verboten, im Beschwerdeverfahren wieder zu einer breiteren oder sogar der erteilten Fassung seines Patentbegehrens zurückzukehren. Im Anschluss an T 407/02 wies die Kammer in T 1188/09 darauf hin, dass die Einsprechenden also in jedem Fall damit rechnen müssen, dass der Patentinhaber, dessen Patent durch die Einspruchsabteilung widerrufen wurde, sein Patent im Beschwerdeverfahren im erteilten Umfang verteidigt. Die Kammer in T 1188/09 stellte fest, dass T 1018/02 dem ausdrücklich gefolgt ist. Die Entscheidung T 386/04 hat diese Auffassung nochmals bekräftigt und dargelegt, dass vermeintlich entgegenstehende Entscheidungen stets Sachverhalte betrafen, bei denen die Anspruchsänderung einem Verfahrensmissbrauch gleichgekommen war.
Nach T 386/04 kann ein Beschwerdeführer (Patentinhaber), dessen Patent widerrufen worden ist, die Aufrechterhaltung des Patents in der erteilten Fassung beantragen, auch wenn sein Hauptantrag vor der Einspruchsabteilung lediglich auf die Aufrechterhaltung des Patents in einer eingeschränkten Fassung gerichtet war. Eine Ausnahme hiervon gilt dann, wenn die Wiederaufnahme der geänderten Ansprüche einen Verfahrensmissbrauch darstellen würde. Diesem seit Langem anerkannten Grundsatz stehen weder die Entscheidungen T 528/93 und T 840/93 (ABl. 1996, 335) entgegen, in denen es um neue Ansprüche geht, die neue Fragen aufwerfen, noch die Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung G 9/91 (ABl. 1993, 408) zum Sinn und Zweck der Beschwerde. In T 727/15 ließ die Kammer den Hauptantrag unter Verweis auf T 386/04 ins Verfahren zu (Rückkehr zu den Ansprüchen in der erteilten Fassung nach Aufrechterhaltung in beschränktem Umfang). Im vorliegenden Fall stellte eine solche Rückkehr keinen Verfahrensmissbrauch dar.
Die Kammer in T 28/10 setzte sich eingehend mit T 123/85 (ABl. 1989, 336) und der daran anknüpfenden Rechtsprechung einschließlich T 386/04 auseinander und stellte fest, dass aus dieser Rechtsprechung nicht gefolgert werden konnte, dass ein Rückkommen auf eine breitere, im Einspruchsverfahren zunächst nicht verteidigte Anspruchsfassung als Änderungen des verfahrensrelevanten Vorbringens verfahrensrechtlich vorbehaltlos möglich sein muss. In der vorliegenden Sache wollte der Patentinhaber im Beschwerdeverfahren Ansprüche einführen, die nicht Grundlage der Diskussion vor der Einspruchsabteilung gewesen waren. Die Kammer stellte fest, dass sich die Rechtslage seit T 123/85 geändert habe und dass nicht mehr die durch T 123/85 begründete Rechtsprechung maßgeblich sei, sondern die Rechtsvorschrift des Art. 12 (4) VOBK 2007.
In T 2558/16 stellte die Kammer folgendes fest: Die bloße Tatsache, dass ein Patentinhaber im erstinstanzlichen Verfahren seinen Antrag auf Zurückweisung des Einspruchs nicht weiterverfolgt bzw. durch weitere Anträge ersetzt hat, bedeutet nicht grundsätzlich, dass er daran gehindert ist, im Beschwerdeverfahren wieder die erteilte Fassung des Patents zu verteidigen. Ein Anspruch darauf besteht allerdings nicht. Vielmehr liegt die Zulassung eines solchen Antrags im Ermessen der Kammer. Dabei sind die Umstände des Einzelfalls, vorliegend insbesondere die Ereignisse im Einspruchsverfahren, bei der Ausübung des Ermessens nach Art. 12 (4) VOBK 2007 maßgebend.