1.3. Maßstab für die Beurteilung der Einhaltung von Artikel 123 (2) EPÜ
Änderungen dürfen nur im Rahmen dessen erfolgen, was der Fachmann der Gesamtheit der Unterlagen in ihrer ursprünglich eingereichten Fassung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens – objektiv und bezogen auf den Anmeldetag – unmittelbar und eindeutig entnehmen kann (G 2/10, Goldstandard, s. oben Kapitel II.E.1.3.1).
Bei der Prüfung der Frage, ob der Gegenstand des Patents entgegen Art. 100 c) EPÜ 1973 über den Inhalt der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, ist nach Auffassung der Kammer in T 1269/06 im Wesentlichen zu untersuchen, ob durch die in der Beschreibung oder – wie hier – in den Ansprüchen erfolgten Änderungen dem Fachmann tatsächlich zusätzliche, technisch relevante Informationen zur Verfügung gestellt wurden, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht enthalten waren. Dies kann sich jedoch weder allein aus der Tatsache, dass in den Anmeldungsunterlagen nicht vorhandene Begriffe nachträglich eingeführt wurden, noch aus einer rein semantischen Analyse der beanstandeten Passagen ergeben. Vielmehr muss die den Einwand vorbringende Partei oder Instanz die vermeintlich neu hinzugefügte technische Lehre auch als solche eindeutig bestimmen können.
In T 99/13 erinnerte die Kammer daran, dass nach der ständigen Rechtsprechung (s. T 667/08, T 1269/06, auf die in der Entscheidung verwiesen wird; s. auch z. B. T 988/91, T 494/09) die Erfordernisse des Art. 123 (2) EPÜ auf derselben Grundlage zu beurteilen sind wie die übrigen Patentierbarkeitskriterien (wie Neuheit oder erfinderische Tätigkeit), nämlich aus der Sicht des Fachmanns auf einer technischen und sachgemäßen Basis ohne konstruierte oder semantische Auslegung. Der Fachmann, der den Anspruch 1 aus der Sicht eines auf dem betreffenden Fachgebiet tätigen Technikers lesen würde, würde die darin enthaltene breit gefasste Voraussetzung für die Messung der Viskosität als eine Voraussetzung verstehen, die bei der Gebrauchstemperatur der beanspruchten Formulierung erfüllt sein muss, und in der Beschreibung nach weiteren diesbezüglichen Informationen suchen. S. auch T 2255/12, in der von einer übertrieben formalistischen Vorgehensweise abgeraten wird, die auf den wörtlichen Inhalt der ursprünglichen Anmeldung mehr achtet als auf die darin enthaltenen technischen Informationen. In diesem Sinne s. auch T 1690/15. S. auch T 195/20.
Eine wörtliche Stützung der an einer Patentanmeldung vorgenommenen Änderungen ist nach Art. 123 (2) EPÜ nicht erforderlich, soweit die geänderten oder hinzugefügten Merkmale die technische Information widerspiegeln, die der Fachmann beim Lesen der ursprünglichen Offenbarung aus deren Gesamtinhalt (Beschreibung, Ansprüche und Zeichnungen) hergeleitet hätte (T 1728/12, in der die Entscheidung T 667/08 angeführt wird; s. auch T 1731/07, T 45/12, T 801/13, T 1717/13 und T 640/14). S. auch unten in diesem Kapitel II.E.1.3.3 "Implizite Offenbarung".
In T 1717/13 befand die Kammer, dass die Einwände des Beschwerdegegners/Einsprechenden primär auf Unterschiede zwischen dem Wortlaut der ursprünglich eingereichten Anmeldung und den Anspruchsänderungen gerichtet seien. Es sei jedoch anerkanntermaßen für die Zwecke von Art. 123 (2) EPÜ nicht erforderlich, dass eine Änderung eine ausdrückliche Grundlage in den ursprünglichen Anmeldungsunterlagen hat, solange die Änderung unter Heranziehung des allgemeinen Fachwissens der Anmeldung in der eingereichten Fassung unmittelbar und eindeutig zu entnehmen ist.
In T 2619/11 war die Kammer der Auffassung, dass die erstinstanzliche Entscheidung das Augenmerk zu stark auf die Struktur der ursprünglich eingereichten Ansprüche richtete statt auf das, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann offenbarten. Die Anmeldung wende sich nicht an den Philologen oder Logiker, sondern an ein Fachpublikum, für das der Versuch, Informationen aus der Struktur der abhängigen Ansprüche herzuleiten, zu einem konstruierten Ergebnis führen würde. In T 1363/12 befand die Kammer, dass T 2619/11 keinen neuen Test enthalte (nämlich, dass es darauf ankommt, was die ursprünglichen Unterlagen dem Fachmann "tatsächlich offenbarten"), der sich vom "Goldstandard" (s. unten Kapitel II.E.1.3.1) unterscheide (s. auch T 938/11). S. auch T 1194/15 (bezieht sich auf T 2619/11), worin die Kammer befand, dass im vorliegenden Fall die neu aufgenommenen Merkmale in der ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung als allgemeine, für alle Ausführungsformen der Erfindung geltende Offenbarung offengelegt worden seien. Der gegenteilige Ansatz des Beschwerdeführers/Einsprechenden sei sehr formalistisch und berücksichtige nicht, an welches Publikum die Patentanmeldung gerichtet sei.
In T 113/16 erinnerte die Kammer (unter Verweis auf die "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 8. Auflage 2016, Kapitel II.A.6.1) daran, dass der Fachmann bei der Auslegung der Ansprüche zur inhaltlichen Bestimmung diese durch Synthese, also eher aufbauend als zerlegend liest, um zu einer Auslegung zu gelangen, die technisch sinnvoll ist und bei der die gesamte Offenbarung des Patents berücksichtigt wird. Ansprüche werden daher mit der Bereitschaft gelesen, sie im Kontext und mit normaler Lesekompetenz zu verstehen. Dasselbe gilt natürlich auch für die Beschreibung und die Zeichnungen, wobei ihr Zweck zu berücksichtigen ist, nämlich das Grundkonzept einer beanspruchten Erfindung durch detaillierte Beispiele zu beschreiben oder zu illustrieren. Der Fachmann nähert sich den Ansprüchen, der Beschreibung und den Zeichnungen somit als festen und miteinander verbundenen Bestandteilen einer Gesamtoffenbarung. Dies gilt auch für die Bestimmung des Inhalts der Anmeldung in der eingereichten Fassung. S. auch T 488/16 und T 516/18. S. jedoch T 916/15, in der die Kammer die Auffassung vertrat, dass die Rechtsprechung der Beschwerdekammern, die auf "einen zum Verständnis bereiten Leser" Bezug nimmt, nicht für die Zwecke der Beurteilung der Zulässigkeit von Änderungen nach Art. 123 (2) EPÜ gilt.
Eine neue Definition, die sich von der dem Fachmann bekannten Standarddefinition unterscheidet, ist keine unzulässige Erweiterung, wenn die Anmeldung in ihrer Gesamtheit eine einschlägige Offenbarung enthält (T 1598/18).
- T 532/20
Catchword:
In general, an auxiliary request which is directed to a combination of granted dependent claims as new independent claim, and filed after the statement of grounds or the reply thereto, will be an amendment of the party's appeal case within the meaning of Article 13 RPBA 2020. See reasons 9. A skilled person assessing the contents of the original application documents uses his technical skill. If they recognise that certain elements of the original application documents are essential for achieving a technical effect then adding that technical effect to a claim without also adding the essential elements can create fresh subject-matter even if the essential elements are originally portrayed as being optional. See reasons 3.6.3.
- T 367/20
Catchword:
To assess whether an amended patent claim contains added subject-matter under Article 123(2) EPC, the claimed subject-matter must first be determined by interpreting the claim from the perspective of the person skilled in the art. In a second step, it must be assessed whether that subject-matter is disclosed in the application as filed (Reasons 1.3.8 to 1.3.10).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”