1.7.3 Entscheidungen zur Anwendung der in G 1/03 und G 1/16 von der Großen Beschwerdekammer aufgestellten Kriterien
Nach G 1/03 (ABl. 2004, 413) stellt ein Disclaimer, der einen technischen Beitrag leistet und der insbesondere für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant ist oder wird, eine nach Art. 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar (Nr. 2.3 der Entscheidungsformel, Nr. 2.6 der Gründe). In G 1/16 (ABl. 2018, A70) bestätigte die Große Beschwerdekammer, dass der nicht offenbarte Disclaimer nicht mit der erfindungsgemäßen Lehre in Zusammenhang stehen darf, und stellte Folgendes klar: die Aufnahme eines Disclaimers in einen Anspruch ändert zwangsläufig die technischen Informationen. Die richtige Frage in diesem Kontext lautet nicht, ob ein nicht offenbarter Disclaimer die ursprüngliche technische Lehre quantitativ beschränkt – was unweigerlich der Fall ist –, sondern ob er sie qualitativ dahin gehend ändert, dass sich die Position des Anmelders oder des Patentinhabers in Bezug auf andere Patentierbarkeitserfordernisse verbessert. Wenn dies zutrifft, wurde die ursprüngliche technische Lehre durch die Aufnahme des Disclaimers in unzulässiger Weise verändert.
In T 788/05 wurde der nicht offenbarte Disclaimer vom Beschwerdeführer im Prüfungsverfahren mit dem Ziel eingeführt, die Neuheit des beanspruchten Gegenstands gegenüber dem Dokument D1 zu begründen, das zu dem Zeitpunkt als einschlägiger Stand der Technik gemäß Art. 54 (3) EPÜ 1973 betrachtet wurde. Im vorliegenden Fall ging der einschlägige Stand der Technik aus den Dokumenten D1 und D5 hervor. Um zulässig zu sein, musste der Disclaimer die Bedingungen im Hinblick auf beide Dokumente erfüllen. Bezüglich D1 schien der Disclaimer angemessen zu sein. D5 stellte einen Stand der Technik gemäß Art. 54 (2) EPÜ 1973 dar. Da D5 kein Stand der Technik nach Art. 54 (3) und (4) EPÜ 1973 und keine zufällige Vorwegnahme war, wäre der Disclaimer nur dann zulässig, wenn er keinen Gegenstand im Sinne des Art. 123 (2) EPÜ 1973 hinzufügen würde, d. h. wenn der Disclaimer nicht für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit relevant würde. Nach eingehender Prüfung kam die Kammer zu dem Schluss, dass der Gegenstand von Anspruch 1 des Hauptantrags und des ersten Hilfsantrags nach Art. 123 (2) EPÜ 1973 nicht zulässig war (s. auch T 761/08).
In T 660/14 enthielt Anspruch 1 des Hilfsantrags 4 zwei zusätzliche Merkmale, denen zufolge das Bedien- und das Steuerelement der beanspruchten Fahrradsteuervorrichtung schwenkbar bezüglich nicht gemeinsamer, versetzter Achsen und nicht gemeinsam schwenkbar bezüglich einer der versetzten Achsen waren. Die Kammer befand in Anwendung des Kriteriums aus G 1/03 (ABl. 2004, 413) in der Auslegung durch G 1/16 (ABl. 2018, A70), dass die Disclaimer einen technischen Beitrag zum offenbarten Gegenstand leisteten. In den Ansprüchen 7 und 8 in der ursprünglich eingereichten Fassung waren das Bedien- und das Steuerelement so angeordnet, dass sie schwenkbar bezüglich paralleler und/oder versetzter Achsen waren. Wie in der Beschreibung erwähnt, konnte dies als ergonomischer Vorteil betrachtet werden. Die Kammer schloss daraus, dass die Disclaimer einen technischen Unterschied gegenüber der ursprünglichen Anmeldung in den geänderten Anspruch einführten. Die bezüglich der Achsen schwenkbare Anordnung des Bedien- und des Steuerelements hatte technischen Charakter, nicht zuletzt durch die Offenbarung der ergonomischen Vorteile, woraus die Kammer schloss, dass die Ausklammerung dieser Anordnung ebenfalls technischen Charakter haben musste. Die Kammer befand, dass diese Feststellung auch durch die Überlegung bestätigt wurde, ob eine rein quantitative Änderung der ursprünglichen technischen Lehre eingetreten ist oder ob sich durch die Aufnahme der nicht offenbarten Disclaimer eine qualitative Änderung ergeben hat (G 1/16). Durch Ausklammerung sowohl der gemeinsamen versetzten Achsen als auch des gemeinsamen Schwenkens bezüglich einer der versetzten Achsen waren die ergonomischen Erwägungen der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung geändert worden, was insofern zu einer qualitativen Änderung der ursprünglich offenbarten technischen Lehre führte, als die Position des Patentinhabers im Hinblick auf die erfinderische Tätigkeit verändert wurde. S. auch T 2000/14, wo die Kammer ebenfalls befand, dass der Disclaimer zu einer qualitativen Änderung der ursprünglich offenbarten technischen Lehre führte.
Unter Berücksichtigung der Antworten auf ihre Vorlagefragen zu nicht offenbarten Disclaimern durch die Große Beschwerdekammer in G 1/16 (ABl. 2018, A70) befand die Kammer in T 437/14 vom 12. März 2019 date: 2019-03-12, dass es keine Beweismittel dafür gebe, dass die Beschränkung des Spektrums der durch die Formel in Anspruch 1 abgedeckten Verbindungen, d. h. die Ausklammerung von sieben konkreten, im Disclaimer definierten Verbindungen, für die Zuerkennung einer erfinderischen Tätigkeit oder die Frage der ausreichenden Offenbarung relevant wäre.
In T 1984/15 rief die Kammer in Erinnerung, dass laut der Entscheidung G 1/03 ein Disclaimer, der nur auf der Grundlage einer kollidierenden Anmeldung zulässig wäre, die Erfindung nicht neu oder erfinderisch gegenüber einem Stand der Technik nach Art. 54 (2) EPÜ machen kann. Genau dies wäre aber vorliegend der Fall gewesen, da der aufgenommene Disclaimer nach eigenem Bekunden des Patentinhabers den Anspruchsgegenstand erfinderisch gegenüber dem nächstliegenden Stand der Technik D10, einem Dokument gemäß Art. 54 (2) EPÜ, machen würde. Bei dem Disclaimer handelte es sich daher um eine unzulässige Änderung im Sinne von Art. 123 (2) EPÜ.