8.1.3 Anwendbarkeit von G 2/88 und G 6/88 auf Verfahrensansprüche
In T 958/90 stellte die Kammer fest, dass eine bekannte Wirkung nicht allein deshalb neu werden kann, weil sie dem Patent zufolge in einem bisher unbekannten Umfang eintritt.
In dem der Entscheidung T 279/93 zugrunde liegenden Fall war ein Anspruch, der die Verwendung eines ersten Stoffs zur Herstellung eines zweiten Stoffs zum Gegenstand hatte, von der Einspruchsabteilung wegen mangelnder Neuheit zurückgewiesen worden. Die Ansprüche waren insbesondere auf die Verwendung von Alkanolaminen gerichtet, die der Bildung von Isomelamin-Verunreinigungen entgegenwirken sollten. Dem Anmelder zufolge müsste dieser Zweck, selbst wenn er beim Nacharbeiten der Lehre einer Vorveröffentlichung inhärent erzielt worden wäre, dem Gegenstand der Ansprüche Neuheit verleihen, da gemäß der in G 2/88 (ABl. 1990, 93) gegebenen Begründung eine inhärente Offenbarung für eine neue Verwendung nicht neuheitsschädlich sei, weil diese als funktionelles technisches Merkmal der Ansprüche anzusehen sei. Die Kammer hielt die Verwendung eines Stoffs in einem Verfahren zur Herstellung eines anderen Stoffs, der der Bildung von Verunreinigungen entgegenwirken soll, nicht zwangsläufig für ein funktionelles technisches Merkmal im Sinn der Entscheidung G 2/88, das einem Anspruch, der dieses Merkmal enthält, in jedem Fall Neuheit verleiht. Sie befand, dass der vorliegende Streitfall wesentlich anders gelagert war als der der Entscheidung G 2/88 zugrunde liegende. Sie konnte bei dem Anspruch eine neue technische Wirkung oder einen neuen technischen Zweck, wie es die Entscheidung G 2/88 fordert, nicht feststellen. Dass ein bekanntes Erzeugnis weniger Isomelamin-Verunreinigungen aufweise, stelle lediglich eine Entdeckung dar. Um daraus eine patentierbare Erfindung zu machen und die Merkmale einer neuen technischen Wirkung abzuleiten, müsste die anspruchsgemäße Verwendung eine neue Verwendung des Erzeugnisses sein, die sich die Entdeckung, dass dessen Isomelamin-Verunreinigung gering ist, für einen neuen technischen Zweck zu Nutze mache.
In T 1855/06 wurde Folgendes ausgeführt: Die Neuheit der Verwendung einer bekannten Verbindung zur bekannten Herstellung eines bekannten Produkts kann nicht von einer neuen Eigenschaft des erzeugten Produkts abgeleitet werden. In so einem Fall ist die Verwendung einer Verbindung zur Herstellung eines Produkts als ein Verfahren zur Herstellung des Produkts durch die Verbindung zu interpretieren. Sie kann nur als neu betrachtet werden, wenn das Herstellungsverfahren als solches neu ist. Wenn der genannte Zweck der Verwendung sich nur auf die Verbesserung einer schon bekannten Eigenschaft eines herzustellenden Produktes bezieht, kann auch nicht von einer neuen technischen Aktivität im Sinne von G 2/88 und G 6/88 ausgegangen werden, wenn der Anspruch nicht verlangt, dass diese Verbesserung in irgendeiner Form ausgenützt wird. Die Erkenntnis, dass ein bekanntes Produkt eine gewisse Eigenschaft aufweist, stellt lediglich eine Entdeckung dar (T 279/93 folgend), die die Neuheit des Verwendungsanspruchs nicht begründen kann.
In T 892/94 (ABl. 2000, 1) stellte die Kammer fest, dass nach G 2/88 Neuheit im Sinne des Art. 54 (1) EPÜ 1973 zuerkannt werden könne, wenn ein Anspruch auf die Verwendung eines bekannten Stoffs für einen bis dahin unbekannten, d. h. neuen, nicht medizinischen Zweck gerichtet sei, der einer neu entdeckten technischen Wirkung entspreche. Eine neu entdeckte technische Wirkung verleihe einem Anspruch, der auf die Verwendung eines bekannten Stoffs für einen bekannten nicht medizinischen Zweck gerichtet sei, aber keine Neuheit, wenn die neu entdeckte technische Wirkung der bekannten Verwendung des bekannten Stoffs bereits zugrunde liege. Die Offenbarung der Entgegenhaltung 1 sei nach Auffassung der Kammer neuheitsschädlich für den strittigen Anspruch. Dabei sei es für die Neuheitsschädlichkeit ohne Bedeutung, dass die tatsächliche technische Wirkung der "aromatischen Ester" in desodorierenden Gemischen in der Entgegenhaltung nicht beschrieben sei. Die nachträgliche Entdeckung, dass die desodorierende Wirkung "aromatischer Ester" bei deren Verwendung als Wirkstoff in desodorierenden Erzeugnissen durch ihre Fähigkeit bedingt sein könnte, esteraseerzeugende Mikroorganismen zu hemmen, könnte möglicherweise als (unter Umständen überraschende) Erkenntnis über die bekannte Verwendung oder Anwendung solcher Ester gewertet werden, könne einem Anspruch aber keine Neuheit verleihen, weil dafür die neu entdeckte Wirkung zu einer neuen technischen Anwendung oder Verwendung der "aromatischen Ester" führen müsste, die nicht zwangsläufig mit der bekannten Anwendung oder Verwendung zusammenhänge und sich klar von ihr unterscheiden lasse.
In T 706/95 gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass der Entdeckung einer zusätzlich erzielbaren Wirkung durch ein bekanntes Mittel keine Neuheit zuerkannt werden könne, wenn es für den gleichen bekannten Zweck (bekannte Verwendung), nämlich die Verringerung der Konzentration von Stickstoffoxiden, in dem gleichen Abwasser verwendet wird (s. auch T 934/04).
In T 189/95 entschied die Kammer, dass eine neue Eigenschaft einer Substanz, d. h. eine neue technische Wirkung, nicht notwendigerweise immer zu einer neuen Verwendung der gleichen Substanz führen müsse oder sich in einer solchen manifestieren müsse. Beispielsweise könne die neu entdeckte Eigenschaft einfach die Erklärung für den Mechanismus liefern, der der bereits im Stand der Technik beschriebenen Verwendung zugrunde liegt, so wie es in T 892/94 (ABl. 2000, 1) der Fall war. Wie in der zuvor erwähnten Sache gelangte die Kammer auch in diesem Fall zu der Ansicht, dass das Aufzeigen einer Eigenschaft oder einer Aktivität für die Herstellung der Neuheit eines Anspruchs, der sich auf die Verwendung einer bekannten Substanz für eine bekannte nicht medizinische Verwendung bezieht, nicht ausreiche, wenn durch die neu entdeckte Eigenschaft oder Aktivität lediglich die Grundlage für die bekannte Verwendung der bekannten Substanz erkennbar werde.
In T 151/13 führte die Kammer aus, dass der Zweck eines bestimmten Reagenz in einem bekannten chemischen Prozess kein funktionelles technisches Merkmal im Sinne von G 2/88 ist und dem Prozess keine Neuheit verleiht.
Zur Entdeckung einer bisher unbekannten Eigenschaft eines Stoffs, die der bekannten Verwendung zugrunde liegt, s. auch die Entscheidung T 1073/96, in der auf T 254/93 (ABl. 1998, 285) verwiesen wird. Bejaht wurde eine neue Verwendung hingegen z. B. in T 319/98, T 952/99, T 966/00, T 326/02 und T 1090/02.