1.6.2 Auswahl aus zwei Listen – Herausgreifen einer Kombination von Merkmalen
Aus der Kombination jeweils eines Mitglieds aus zwei Listen von Merkmalen, welche durch keinen Hinweis in der ursprünglich eingereichten Anmeldung gestützt sei, resultierte nach Auffassung der Kammer in T 727/00 ein Anspruchsgegenstand, der zwar denkgesetzlich von der ursprünglichen Anmeldung umfasst, aber in dieser individualisierten Form dort nicht offenbart war. Anspruch 1 des Hauptantrags habe daher allein aus diesem Grunde keine Stütze in der Beschreibung und verstoße gegen Art. 123 (2) EPÜ. S. auch T 714/08, T 1267/11 und T 3035/19.
Gemäß T 1621/16 ist es ständige Rechtsprechung, dass Änderungen, die auf einer willkürlichen Mehrfachauswahl aus Listen basieren, unter bestimmten Umständen eine Erweiterung des Gegenstands der Anmeldung in der eingereichten Fassung nach Art. 123 (2) EPÜ darstellen. Die Kammer hielt allerdings fest, dass es in den meisten der diesem etablierten Ansatz folgenden Entscheidungen um Änderungen ging, die auf Listen nicht konvergierender Alternativen beruhten. Die Kammer befand, dass Auswahlvorgänge aus Listen konvergierender Alternativen nicht genauso behandelt werden sollten wie Auswahlvorgänge aus Listen nicht konvergierender Alternativen. (Zusammenfassung dieser Entscheidung s. unter Punkt d).
Nach Ansicht der Kammer in T 1937/17 hat ein "technischer Beitrag" außer für die in G 1/93 (ABl. 1994, 541) erläuterten Zwecke keine Relevanz, wenn über die Zulässigkeit von Änderungen nach Art. 123 (2) EPÜ entschieden wird. Stattdessen ist der in G 2/10 (ABl. 2012, 376) formulierte Goldstandard das einzige anzuwendende Kriterium.
In T 1511/07 stellte die Kammer fest, dass die Auswahl explizit offenbarter Grenzwerte, die mehrere (Unter-) Bereiche definieren, zur Festlegung eines neuen (engeren) Unterbereichs nicht nach Art. 123 (2) EPÜ zu beanstanden ist, wenn die Bereiche aus derselben Liste stammen; die Kombination eines einzelnen Bereichs aus dieser Liste mit einem anderen einzelnen Bereich aus einer zweiten Liste von Bereichen, der sich auf ein anderes Merkmal bezieht, gilt dagegen nicht als in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart, sofern es nicht einen klaren Hinweis auf eine solche Kombination gibt. Gemäß T 1149/20 ist es ständige Rechtsprechung, dass eine Kombination von Merkmalen, die ursprünglich einzeln offenbart oder aus mehreren Listen ausgewählt wurden, der ursprünglich eingereichten Anmeldung dennoch unmittelbar und eindeutig entnommen werden kann, wenn darin explizite oder implizite Hinweise auf diese spezifische Kombination enthalten sind. Zu Entscheidungen, in denen dieses Kriterium angewandt wurde, s. in diesem Kapitel unter II.E.1.6.2 c).
In T 783/09 stellte die Kammer fest, dass der Fachmann im vorliegenden Fall somit unmittelbar und eindeutig vierundvierzig individuelle Kombinationen ausmachen würde, darunter auch die drei "Grundkombinationen", auf die in Anspruch 1 abgestellt werde. Die Kammer verwies auf die Entscheidung T 12/81 (ABl. 1982, 296, wo dieses Kriterium im Kontext der Neuheit angewandt wurde; s. auch oben, Kapitel I.C.6.2), in der Folgendes festgestellt wurde: "Sind zur Herstellung der Endprodukte zweierlei Klassen von Ausgangsstoffen notwendig und sind hierfür Beispiele für Einzelindividuen jeweils in einer Auflistung gewissen Umfangs zusammengestellt, so kann ein Stoff, der durch Umsetzung eines speziellen Paares aus beiden Listen zustande kommt, als Auswahl im patentrechtlichen Sinne und damit als neu angesehen werden." Die Kammer wies darauf hin, dass der Verwendung des Wortes "kann" zu entnehmen war, dass die Darstellung eines individualisierten Gegenstands als Ergebnis einer Kombination von Elementen aus Listen nicht unbedingt bedeutet, dass dieser nicht unmittelbar und eindeutig offenbart worden ist. Der "Offenbarungsstatus" eines aus Listen zu individualisierenden Gegenstands müsse letztendlich anhand der Umstände des Einzelfalls bestimmt werden, indem gefragt werde, ob der Fachmann den betreffenden Gegenstand klar und eindeutig aus dem Dokument als Ganzes ableiten würde.
In T 1710/09 betonte die Kammer jedoch, dass das Wort "kann" in T 12/81 im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung als "muss" auszulegen ist. Sie äußerte die Besorgnis, dass bei einer freien Auslegung des Wortes "kann" wie in T 783/09 die Einheitlichkeit der Beurteilung der Offenbarung nicht gewährleistet werden kann.
In T 1255/18 betonte die Kammer unter Verweis auf T 783/09, dass in der Rechtsprechung zwar bestimmte Bedingungen wie etwa das sogenannte "Zwei-Listen-Prinzip" entwickelt worden seien, diese aber nicht als Zusatz- oder Alternativbedingungen gedacht seien, sondern nur als mögliche Hilfe, um in bestimmten Fällen zu prüfen, ob der Goldstandard erfüllt sei. Die zentrale zu klärende Frage sei deshalb, ob die beanspruchte Merkmalskombination vom Fachmann unmittelbar und eindeutig vom Gesamtinhalt der Stammanmeldung in der eingereichten Fassung abgeleitet werden könne.
In T 3035/19 vertrat die Kammer die Auffassung, das Konzept einer Auswahl aus zwei Listen sei zwar nicht als Ersatz für den Goldstandard gedacht, biete aber wertvolle Anhaltspunkte und finde in der Rechtsprechung zur Beurteilung nicht nur unzulässiger Erweiterungen, sondern auch der Neuheit breite Anwendung (s. T 12/81, ABl. 1982, 296, und Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl., I.C.6.2). Angesichts der Wichtigkeit eines einheitlichen Offenbarungskonzepts für die Anwendung der Art. 54 und 123 (2) EPÜ (s. G 2/10, ABl. 2012, 376, in der auf G 1/03, ABl. 2004, 413 verwiesen wird) und ebenso des Art. 76 (1) EPÜ stellte die Kammer daher fest, ein Abweichen von diesem bekannten Kriterium für Auswahlerfindungen sei bei der Beurteilung hinzugefügter Gegenstände nicht zweckmäßig. Die Kammer betonte, dass bei der Kombination von Merkmalen aus zwei oder mehr Listen oder aus einzelnen Ausführungsformen nur bei Fehlen eines Hinweises auf diese bestimmte Kombination eine unzulässige Erweiterung vorliege. In anderen Worten: das Konzept einer Auswahl aus Listen sei unter gebührender Berücksichtigung des gesamten Inhalts der früheren Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung anzuwenden.
- T 1133/21
Catchword:
The mere fact that features are described in the application as filed in terms of lists of more or less converging alternatives does not give the proprietor a "carte blanche" for freely combining features selected from a first list with features selected from a second list disclosed in the application as filed. Any such amendment will only be allowable under Article 123(2) EPC if it complies with the "gold standard" defined in decision G 2/10 (reasons 2.18 of the present decision).
- T 795/21
Catchword:
Following the explicit reference in G 2/10 to the applicability of the existing jurisprudence regarding the singling out of compounds or sub-classes of compounds or other so-called intermediate generalisations not specifically mentioned nor implicitly disclosed in the application as filed (see G 2/10, section 4.5.4), the Board understands the notion of "the remaining generic group of compounds differing from the original group only by its smaller size" versus "singling out an hitherto not specifically mentioned sub-class of compounds" and the notion of "mere restriction of the required protection" versus "generating another invention" or "suitable to provide a technical contribution to the originally disclosed subject-matter" as developed in the jurisprudence (see in section Case Law of the Boards of Appeal, supra, section II.E.1.6.3) not as modifications of the "gold standard" for the assessment of amendments in the form of additional or alternative criteria, but rather as considerations which may arise from the application of this standard when assessing amendments by deletion of options from multiple lists and which may affirm the result of such assessment. In particular, the observation that a deletion of options from multiple lists is an amendment suitable to provide a technical contribution to the originally disclosed subject-matter, can be used to support the assessment that this amendment is not in compliance with the "gold standard".
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”