1.1. Auslegungsgrundsätze des Wiener Übereinkommens
Es stellt eine allgemein anerkannte Regel des Völkerrechts dar, dass bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge subsidiär die Materialien zur Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden können. Gemäß Art. 32 des Wiener Übereinkommens können ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Art. 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Art. 31 a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (T 128/82, ABl. 1984, 164; s. auch G 2/07, ABl. 2012, 130; G 1/08, ABl. 2012, 206, Nr. 4.3 der Gründe; G 2/12 und G 2/13; T 2320/16, Nr. 1.5.8 der Gründe).
In G 2/12 und G 2/13 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") und die Umstände des Abschlusses des EPÜ lediglich als ergänzende Quellen dienen, die das Ergebnis der Auslegung bestätigen oder herangezogen werden, wenn bei Anwendung der allgemeinen Auslegungsregel keine sinnvolle Bedeutung zu bestimmen ist (Art. 32 Wiener Übereinkommen).
Laut der Stellungnahme G 1/18 (ABl. 2020, A26) geht aus Art. 32 des Wiener Übereinkommens hervor, dass vorbereitende Dokumente und die Umstände des Abschlusses des EPÜ primär heranzuziehen sind, um eine Bedeutung zu bestätigen oder eine Bedeutung zu bestimmen, wenn die ersten, gewöhnlichen Auslegungsmittel zu einem mehrdeutigen oder sinnwidrigen Ergebnis führen würden. In G 1/18 wurden auch die Schlussfolgerungen, die die Kammern bei ihrer Analyse der "Travaux préparatoires" gezogen hatten, angeführt und für unrichtig befunden. Bevor die Große Beschwerdekammer darlegte, was ihrer Ansicht nach eindeutig aus der Analyse der "Travaux préparatoires" hervorgeht, erinnerte sie an den Grundsatz, dass bei der Auslegung völkerrechtlicher Verträge subsidiär die Materialien zur Entstehungsgeschichte berücksichtigt werden können. Nummer V.3 ihrer Stellungnahme widmete die Große Beschwerdekammer der historischen Analyse der R. 69 (1) EPÜ 1973 (R. 112 EPÜ). Unter Nummer X bezeichnete sie es als erforderlich, die Entwürfe der Artikel sowie die diesbezüglichen Beratungen genau zu analysieren, da sich die "mehrheitliche" wie auch die "minderheitliche" Rechtsprechungslinie zur Begründung ihrer Entscheidungen auf die "Travaux préparatoires" gestützt hatte, und widmete sich anschließend den vorbereitenden Arbeiten zu Art. 108 EPÜ.
In G 4/19 (ABl. 2022, A24) befand die Große Beschwerdekammer, dass eine Vorschrift, die unter Art. 125 EPÜ fällt, auch Aspekte abdecken kann, die materiellrechtliche Fragen berühren. Diese Auslegung kann auf das Übereinkommen selbst gestützt werden, ohne dass die vorbereitenden Dokumente herangezogen werden (s. Nr. 27 der Gründe). Hinsichtlich eines anderen Aspekts der Auslegung von Art. 125 EPÜ (Rechtsgrundlage für ein Verbot der Doppelpatentierung – die Frage nach der Existenz eines solchen Grundsatzes und ob dieser in den Vertragsstaaten allgemein anerkannt ist) erörterte die Große Beschwerdekammer, ob die vorbereitenden Arbeiten herangezogen werden können (s. Nrn. 43 ff., 63, 76 der Gründe). In dieser Hinsicht schloss sich die Große Beschwerdekammer nicht der Auffassung an, dass die Auslegung des Übereinkommens (als solchen) eine klare Antwort liefere. Vielmehr gebe es auch auf der Grundlage von Art. 32 des Wiener Übereinkommens gute Gründe für das Heranziehen der "Travaux préparatoires". Aus den vorbereitenden Dokumenten gehe mit überwältigender Deutlichkeit hervor, dass eine tatsächliche und wirksame Übereinkunft darüber bestand, dass das EPA die Doppelpatentierung verbieten sollte, indem es die in den Vertragsstaaten im Allgemeinen anerkannten Grundsätze des Verfahrensrechts berücksichtigt, d. h. durch eine direkte Anwendung des Art. 125 EPÜ. Da der zuständige Gesetzgeber, hier die Diplomatische Konferenz, klargestellt hat, dass es sich um einen Grundsatz handelt, der unter Art. 125 EPÜ fällt, was die Rechtsauslegung anbelangt, war das Amt dadurch nicht nur ermächtigt, diesen Grundsatz anzuwenden, sondern tatsächlich auch dazu verpflichtet. Zu einem konkreten Aspekt stellte die Große Beschwerdekammer weiter fest, dass es hilfreicher sei, die deutsche und nicht die englische Fassung der vorbereitenden Arbeiten heranzuziehen. Die französische Fassung war gleichbedeutend mit der deutschen (G 4/19, s. Nr. 88 f. der Gründe).
In J 8/82 (ABl. 1984, 155) stellte die Kammer jedoch fest, es sei eine anerkannte Tatsache, dass das in Art. 31 und Art. 32 des Wiener Übereinkommens über die Auslegung von Verträgen Gesagte lediglich das bestehende Völkerrecht festschreibe. Beispielsweise griff die Juristische Beschwerdekammer in J 4/91 (ABl. 1992, 402) auf die Materialien zum EPÜ 1973 zurück, um ihre im Wege teleologischer und systematischer Auslegung der Vorschriften über die Nachfrist zur Zahlung von Jahresgebühren gewonnene Auffassung zu stützen. Der Zweck des Art. 53 b) EPÜ 1973, sein Verhältnis zu anderen internationalen Verträgen und Rechtstexten sowie seine Entstehungsgeschichte wurden in G 1/98 (ABl. 2000, 111) erörtert. Wortlautauslegung, systematische Auslegung, die Frage nach dem Willen des Gesetzgebers, die historische Auslegung und Erwägungen zur dynamischen Auslegung des Art. 55 (1) EPÜ 1973 führten die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis in G 3/98 und G 2/99 (ABl. 2001, 62 und 83). In ihrer Stellungnahme G 3/19 (ABl. 2020, A119) referierte die Große Beschwerdekammer alle Auslegungen des Art. 53 b) EPÜ bis zum Ergehen von G 2/12 (und G 2/13) und kam in Bezug auf die Entwicklungen nach G 2/12 zu dem Ergebnis, dass die Aufnahme der R. 28 (2) EPÜ angesichts der eindeutigen gesetzgeberischen Absicht der im Verwaltungsrat vertretenen Vertragsstaaten und im Hinblick auf Art. 31 (4) des Wiener Übereinkommens eine dynamische Auslegung des Art. 53 b) EPÜ zulässt und sogar verlangt.