BESCHWERDEKAMMERN
Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer vom 14. Mai 2020 - G 3/19
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | C. Josefsson |
Mitglieder: | I. Beckedorf T. Bokor S. Nathanael A. Galgo Peco G. Eliasson P. Gryczka |
Stichwort:
Paprika (im Anschluss an "Tomate II" und "Broccoli II")
Relevante Rechtsnormen:
Art. 4, 15, 21, 22 (1) a) und b), 23, 33, 33 (1) b) und c), 35 (3), 52 (1), 53, 53 a), 53 b), 112 (1) a) und b), 112a, 112a (2), 164 (2), 172 EPÜ
R. 26 (1) und (5), 27 b), 28, 28 (2) EPÜ
R. 23b bis 23e EPÜ 1973
Art. 10 VOGBK
Art. 21 VOBK 2020
Internationale Übereinkommen:
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969,
Art. 31, 32
Recht der Europäischen Union:
Vertrag über die Europäische Union, konsolidierte Fassung 2016, Art. 19 (3)
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union, Art. 267, 288
Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, Art. 1 bis 4
Recht der Vertragsstaaten:
Österreich: Patentgesetz 1970, § 2 (2)
Belgien: Code de droit économique – Dispositions relatives au droit d'obtenteur 2013 (2019), Art. XI.5 § 1er, 3°
Deutschland: Patentgesetz 1936, § 2a
Frankreich: Code de la propriété intellectuelle, Art. L611-19, Loi n° 2016-1087 du 8 août 2016 pour la reconquête de la biodiversité, de la nature et des paysages
Italien: Codice della proprietà industriale (IIPC) 2005, Art. 45.4 b) und 81quater e)
Niederlande: Rijksoctrooiwet 1995, Art. 3
Norwegen: Lov om patenter (patentloven) 1967, nr. 9, § 1; Prüfungsrichtlinien des Norwegischen Amts für gewerbliche Rechte, Abschnitt C, Kapitel IV, 2a.3.2
Polen: Ustawa z dnia 30 czerwca 2000 r. Prawo własności przemysłowej, Art. 29 (1) ii); Ustawa z dnia 16 października 2019 r. o zmianie ustawy – Prawo własności przemysłowej, Art. 1 (4)
Portugal: Código da Propriedade Industrial 2018, Art. 52 (3) c), 53 (1) d) bis f) und (2)
Serbien: Закон о патентима ("Службени гласник РС", бр. 99/11, 113/17-др. закон, 95/18 и 66/19), Art. 9 (3)
Schlagwort:
"Vorgelegte Rechtsfrage neu formuliert" – bejaht – "Zulässigkeit der Vorlage des Präsidenten des Europäischen Patentamts" – nach Neuformulierung bejaht – "Einheitliche Rechtsanwendung" – bejaht – "Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung" – bejaht – "Voneinander abweichende Entscheidungen zweier Beschwerdekammern" – bejaht – "Analoge Anwendung des Artikels 112 (1) b) EPÜ" – verneint – "Auslegungsregeln" – "Normenhierarchie" – "Einander widersprechende Vorschriften" – hinsichtlich Vorschriften verneint – "Dynamische Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ" – bejaht – "Auswirkung der Regel 28 (2) EPÜ auf die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ" – bejaht – "Patentierbarkeitsausschluss von Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen, die auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichtet sind, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert" – bejaht – "Anwendbarkeit des Ausschlusses auf vor dem 1. Juli 2017 erteilte europäische Patente und anhängige europäische Patentanmeldungen, die vor diesem Tag eingereicht wurden" – verneint
Leitsatz:
Unter Berücksichtigung der Entwicklungen nach den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13 der Großen Beschwerdekammer wirkt sich der Patentierbarkeitsausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren in Artikel 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen und Product-by-Process-Ansprüchen aus, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder die beanspruchten Verfahrensmerkmale ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definieren.
Diese negative Auswirkung gilt nicht für vor dem 1. Juli 2017 erteilte europäische Patente und anhängige europäische Patentanmeldungen, die vor diesem Tag eingereicht wurden und noch anhängig sind.
Inhaltsverzeichnis
ZUSAMMENFASSUNG DES VERFAHRENS
Vorlagefragen
Zusammenfassung der Vorlage
Stellungnahmen Dritter (Amicus-curiae-Schriftsätze)
Verlauf des Verfahrens vor der Großen Beschwerdekammer
BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME
RELEVANTE RECHTSNORMEN
UMFANG UND SCHWERPUNKT DER VORLAGE
NEUFORMULIERUNG DER VORLAGEFRAGEN
ZULÄSSIGKEIT DER VORLAGE
HINTERGRUND DER VORLAGE
G 1/98 – Pflanzensorten
G 2/07 und G 1/08 – Im Wesentlichen biologische Verfahren (Verfahrensansprüche)
G 2/12 und G 2/13 – Im Wesentlichen biologische Verfahren (Erzeugnis- und Product-by-Process-Ansprüche)
Rechtsprechung unter Anwendung von G 2/12 und G 2/13
AUSLEGUNG DES ARTIKELS 53 b) EPÜ
Grammatische, systematische und teleologische Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ
Spätere Übereinkunft oder Übung
WEITERE ERWÄGUNGEN
Historische Auslegung
Dynamische Auslegung im Lichte der Regel 28 (2) EPÜ
SONSTIGES
Vereinbarkeit mit Artikel 164 (2) EPÜ
Folgen der neuen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ für erteilte europäische Patente und anhängige europäische Patentanmeldungen
SCHLUSSFOLGERUNG
ZUSAMMENFASSUNG DES VERFAHRENS
Vorlagefragen
I. Mit Schreiben vom 4. April 2019, eingegangen am 8. April 2019, hat der Präsident des Europäischen Patentamts (nachstehend "EPA-Präsident") der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) b) EPÜ die folgenden Rechtsfragen vorgelegt:
1. Können angesichts von Artikel 164 (2) EPÜ die Bedeutung und der Umfang von Artikel 53 EPÜ in der Ausführungsordnung zum EPÜ klargestellt werden, ohne dass die Auslegung dieses Artikels in einer früheren Entscheidung der Beschwerdekammern oder der Großen Beschwerdekammer diese Klarstellung von vornherein beschränkt?
2. Falls die Frage 1 bejaht wird, ist dann der in Regel 28 (2) EPÜ verankerte Patentierbarkeitsausschluss von Pflanzen und Tieren, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, mit Artikel 53 b) EPÜ vereinbar, der solche Gegenstände weder ausdrücklich ausschließt noch ausdrücklich erlaubt?
Zusammenfassung der Vorlage
II. Die Argumente des EPA-Präsidenten zur Zulässigkeit seiner Vorlage und in der Sache werden nachstehend zusammengefasst.
II.1 Zur Zulässigkeit der Vorlage
II.1.1 Die Vorlage betrifft die Entscheidung T 1063/18 der Technischen Beschwerdekammer 3.3.04 vom 5. Dezember 2018 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), der zufolge die geänderte Regel 28 (2) EPÜ im Widerspruch zu Artikel 53 b) EPÜ steht, wie er von der Großen Beschwerdekammer zuvor in den Entscheidungen G 2/12 (ABl. EPA 2016, A27) und G 2/13 (ABl. EPA 2016, A28), zusammen nachstehend als G 2/12 bezeichnet, ausgelegt worden ist. Die Kammer hatte Regel 28 (2) EPÜ als nicht relevant für die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ erachtet und sie gemäß Artikel 164 (2) EPÜ nicht berücksichtigt.
Die Kammer war somit der in G 2/12 getroffenen Auslegung des Patentierbarkeitsausschlusses nach Artikel 53 b) EPÜ gefolgt und hatte die Beschwerde des Anmelders gegen die Entscheidung der Prüfungsabteilung zugelassen, mit der diese die europäische Patentanmeldung Nr. 12756468.0 zurückgewiesen hatte, weil der Anspruchsgegenstand unter den Patentierbarkeitsausschluss nach Artikel 53 b) EPÜ und Regel 28 (2) EPÜ falle.
II.1.2 Der EPA-Präsident ist der Auffassung, dass der in T 1063/18 (s. o.) verfolgte Ansatz von der Rechtsprechung zur Umsetzung der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (nachstehend "EU-Biotechnologierichtlinie"; ABl. EU 1998 L 213/13; ABl. EPA 1999, 101) in das EPÜ abweicht. Insbesondere verweist der EPA-Präsident auf die Entscheidungen G 2/07 (ABl. EPA 2012, 130; s. auch G 1/08, ABl. EPA 2012, 206), T 315/03 (ABl. EPA 2006, 15, Nrn. 7.3 und 7.6 der Entscheidungsgründe), T 272/95 (vom 23. Oktober 2002, nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nr. 4 der Entscheidungsgründe), T 666/05 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nr. 75 der Entscheidungsgründe) und T 1213/05 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nr. 44 der Entscheidungsgründe).
Der Ansatz der Entscheidung T 39/93 (ABl. EPA 1997, 134), auf die in T 1063/18 (s. o.) verwiesen werde, sei in den vorgenannten Entscheidungen weder übernommen noch bestätigt worden, und in keiner dieser Entscheidungen werde es für ausschlaggebend nach Artikel 164 (2) EPÜ erachtet, ob eine Regel der Ausführungsordnung zum EPÜ (nachstehend "Ausführungsordnung") im Widerspruch zu einem Artikel des EPÜ stehe, so wie er von der Großen Beschwerdekammer in einer früheren Entscheidung ausgelegt worden sei. Somit weiche die Entscheidung T 1063/18 (s. o.) von der Rechtsprechung der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer ab. Vielmehr werde in den vorgenannten Entscheidungen zumindest implizit die Befugnis des Verwaltungsrats der Europäischen Patentorganisation (nachstehend "Verwaltungsrat" bzw. "EPO") anerkannt, die in Artikel 53 EPÜ verankerten Ausnahmen von der Patentierbarkeit durch eine Änderung der Ausführungsordnung nach Artikel 33 (1) c) EPÜ auszulegen. Die Befugnis des Verwaltungsrats zur Auslegung eines EPÜ-Artikels durch eine Vorschrift der Ausführungsordnung sei unabhängig von der Auslegung dieses Artikels durch die Große Beschwerdekammer und werde durch Artikel 164 (2) EPÜ nicht beschränkt.
II.1.3 Zusammenfassend bringt der EPA-Präsident vor, dass es Unterschiede in der Rechtsprechung zu der Frage gebe, ob für die Zwecke des Artikels 164 (2) EPÜ ein möglicher Widerspruch zwischen Artikel 53 EPÜ und der zur Klarstellung seiner Bedeutung und seines Umfangs erlassenen Regel 28 (2) EPÜ bestehe. Der von der Kammer in der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) festgestellte Widerspruch zwischen Regel 28 (2) EPÜ und Artikel 53 b) EPÜ sei die unmittelbare Folge des abweichenden Ansatzes, den die Kammer in diesem Fall bei der Prüfung nach Artikel 164 (2) EPÜ verfolgt habe.
Daher sei Frage 1 eindeutig zulässig, und die Zulässigkeit von Frage 2 sollte sich aus der Zulässigkeit von Frage 1 ergeben. Die Fragen stünden in direktem Zusammenhang, weil die Vereinbarkeit von Regel 28 (2) EPÜ mit Artikel 53 b) EPÜ davon abhänge, ob die frühere Auslegung dieses Artikels in der Entscheidung G 2/12 so verstanden werde, dass sie eine Klarstellung von Artikel 53 b) EPÜ durch den Verwaltungsrat ausschließe.
II.1.4 Sollte die Zulässigkeit der Frage 2 nicht bereits infolge der Zulässigkeit der Frage 1 anerkannt werden, so sei diese Frage durch analoge Anwendung des Artikels 112 (1) b) EPÜ als zulässig zu betrachten. In diesem Zusammenhang verweist der EPA-Präsident auf G 1/97 (ABl. EPA 2000, 322), G 2/02 (ABl. EPA 2004, 483), G 3/08 (ABl. EPA 2011, 10) und insbesondere auf G 4/98 (ABl. EPA 2001, 131, Nr. 1.2 der Begründung).
II.1.5 Ziel einer Vorlage nach Artikel 112 (1) b) EPÜ sei es, innerhalb des europäischen Patentsystems Rechtseinheit und Rechtssicherheit herzustellen. In diesem Zusammenhang diene das Kriterium "voneinander abweichende Entscheidungen" in Artikel 112 (1) b) EPÜ dazu, die Vorlage abstrakter Rechtsfragen zu verhindern. Die aktuelle Vorlage betreffe jedoch keine abstrakte, sondern eine konkrete Rechtsfrage, die sich gestellt habe oder in einer beträchtlichen Zahl anhängiger Verfahren stellen könnte, und zwar im Zusammenhang mit 18 anhängigen Beschwerden gegen Entscheidungen auf der Grundlage von Regel 28 (2) EPÜ sowie rund 250 Prüfungs- und 7 Einspruchsverfahren, in denen die Anwendung der Regel 28 (2) EPÜ entscheidend sei oder werden könnte. Somit sei die vorliegende Sachlage vergleichbar mit dem Fall der voneinander abweichenden Entscheidungen der Beschwerdekammern, für den der Gesetzgeber ein Vorlagerecht nach Artikel 112 (1) b) EPÜ vorgesehen habe.
II.1.6 Das Vorlagerecht des EPA-Präsidenten, das bei voneinander abweichenden Auslegungen des EPÜ in zwei Kammerentscheidungen mit Inter-partes-Wirkung bestehe, müsse erst recht dann gelten, wenn die Auslegung eines Artikels des EPÜ (d. h. Artikel 53 b) EPÜ) in einer einzelnen Kammerentscheidung von der Umsetzung des Artikels (d. h. seiner Auslegung) mit Erga-omnes-Wirkung in einer Regel des EPÜ (d. h. Regel 28 (2) EPÜ) abweiche.
Aus der Funktion der Großen Beschwerdekammer als höchste gerichtliche Instanz des EPA (G 2301/16, nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nr. 42 der Entscheidungsgründe) folge, dass diese für Entscheidungen und Stellungnahmen zu Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zuständig sei, um die einheitliche Rechtsanwendung sicherzustellen. Eine solche Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stelle sich in der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) und bedürfe der Klarstellung durch die Große Beschwerdekammer. Eine neue Vorlage an die Große Beschwerdekammer sei in Anbetracht der Rechtsentwicklung seit Ergehen ihrer früheren Entscheidung G 2/12 (s. o.) (s. T 297/88, nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nr. 2.4 der Entscheidungsgründe) notwendig und angemessen. Die Rechtsentwicklung und Verwaltungspraxis im Anschluss an G 2/12, auf die sich der EPA-Präsident stützt, werden nachstehend in der Begründung der Stellungnahme behandelt.
II.1 Zum Inhalt der Vorlage
II.2.1 Frage 1 sei zu bejahen. Der richtige Ansatz nach Artikel 164 (2) EPÜ bei der Prüfung der Vereinbarkeit einer Regel des EPÜ, die Artikel 53 EPÜ umsetze, sei derjenige der Entscheidungen J 20/84 (ABl. EPA 1987, 95, Nr. 5 der Entscheidungsgründe), J 16/96 (ABl. EPA 1998, 347, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe), T 272/95 (s. o., Nr. 4 der Entscheidungsgründe), T 315/03 (s. o., Nrn. 5.1 und 7.7 der Entscheidungsgründe), T 991/04 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht, Nr. 6 der Entscheidungsgründe), T 666/05 (s. o., Nr. 75 der Entscheidungsgründe), T 1213/05 (s. o., Nr. 44 der Entscheidungsgründe), G 9/93 (ABl. EPA 1994, 891, Nr. 6 der Entscheidungsgründe), G 2/06 (ABl. EPA 2009, 306, Nr. 13 der Entscheidungsgründe), G 2/07 (s. o., Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe) und G 2/08 (ABl. EPA 2010, 456, Nr. 7.1.4 der Entscheidungsgründe). Nach dem in diesen Entscheidungen verfolgten Ansatz werde eine Regel, die die Bedeutung und den Umfang von Artikel 53 EPÜ klarstelle, nicht von vornherein durch die frühere Rechtsprechung der Beschwerdekammern oder der Großen Beschwerdekammer beschränkt. Daraus zieht der EPA-Präsident folgende Schlüsse:
a) Der Verwaltungsrat sei nach Artikel 33 (1) c) EPÜ befugt, Artikel 53 EPÜ durch Auslegung und Klarstellung von dessen Bedeutung umzusetzen.
b) Artikel 164 (2) EPÜ biete keine Grundlage dafür, eine Auslegung und Umsetzung des Artikels 53 EPÜ durch den Verwaltungsrat von vornherein auszuschließen oder zu beschränken, weil diese von einer früheren Auslegung dieses Artikels durch die Große Beschwerdekammer abweiche.
c) Die Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer hätten zwar auf der Grundlage von Artikel 21 VOBK 2020 faktische Bindungswirkung, schlössen aber nicht als solche eine Weiterentwicklung des Rechts oder seiner Auslegung aus.
d) Bei der Auslegung eines Artikels des EPÜ hätten die Beschwerdekammern alle relevanten Auslegungselemente zu beachten, einschließlich einer Änderung der Ausführungsordnung durch den Verwaltungsrat.
II.2.2 Frage 2 sei aus den folgenden Gründen ebenfalls zu bejahen:
a) Aus G 2/12 (s. o.) könne Folgendes geschlossen werden:
i. Artikel 53 b) EPÜ erlaube nicht ausdrücklich die Patentierbarkeit von Pflanzen oder Tieren, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen werden;
ii. Artikel 53 b) EPÜ lasse grundsätzlich unterschiedliche Auslegungen zu, was den Umfang des Patentierbarkeitsausschlusses betreffe;
iii. Artikel 53 b) EPÜ lasse Raum für weitere Klarstellungen durch Ausführungsvorschriften.
b) In Anbetracht dieser Schlussfolgerungen falle es unter die Befugnisse des Verwaltungsrats nach Artikel 33 (1) c) EPÜ, eine Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ im Einklang mit der EU-Biotechnologierichtlinie vorzunehmen, wie sie in der Mitteilung der EU-Kommission über die Auslegung bestimmter Artikel der EU-Biotechnologierichtlinie (ABl. EU 2016, C 411/3, nachstehend "Kommissionsmitteilung") ausgelegt werde.
c) Mit der Aufnahme der Regel 28 (2) EPÜ habe der Verwaltungsrat eine Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ getroffen, die mit der gesetzgeberischen Absicht im Einklang stehe, die sich aus der Übernahme der EU-Biotechnologierichtlinie in das EPÜ ergebe.
d) Sowohl Regel 28 (2) EPÜ selbst als auch die rechtlichen Entwicklungen und Verwaltungspraktiken in den Vertragsstaaten seit G 2/12 (s. o.) ließen den Schluss zu, dass Regel 28 (2) EPÜ für die Zwecke des Artikels 164 (2) EPÜ insofern als mit Artikel 53 b) EPÜ vereinbar zu betrachten sei, als Artikel 53 b) EPÜ im Lichte der Regel 28 (2) EPÜ so auszulegen sei, dass er auch die Erzeugnisse von im Wesentlichen biologischen Verfahren von der Patentierbarkeit ausschließe.
Stellungnahmen Dritter (Amicus-curiae-Schriftsätze)
III. Mit einer im Amtsblatt des EPA veröffentlichten Mitteilung (ABl. EPA 2019, A52) gab die Große Beschwerdekammer Dritten Gelegenheit, schriftliche Stellungnahmen nach Artikel 10 VOGBK einzureichen. Die folgenden Amicus-curiae-Schriftsätze gingen ein, die auf der Website der Großen Beschwerdekammer (www.epo.org/law-practice/case-law-appeals/eba_de.html) veröffentlicht wurden:
1) G. König, König Szynka Tilmann, von Renesse Patentanwälte Partnerschaft mbH, Düsseldorf/München (KSVR), Patentanwälte – 24. Mai 2019;
2) Portugiesisches Institut für gewerblichen Rechtsschutz (PT) – 22. Mai 2019;
3) Dirk Peter – 17. August 2019;
4) Elisabeth Albrecht – 4. September 2019;
5) Schriftliche Erklärungen in standardisierter Form von 23 052 natürlichen Personen über Umweltinstitut München e. V. (UIM);
6) Spanisches Patent- und Markenamt (ES) – 16. September 2019;
7) Bundesregierung der Bundesrepublik Deutschland (DE) – 10. September 2019;
8) Bundesverband Deutscher Pflanzenzüchter (BDP) – datiert vom 17. September 2019;
9) Eric Alasdair Kennington – 18. September 2019;
10) Euroseeds – 20. September 2019;
11) Maximilian Haedicke – 23. September 2019;
12) DeltaPatents – datiert vom 23. September 2019;
13) Amt für gewerblichen Rechtsschutz der Tschechischen Republik (CZ) – 20. September 2019;
14) L. J. Steenbeek – 24. September 2019;
15) Julian Cockbain – 24. September 2019 und 2. November 2019 unter Bezugnahme auf Sigrid Stercks/Julian Cockbain, Exclusions from Patentability, Cambridge University Press 2012 (ISBN 978-1-107-54262-4), Seiten 5 bis 8, 17 und 18 von Kapitel 7 und Kapitel 9;
16) König, Szynka, Tilmann, von Renesse (KSVR), Patentanwälte – 24. September 2019;
17) Belgisches Amt für geistiges Eigentum (BE) – 24. September 2019;
18) Internationale Föderation von Patentanwälten (FICPI) – 25. September 2019;
19) Österreichisches Patentamt (AT) – 26. September 2019;
20) Europäischer Verband der Industrie-Patentanwälte (FEMIPI) – 26. September 2019;
21) Patentamt der Republik Polen (PL) – 26. September 2019;
22) Königreich der Niederlande (NL) – 26. September 2019;
23) IP Federation (IPF) – 27. September 2019;
24) Vereinigung von Fachleuten des Gewerblichen Rechtsschutzes (VPP) – 27. September 2019;
25) Nationales Institut für geistiges Eigentum (FR) – 27. September 2019;
26) No patents on seeds! (NPS) – 30. September 2019;
27) Von 49 Organisationen und 2 725 Einzelpersonen unterzeichnete Erklärung (gemeinsame Erklärung) – 30. September 2019;
28) Peter de Lange – 30. September 2019;
29) Dänische Regierung (DK) – 30. September 2019;
30) Axel Metzger, Herbert Zech und Charlotte Vollenberg (Metzger/Zech/Vollenberg) – 30. September 2019;
31) Fritz Dolder – 30. September 2019;
32) Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter (epi) – 30. September 2019;
33) Plantum – 30. September 2019;
34) CropLife International und European Crop Protection Association (ECPA) – 30. September 2019;
35) Intellectual Property Owners Association (IPO) – 30. September 2019;
36) Chartered Institute of Patent Attorneys (CIPA) – 30. September 2019;
37) Thomas Leconte – 1. Oktober 2019;
38) International Association of Horticultural Producers (AIPH) – 1. Oktober 2019;
39) Compagnie Nationale des Conseils en Propriété Industrielle (CNCPI) – 1. Oktober 2019;
40) Europäische Kommission (EU-Kommission) – 1. Oktober 2019;
41) Olaf Malek, Vossius & Partner (VP) – 21. Oktober 2019.
III.1 Erklärungen zur Zulässigkeit der Vorlage
III.1.1 Einige Dritte erachteten die Vorlage entweder ausdrücklich oder – durch ihr Vorbringen in der Sache – implizit für zulässig. Zu dieser Gruppe gehörten öffentliche Institutionen und Regierungsbehörden (AT, BE, CZ, DE, DK, ES, FR, NL, PL, PT), die EU-Kommission, Pflanzenzüchterverbände (BDP, Euroseeds, Plantum), Nichtregierungsorganisationen (NPS), Rechtsexperten und Einzelpersonen (Dolder, Metzger/Zech/Vollenberg).
Erstens seien innerhalb des Gebiets der biotechnologischen Erfindungen Entscheidungen auf dem Gebiet der Pflanzen immer von derselben Technischen Beschwerdekammer getroffen worden. Infolgedessen sei die Bedingung "zwei Beschwerdekammern" nie erfüllbar. Es könne jedoch nicht die Absicht des Gesetzgebers gewesen sein, den EPA-Präsidenten daran zu hindern, der Großen Beschwerdekammer eine Rechtsfrage vorzulegen, die das Gebiet der biotechnologischen Erfindungen betreffe. Dies würde die Vorschrift ihres "effet utile" berauben und wäre zudem eine ungerechtfertigte Ungleichbehandlung eines Gebiets der Technik.
Zweitens lägen "voneinander abweichende Entscheidungen" im Sinne des Artikels 112 (1) b) EPÜ vor, denn die Entscheidung T 1063/18 (s. o.) stehe der früheren Entscheidung derselben Beschwerdekammer in der Sache T 1208/12 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) entgegen, die sich auf einige der in der Entscheidung G 1/98 der Großen Beschwerdekammer (ABl. EPA 2000, 111) dargelegten zentralen Grundsätze stützte. Dass diese Argumentation in der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) noch nicht einmal erwähnt worden sei, habe dazu geführt, dass die Beschwerdekammer in unterschiedlicher Zusammensetzung abweichende Entscheidungen zu derselben grundsätzlichen Rechtsfrage getroffen habe, nämlich zum Umfang des Patentierbarkeitsausschlusses nach Artikel 53 b) EPÜ.
Drittens bestehe der Zweck des Artikels 112 (1) b) EPÜ darin, die einheitliche Anwendung des EPÜ sicherzustellen und Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung zu klären. Der Vorlage liege die Notwendigkeit zugrunde, Klarheit über die mögliche Auswirkung der Rechtsentwicklung nach G 2/12 (s. o.) auf die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ zu erlangen.
III.1.2 Andere Dritte erachteten die Vorlage entweder ausdrücklich oder zumindest implizit für unzulässig. Dazu gehörten Patentanwälte, Patentanwaltsverbände und -sozietäten (O. Malek, CIPA, CNCPI, DeltaPatents, FEMIPI, FICPI, KSVR), Interessengruppen und Verbände (ECPA, IPF, VPP), Rechtsexperten und Einzelpersonen (M. Haedicke, L. J. Steenbeek).
a) Allgemein
Die Vorlage sei nicht durch voneinander abweichende oder gar widersprüchliche Entscheidungen der Beschwerdekammern gerechtfertigt. Sie betreffe keine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) EPÜ, sondern sei vielmehr eine politische Initiative des EPA-Präsidenten und des Verwaltungsrats und verletze die Bindungswirkung von Entscheidungen der Kammern im Allgemeinen und der Großen Beschwerdekammer im Besonderen. Keine der in der Vorlage angeführten Entscheidungen beziehe sich tatsächlich auf die Rechtsfrage, die in der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) konkret behandelt werde, d. h. die Gültigkeit der Regel 28 (2) EPÜ nach Artikel 53 b) EPÜ. Somit bestehe kein Widerspruch zwischen der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) und der früheren Rechtsprechung.
b) Zu Frage 1
Es wurde vorgebracht, dass die Unzulässigkeit der Frage 1 nicht daher rühre, dass es Rechtsprechung gebe, die im Widerspruch zu T 1063/18 (s. o.) stehe. Frage 1 beziehe sich nur rein formal, aber nicht inhaltlich auf diese Entscheidung. Damit die Frage das wiedergebe, was tatsächlich entschieden worden sei, müsse sie zu der Frage umformuliert werden, ob Regel 28 (2) EPÜ mit Artikel 164 (2) EPÜ vereinbar sei. Es gebe jedoch keine voneinander abweichenden Entscheidungen der Beschwerdekammern zu diesem Punkt, wie es Artikel 112 (1) b) EPÜ erfordere.
Ferner beziehe sich Frage 1 de facto auf eine abstrakte Rechtsfrage, die als solche eine Vorlage nach Artikel 112 (1) b) EPÜ nicht rechtfertigen könne.
c) Zu Frage 2
Da Frage 1 unzulässig sei, könne sie nicht als Grundlage für die angebliche Zulässigkeit der Frage 2 dienen; diese sei also ebenfalls unzulässig.
Da Frage 2 speziell auf Artikel 53 b) EPÜ und Regel 28 (2) EPÜ abziele und es außer T 1063/18 (s. o.) keine weitere Entscheidung in dieser Sache gebe, liege kein Widerspruch zu einer anderen Entscheidung vor, der die Vorlage rechtfertigen könnte. Frage 2 sei von der Großen Beschwerdekammer bereits in der Entscheidung G 2/12 (s. o.) ausführlich beantwortet worden, und dies lasse keinen Raum für eine andere Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ.
Artikel 112 (1) b) EPÜ könne nicht analog angewandt werden, um Frage 2 zulässig zu machen. In Artikel 112 (1) EPÜ werde ausdrücklich zwischen Vorlagen einer Beschwerdekammer (Buchstabe a) und Vorlagen des EPA-Präsidenten (Buchstabe b) unterschieden. Diese unterlägen unterschiedlichen Erfordernissen, die für den EPA-Präsidenten restriktiver seien als für eine vorlegende Beschwerdekammer. Ihre unterschiedliche Ausgestaltung und Rechtsnatur schlössen eine Lockerung der spezifischen Anforderungen an eine präsidiale Vorlage durch analoge Anwendung aus.
III.2 Erklärungen zum Inhalt der Vorlagefragen
III.2.1 Erklärungen zugunsten einer von G 2/12 abweichenden Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ
Eine Reihe Dritter, insbesondere öffentliche Institutionen und Regierungsbehörden (AT, BE, CZ, DE, DK, ES, FR, NL, PL, PT), die EU-Kommission, Pflanzenzüchterverbände (AIPH, BDP, Euroseeds, Plantum), Nichtregierungsorganisationen (NPS), Rechtsexperten und Einzelpersonen (Dolder, Metzger/Zech/Vollenberg), brachten vor, dass die beiden der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen zu bejahen seien.
a) Allgemein
In der Entscheidung G 2/12 (s. o.) sei Artikel 53 b) EPÜ falsch ausgelegt worden. Aus der gesetzgeberischen Absicht, Verfahren zur Züchtung von Pflanzen und Tieren vom Patentschutz auszuschließen, folge, dass auf ein durch ein solches Verfahren gewonnenes Erzeugnis kein Patent erteilt werden könne und dass derartige Erzeugnisse somit unter die Ausnahmen von der Patentierbarkeit nach Artikel 53 b) EPÜ fielen.
b) Zu Frage 1
Es wurde vorgebracht, dass die Schlussfolgerungen der Großen Beschwerdekammer in G 2/12 (s. o.) den Verwaltungsrat nicht daran hinderten, zu einem späteren Zeitpunkt zu einer alternativen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ zu gelangen. In Anbetracht der mangelnden Klarheit des Artikels 53 b) EPÜ sei es Sache des Gesetzgebers zu entscheiden, wie diese Vorschrift auszulegen sei. Der Verwaltungsrat sei nach Artikel 33 (1) c) EPÜ befugt, durch eine Änderung der Ausführungsordnung Einzelheiten des EPÜ klarzustellen, um sie mit der EU-Gesetzgebung in Einklang zu bringen. Mit der Änderung der Regel 28 EPÜ sei der Verwaltungsrat im Rahmen des EPÜ geblieben und habe eine bindende Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ getroffen. Nach Artikel 33 (1) b) EPÜ könne der Verwaltungsrat zwar auch Artikel 53 b) EPÜ ändern, doch wäre diese Lösung weniger wünschenswert als eine Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ entsprechend der Regel 28 (2) EPÜ.
Zu Artikel 164 (2) EPÜ wurden im Wesentlichen zwei Argumentationslinien vorgetragen:
Erstens: Da Artikel 164 (2) EPÜ keine Aussagen zu Entscheidungen der Beschwerdekammern enthalte und in Anbetracht der Tatsache, dass die einzelnen Beschwerdekammern und nationalen Gerichte zu voneinander abweichenden Auslegungen ein und derselben EPÜ-Vorschrift gelangen könnten, dürfe und sollte eine Klarstellung von Vorschriften des EPÜ in der Ausführungsordnung nicht durch eine von einer einzigen Kammer vorgenommene Auslegung beschränkt werden.
Zweitens: Selbst wenn eine geänderte Regel der Ausführungsordnung in offensichtlichem Widerspruch zu der vor Inkrafttreten dieser geänderten Regel in der Rechtsprechung getroffenen Auslegung eines EPÜ-Artikels stehe, sei dies nicht als mangelnde Übereinstimmung im Sinne des Artikels 164 (2) EPÜ zu betrachten.
c) Zu Frage 2
Sowohl die Regel 28 (2) EPÜ als auch die verschiedenen Gesetzgebungs- und sonstigen Initiativen in einer Reihe von Vertragsstaaten und in der EU seit 2015 gälten als "spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen" im Sinne von Artikel 31 (3) a) des Wiener Übereinkommens.
Für die Zwecke der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ sollte die Kommissionsmitteilung berücksichtigt werden, sowohl um die tatsächliche Absicht des Gesetzgebers der EU-Biotechnologierichtlinie zu ermitteln als auch um der darauf folgenden Anpassung der nationalen Gesetze an diese Mitteilung Rechnung zu tragen. Dies bedeute nicht, dass es einen Widerspruch zwischen Regel 28 (2) EPÜ und Artikel 53 b) EPÜ gebe. Vielmehr habe der Änderung der Regel 28 EPÜ die Absicht der Vertragsstaaten zugrunde gelegen, dass die in dieser Regel zum Ausdruck gebrachte Auslegung als ergänzendes Auslegungsmittel nach Regel 26 (1) EPÜ zu Artikel 53 b) EPÜ herangezogen werden sollte. Die durch die neue Regel 28 (2) EPÜ erfolgte Klarstellung stehe auch im Einklang mit dem Grundprinzip, dass das Patentrecht der Vertragsstaaten harmonisch auszulegen und anzuwenden ist.
Deshalb sei jedes Erzeugnis, ob Pflanze, Tier oder Teile derselben, das durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werde, vom Patentschutz ausgeschlossen.
d) Sonstige Anmerkungen
Ein Dritter (J. Cockbain) ersuchte die Große Beschwerdekammer "eindringlich", ihre Entscheidung G 1/98 (s. o.) dahin gehend zu korrigieren, dass Artikel 53 b) EPÜ so zu verstehen sei, dass er sortenechte Pflanzen von der Patentierbarkeit ausschließe und Regel 28 (2) EPÜ somit rechtswirksam sei.
III.2.2 Erklärungen gegen eine von G 2/12 abweichenden Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ
Eine Reihe von Dritten, darunter Patentanwälte, Patentanwaltsverbände und -sozietäten (E. A. Kennington, T. Leconte, O. Malek, CIPA, CNCPI, DeltaPatents, FEMIPI, FICPI, KSVR), Interessengruppen und Verbände (ECPA, IPF, VPP), Rechtsexperten und Einzelpersonen (M. Haedicke, L. J. Steenbeek) brachten vor, dass die beiden der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen zu verneinen seien.
a) Allgemein
Artikel 53 b) EPÜ sei insofern klar formuliert, als er nur drei verschiedene Gegenstände vom Patentschutz ausschließe: Pflanzensorten, Tierrassen sowie im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren. Alles, was nicht aufgeführt sei, wie durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnene Pflanzen und Tiere, sei grundsätzlich patentfähig. Somit lasse das einschlägige Recht keinen Spielraum für Auslegungen.
Da die Kommissionsmitteilung nur die Anwendung der EU-Biotechnologierichtlinie unterstützen solle, könne sie nicht den Verwaltungsrat zur Änderung des EPÜ ermächtigen. Sie habe schon innerhalb der EU-Gerichtsbarkeit keine Rechtskraft und umso weniger nach dem EPÜ. Die bloße Tatsache allein, dass EU-Institutionen und der Verwaltungsrat es für politisch wünschenswert hielten, ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnene Pflanzen oder Tiere von der Patentierbarkeit auszuschließen, führe nicht zu einer Änderung des Rechts. Auch ohne die Entscheidung G 2/12 (s. o.) wäre es rechtlich nicht möglich gewesen, die Regel 28 (2) EPÜ zu erlassen.
b) Zu Frage 1
Mit Regel 28 (2) EPÜ werde versucht, die Bedeutung von Artikel 53 b) EPÜ zu ändern, und nicht, sie klarzustellen. Es sei ein anerkannter Rechtsgrundsatz, dass Normenhierarchien nicht umgekehrt werden dürften und Primärrecht nicht durch Sekundärrecht geändert werden könne, es sei denn, eine ausdrückliche gesetzliche Vorschrift gestatte dies. In der Ausführungsordnung könnten nur Bedeutung und Umfang eines Artikels des EPÜ klargestellt werden, und dies nur im Einklang mit der Auslegung dieses Artikels durch eine frühere Entscheidung der Großen Beschwerdekammer.
Das EPÜ ermächtige sowohl die Beschwerdekammern als auch den Verwaltungsrat zur Auslegung der Artikel des EPÜ. Artikel 33 und 164 (2) EPÜ beschränkten jedoch die entsprechende Befugnis des Verwaltungsrats. Als Exekutivorgan mit bestimmten "rechtsetzenden" und nicht gesetzgebenden Befugnissen (M. Haedicke) sei der Verwaltungsrat nicht befugt, das Übereinkommen durch die Aufnahme oder Änderung von Ausführungsvorschriften auszulegen, die im Widerspruch zu Artikeln des EPÜ stünden. Bei einem Widerspruch zwischen einer Regel und einem Artikel des EPÜ verhindere die Beschränkung der Befugnis des Verwaltungsrats folglich, dass Letzterer eine frühere Auslegung des Artikels durch die Große Beschwerdekammer – die Judikative nach dem EPÜ – aufhebe. Ansonsten liefe Artikel 164 (2) EPÜ ins Leere, denn eine neue oder geänderte Regel würde immer bewirken, dass der Artikel soweit geändert würde, dass jeder Widerspruch aufgelöst wäre. Dies würde die Gewaltenverteilung innerhalb der EPO zuungunsten der Judikative verschieben. Vielmehr müssten der Grundsatz der Gewaltenteilung und die Pflicht zu Loyalität bzw. loyaler Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Gewalten nach dem EPÜ beachtet werden. Deshalb sei der Rechtsprechung Vorrang bei der Auslegung des EPÜ zu geben.
Eine Bejahung der Frage 1 stünde somit im Widerspruch zu der eingeschränkten Befugnis des Verwaltungsrats nach Artikel 33 (1) c) EPÜ, Artikel des EPÜ nur innerhalb der Grenzen des Artikels 164 (2) EPÜ auszulegen. Sie würde sogar dazu führen, dass der Verwaltungsrat mit Befugnissen ausgestattet würde, die nach Artikel 172 EPÜ einer Diplomatischen Konferenz vorbehalten seien.
Die Entwicklungen in der EU und den Vertragsstaaten, auf die sich die Vorlage stütze, änderten nichts am Rechtsrahmen nach der Entscheidung G 2/12 (s. o.), weil sie entweder nicht gesetzgebend und somit nicht bindend (EU) seien oder weil sie nicht alle Vertragsstaaten beträfen.
c) Zu Frage 2
Artikel 53 b) EPÜ sei eine eigenständige Vorschrift, deren Bedeutung und Umfang nicht durch eine Regel der Ausführungsordnung geändert werden könnten und die insbesondere nicht zulasse, dass die Bedeutung und der Umfang von Patentierbarkeitsausschlüssen erweitert würden.
Da Artikel 52 (1) EPÜ den allgemeinen Grundsatz der Patentierbarkeit von Erfindungen auf allen Gebieten der Technik vorsehe und jede Beschränkung dieser allgemeinen Regel eine klare Rechtsgrundlage im EPÜ erfordere, könne der Erlass der Regel 28 (2) EPÜ nichts an der in G 2/12 (s. o.) getroffenen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ ändern und ändere daran auch nichts. Der Ausgang der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) erfordere entweder, dass der Verwaltungsrat Regel 28 (2) EPÜ streiche oder dass die Vertragsstaaten Artikel 53 b) EPÜ änderten. Es bestehe jedoch derzeit keine Notwendigkeit einer solchen Änderung, die künftige Entwicklungen von Züchtungsverfahren einschränken würde. Ohne eine Änderung des EPÜ sei Regel 28 (2) EPÜ gemäß Artikel 164 (2) EPÜ außer Acht zu lassen.
III.3 Erklärungen allgemeinerer Art
Eine Reihe von Dritten (E. Albrecht, gemeinsame Erklärung, D. Peter, UIM) äußerte allgemeine Bedenken über die Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen und beanstandete die institutionelle Struktur und den rechtlichen Status der EPO.
Ein Dritter (P. de Lange) nahm nur zu einigen institutionellen Fragen im Rahmen der ersten Frage Stellung und befasste sich weder direkt mit der Frage der Zulässigkeit der Vorlage noch damit, wie die Vorlagefragen beantwortet werden sollten.
Ein anderer Dritter (epi) schlug zwar keine bestimmte Antwort auf die Vorlagefragen oder ihre Zulässigkeit vor, wies jedoch auf die Unterschiede zwischen der engen Auslegung von "im Wesentlichen biologischen Verfahren" in Artikel 2 (2) der EU-Biotechnologierichtlinie und der breiteren Definition in den Entscheidungen G 2/07 und G 1/08 (s. o.) hin. Ferner wurde die Große Beschwerdekammer ersucht, zum Schutz des Vertrauens in die Rechtsprechung, d. h. in ihre früheren Entscheidungen, Übergangsmaßnahmen zu prüfen.
Verlauf des Verfahrens vor der Großen Beschwerdekammer
IV. Da diesem Verfahren eine Vorlage des EPA-Präsidenten nach Artikel 112 (1) b) zugrunde liegt, gibt es keine Beteiligten am Verfahren vor der Großen Beschwerdekammer.
Nach Prüfung der Begründung des EPA-Präsidenten für seine Vorlage sowie der verschiedenen Erklärungen Dritter nach Artikel 10 (1) VOGBK erlässt die Große Beschwerdekammer nun ihre Stellungnahme zu der ihr vorgelegten Rechtsfrage im schriftlichen Verfahren ohne vorherige mündliche Verhandlung.
BEGRÜNDUNG DER STELLUNGNAHME
Relevante Rechtsnormen
I. Insbesondere wird verwiesen auf:
Artikel 112 (1) b) EPÜ Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer;
Artikel 53 b) EPÜ Ausnahmen von der Patentierbarkeit;
Regel 26 (1) und (5) EPÜ Allgemeines und Begriffsbestimmungen, entspricht Regel 23b (1) und (5) EPÜ 1973, die durch Beschluss des Verwaltungsrats vom 16. Juni 1999 in die Ausführungsordnung aufgenommen wurde und am 1. September 1999 in Kraft trat (ABl. EPA 1999, 437);
Regel 27 b) EPÜ Patentierbare biotechnologische Erfindungen, in der durch Beschluss des Verwaltungsrats CA/D 6/17 vom 29. Juni 2017 (ABl. EPA 2017, A56) geänderten Fassung, die seit 1. Juli 2017 in Kraft ist;
Regel 28 (2) EPÜ Ausnahmen von der Patentierbarkeit, aufgenommen durch Beschluss des Verwaltungsrats CA/D 6/17 vom 29. Juni 2017 (ABl. EPA 2017, A56) und seit 1. Juli 2017 in Kraft;
Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (Wiener Übereinkommen);
Artikel 1 bis 4 der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (EU-Biotechnologierichtlinie, ABl. EU 1998 L 213/13; ABl. EPA 1999, 101).
Umfang und Schwerpunkt der Vorlage
II. Bevor die Vorlage auf ihre Zulässigkeit geprüft und in der Sache behandelt wird, müssen zunächst Umfang und Schwerpunkt der Vorlagefragen und deren Begründung analysiert werden. Formal betrifft die Vorlage zwei Punkte: erstens den Umfang der Befugnis des Verwaltungsrats, Regeln der Ausführungsordnung zu erlassen oder zu ändern, um einer Auslegung eines EPÜ-Artikels Wirkung zu verleihen, die sich von dessen Auslegung in einer früheren Entscheidung der Beschwerdekammern oder der Großen Beschwerdekammer unterscheidet (Frage 1); zweitens die richtige Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ nach Erlass der Regel 28 (2) EPÜ, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnene Pflanzen und Tiere von der Patentierbarkeit ausschließt (Frage 2).
II.1 Frage 1 ist eher allgemein formuliert und bezieht sich auf das abstrakte Rechtskonzept des Verhältnisses zwischen dem EPÜ und seiner Ausführungsordnung. Sie richtet den Fokus auf die Auslegung des EPÜ einerseits durch die Große Beschwerdekammer in Ausübung ihrer gerichtlichen Funktion nach den Artikeln 22 (1) a) und b) und 112 (1) EPÜ (gerichtliche Auslegung) und andererseits durch einen Beschluss des Verwaltungsrats als regelsetzendes Organ, das nach Artikel 33 (1) c) EPÜ zum Erlass von Ausführungsvorschriften befugt ist (regulatorische Auslegung).
Somit betrifft Frage 1 den Grundsatz der Normenhierarchie, wobei die Artikel des EPÜ Primärrecht und die Ausführungsordnung Sekundärrecht sind. Ferner befasst sie sich mit der Verteilung der Zuständigkeiten nach dem EPÜ, soweit es darum geht, welches Organ befugt ist, das EPÜ verbindlich auszulegen; für diesen Aspekt ist auch die Doktrin der Gewaltenteilung relevant, die allen Vertragsstaaten bekannt ist und auch das EPÜ prägt.
II.2 Frage 2, die so formuliert ist, dass sie von der Bejahung der Frage 1 abhängt, betrifft die Vereinbarkeit von Regel 28 (2) EPÜ mit Artikel 53 b) EPÜ.
Gefragt wird darin, ob ein Widerspruch zwischen einer späteren Ausführungsvorschrift, d. h. Regel 28 (2) EPÜ, und der früheren höherrangigen Vorschrift des Übereinkommens, mit der sie verknüpft ist, d. h. Artikel 53 b) EPÜ, besteht.
II.3 Der Vorlage des EPA-Präsidenten zufolge sei in T 1063/18 (s. o.) zu Unrecht festgestellt worden, dass Regel 28 (2) EPÜ im Widerspruch zu Artikel 53 b) EPÜ stehe, wie er von der Großen Beschwerdekammer in G 2/12 (s. o.) ausgelegt worden sei, und dass in Anbetracht des Artikels 164 (2) EPÜ die Vorschriften des Übereinkommens Vorrang hätten (Nr. 46 der Entscheidungsgründe). Im Gegensatz dazu bringt der EPA-Präsident Folgendes vor:
i. Der Wortlaut des Artikels 53 b) EPÜ lasse unterschiedliche Auslegungen zu, und in G 2/12 habe die Große Beschwerdekammer festgestellt, dass dieser Artikel die Patentierbarkeit von ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnenen Pflanzen oder Pflanzenmaterialien nicht ausdrücklich anerkenne (Nrn. 71 bis 75 der Vorlage).
ii. Artikel 53 b) EPÜ sei im Lichte der Regel 28 (2) EPÜ und mit dem in dieser Regel ausdrücklich vorgegebenen Ergebnis auszulegen, die eine zulässige Klarstellung von Bedeutung und Umfang des Artikels 53 b) EPÜ enthalte (Nrn. 76 und 77 der Vorlage).
iii. Die Berücksichtigung der Absicht des EU-Gesetzgebers werde durch die Entscheidung G 2/12 nicht blockiert (Nr. 93 der Vorlage).
iv. In Anbetracht der Absicht des EU-Gesetzgebers (Nrn. 85 bis 92 der Vorlage) und der Absicht des EPÜ-Gesetzgebers, die durch die Übernahme der EU-Biotechnologierichtlinie in das EPÜ belegt werde (Nrn. 78 bis 84 der Vorlage), sei Artikel 53 b) EPÜ so auszulegen, dass die Erzeugnisse von im Wesentlichen biologischen Verfahren von der Patentierbarkeit ausgeschlossen seien (Nrn. 94 bis 98 der Vorlage).
v. Auf der Grundlage dieser Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ und in Anbetracht der späteren Übereinkunft und Übung der Vertragsstaaten stehe Regel 28 (2) EPÜ voll und ganz mit Artikel 53 b) EPÜ in Einklang (Nrn. 99 bis 111 der Vorlage).
vi. Im Hinblick auf Artikel 164 (2) EPÜ sei Regel 28 (2) EPÜ mit Artikel 53 b) EPÜ vereinbar (Nr. 112 der Vorlage).
II.4 Während die erste Frage formal zwei Aspekte betrifft, nämlich die Verteilung der Zuständigkeiten nach dem EPÜ für die Bestimmung des rechtlichen Gehalts eines Artikels des Übereinkommens und die Frage der Normenhierarchie, lässt die zweite Frage keinen Zweifel daran, was der eigentliche Zweck der Vorlage des EPA-Präsidenten ist. Die Große Beschwerdekammer wird damit ersucht, ihre Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ in der Entscheidung G 2/12 (s. o.) zu überprüfen und letztlich aufzugeben und die Ausnahme von der Patentierbarkeit in dem Sinne neu auszulegen, dass Regel 28 (2) EPÜ eine abschließende Auslegung des rechtlichen Umfangs dieses Artikels vorgibt.
II.5 Der Wortlaut der Frage 1 ist zu allgemein und unspezifisch, da er eine institutionelle Angelegenheit behandelt, die weit über den eigentlichen Gegenstand der Vorlage hinausgeht. So wie die Frage formuliert ist, verlangt sie nach einer Beantwortung mit Ja oder Nein, die jedes erdenkliche Szenario abdecken würde, das sich aus einem regulatorischen Versuch ergeben könnte, den rechtlichen Gehalt einer Vorschrift des Primärrechts, d. h. eines Artikels des EPÜ, durch Sekundärrecht, d. h. eine Regel der Ausführungsordnung, zu gestalten. Tatsächlich würde das in der ersten Frage angelegte Szenario – logisch zu Ende gedacht – dem Verwaltungsrat als dem durch das EPÜ zum Erlass der Ausführungsordnung befugten Organ freie Hand geben, von der ständigen Rechtsprechung abzuweichen und jedem Artikel des EPÜ mittels der Ausführungsvorschriften eine bestimmte Bedeutung zu verleihen. Damit würde der Möglichkeit Tür und Tor geöffnet, die vorgeschriebenen Verfahren zur Änderung des Übereinkommens selbst, nämlich durch eine Diplomatische Konferenz nach Artikel 172 EPÜ oder durch einstimmigen Beschluss des Verwaltungsrats nach den Artikeln 33 (1) b) und 35 (3) EPÜ, zu umgehen.
Deshalb muss die erste Frage neu formuliert werden, um den eigentlichen Gegenstand der Vorlage wiederzugeben.
II.6 Frage 2 enthält bereits in kaum verhüllter Form die angestrebte Antwort, indem sie besagt, dass Artikel 53 b) EPÜ die Patentierbarkeit von ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnenen Pflanzen und Tieren "weder ausdrücklich ausschließt noch ausdrücklich erlaubt".
Deshalb ist auch die zweite Frage neu zu formulieren, um sicherzustellen, dass sie nicht von der Meinung des EPA-Präsidenten als Urheber der Vorlage beeinflusst wird.
Neuformulierung der Vorlagefragen
III. Aus den vorgenannten Erwägungen kommt die Große Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass die Vorlagefragen so neu formuliert werden müssen, dass die folgenden beiden Punkte berücksichtigt werden.
III.1 Erstens sind die beiden Fragestellungen, die der Vorlage zugrunde liegen, miteinander verknüpft. Die Befugnis des Verwaltungsrats, Sekundärrecht zu erlassen, ist eine Frage, die zwingend zu prüfen ist, bevor die Sachfrage des rechtlichen Umfangs des Artikels 53 b) EPÜ behandelt wird. Deshalb können beide Angelegenheiten in einer einzigen Frage zusammengefasst werden.
III.2 Zweitens vertritt die Große Beschwerdekammer nach der Gesamtlektüre der Vorlage, d. h. der Fragen und ihrer Begründung, die Auffassung, dass der eigentliche Gegenstand der Vorlage wie folgt umschrieben werden kann:
i. Gestattet Artikel 53 b) EPÜ im Hinblick auf den Patentierbarkeitsausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" nur eine einzige Auslegung oder könnte er einen breiteren Auslegungsspielraum haben?
ii. Gestattet Artikel 53 b) EPÜ eine dynamische Auslegung in dem Sinne, dass seine Bedeutung sich im Zeitverlauf wandelt?
iii. Wenn ja, kann eine Änderung der Ausführungsordnung eine Änderung der Bedeutung bewirken, die auf eine dynamische Auslegung von Artikel 53 b) EPÜ zurückgeht?
III.3 Die Große Beschwerdekammer ist daher der Auffassung, dass die offene und abstrakte Formulierung der folgenden einzigen Frage die tatsächlichen Sachverhalte zum Ausdruck bringt, um die es in der Vorlage des EPA-Präsidenten geht:
Könnte unter Berücksichtigung der Entwicklungen, die nach einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer eingetreten sind, bei der eine Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren in Artikel 53 b) EPÜ getroffen wurde,
dieser Ausschluss negative Auswirkungen auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen haben, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert?
Zulässigkeit der Vorlage
IV. Damit die Vorlage nach Artikel 112 (1) b) EPÜ zulässig ist, muss sie die folgenden Voraussetzungen erfüllen:
i. eine Antwort der Großen Beschwerdekammer ist zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung erforderlich oder es stellt sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung
und
ii. zwei Beschwerdekammern haben voneinander abweichende Entscheidungen über diese Frage getroffen.
V. Zum ersten Zulässigkeitserfordernis bringt der EPA-Präsident vor, dass die in T 1063/18 (s. o.) aufgeworfene Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei und der Klärung durch die Große Beschwerdekammer als der höchsten gerichtlichen Instanz des EPA bedürfe (Nr. 31 der Vorlage).
V.1 Für den EPA-Präsidenten ergibt sich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtsfrage insbesondere aus drei Erwägungen.
Erstens sei die Gültigkeit der Regel 28 (2) EPÜ im Hinblick auf Artikel 164 (2) EPÜ und Artikel 53 b) EPÜ nicht nur eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Es handle sich auch um eine Frage, die nicht abschließend durch Verweis auf das EPÜ gelöst werden könne. Die Nichtanwendbarkeit einer Vorschrift der Ausführungsordnung aufgrund eines vermeintlichen Widerspruchs zu einem Artikel des EPÜ sei eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung. Im konkreten Fall werfe sie grundlegende Fragen der Rechtsauslegung auf, nämlich zur Auswirkung späterer Rechtsentwicklungen auf die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ und zur Bedeutung einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer über die Anwendung des Artikels 164 (2) EPÜ (Nr. 37 der Vorlage).
Zweitens gehe es hier um grundlegende Fragen der Rechtseinheit. Regel 28 (2) EPÜ sei vom Verwaltungsrat erlassen worden, um das EPÜ mit der EU-Biotechnologierichtlinie in Einklang zu bringen. Die Bedeutung einer einheitlichen Auslegung und Anwendung harmonisierten europäischen Patentrechts sei allgemein anerkannt und werde durch Regel 26 (1) Satz 2 EPÜ bestätigt (Nr. 38 der Vorlage).
Drittens sei die Rechtsfrage für mehr als 250 ähnliche Fälle vor den Prüfungs- und Einspruchsabteilungen relevant. Deshalb sei es angebracht, die Rechtsfrage durch eine de facto bindende Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu klären (Nr. 39 der Vorlage).
V.2 Die Große Beschwerdekammer erkennt die institutionellen Auswirkungen der verschiedenen der Vorlage zugrunde liegenden Fragestellungen an, insbesondere die Absicht des Gesetzgebers, den Ansatz des EPA hinsichtlich der Patentierbarkeitserfordernisse für biotechnologische Erfindungen mit den entsprechenden Entwicklungen in den Vertragsstaaten und in der EU zu harmonisieren, die Rechtsgrundsätze zu widersprüchlichen Rechtsnormen (z. B. "lex superior derogat legi inferiori" und "lex posterior derogat legi priori") und die Relevanz der Vorlage für zahlreiche andere anhängige und künftige Fälle vor den administrativen Organen (d. h. den Prüfungs- und Einspruchsabteilungen) und den Beschwerdekammern.
V.3 Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass die der Vorlage zugrunde liegenden Fragestellungen eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Artikels 112 (1) EPÜ betreffen, die nach einer einheitlichen Rechtsanwendung verlangt.
VI. Was das zweite Zulässigkeitserfordernis betrifft, das speziell für eine Vorlage durch den EPA-Präsidenten gilt, ist wichtig klarzustellen, was unter "voneinander abweichenden Entscheidungen" von "zwei Beschwerdekammern" zu verstehen ist und in welcher Hinsicht diese Entscheidungen voneinander abweichen müssen.
VI.1 In Bezug auf "voneinander abweichende Entscheidungen" befand die Große Beschwerdekammer in ihrer Stellungnahme G 3/08 (s. o., Nrn. 7 ff. der Begründung; s. auch G 3/95, ABl. EPA 1996, 169, Nr. 8 der Begründung), dass die Begriffe "different decisions/voneinander abweichende Entscheidungen/décisions divergentes" in Artikel 112 (1) b) EPÜ nach Artikel 31 des Wiener Übereinkommens im Lichte des Ziels und Zwecks der Vorschrift ausgelegt werden müssen. Zweck des Vorlagerechts des EPA-Präsidenten ist es, innerhalb des europäischen Patentsystems Rechtseinheit herzustellen. In Anbetracht dieses Zwecks der Vorlagebefugnis des Präsidenten ist der englische Begriff "different decisions" restriktiv im Sinne von "divergierende Entscheidungen" zu verstehen. Die Rechtsfortbildung ist ein weiterer Aspekt, den es sorgfältig zu prüfen gilt. Rechtsfortbildung ist eine unverzichtbare Aufgabe der Rechtsanwendung und deshalb jeder richterlichen Tätigkeit immanent. Rechtsfortbildung als solche darf deshalb noch nicht zum Anlass einer Vorlage genommen werden, weil die Entwicklung der Rechtsprechung nicht immer geradlinig verläuft und frühere Ansätze verworfen oder modifiziert werden.
VI.2 Zum Erfordernis "zwei Beschwerdekammern" gibt die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer keine klare Orientierung.
In ihrer Stellungnahme G 4/98 (s. o., Nr. 1.1 der Begründung) stellte die Große Beschwerdekammer fest, dass eine Diskrepanz zwischen der Praxis des Amts einerseits und der Rechtsprechung der Beschwerdekammern andererseits allein nicht ausreiche, um eine Vorlage des EPA-Präsidenten zu rechtfertigen, es sei denn, die Verwaltungspraxis des EPA werde durch die Rechtsprechung untermauert.
Die Große Beschwerdekammer stellte jedoch auch Folgendes fest: Wäre die Vorlagebefugnis des EPA-Präsidenten durch eine restriktive, auf der Organisationsstruktur basierende Auslegung des Begriffs "zwei Beschwerdekammern" zu definieren, so wären Vorlagen betreffend die – einzige – Juristische Beschwerdekammer unmöglich. Die Wirkung des Artikels 112 (1) b) EPÜ würde dadurch ungebührlich eingeschränkt, denn divergierende Entscheidungen könnten auch innerhalb dieser Kammer vorkommen (s. o., Nr. 1.2 der Begründung). Ebenso könnten voneinander abweichende Entscheidungen einer einzigen Technischen Beschwerdekammer in unterschiedlichen Zusammensetzungen Grundlage einer zulässigen Vorlage des EPA-Präsidenten sein (G 3/08, s. o., Nr. 6 der Begründung; s. auch G 1/04, ABl. EPA 2006, 334, Nr. 1 der Begründung).
VI.3 Ob die aktuelle Vorlage dem Erfordernis voneinander abweichender Entscheidungen der Beschwerdekammern entspricht, wie es in G 4/98, G 1/04 und G 3/08 (s. o.) definiert wird, ist nicht unmittelbar ersichtlich.
Offenkundig besteht jedoch ein Widerspruch zwischen der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) einerseits, der zufolge bei Ansprüchen, die auf ein durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnenes Pflanzenerzeugnis gerichtet sind, die in G 2/12 (s. o.) getroffene Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ Vorrang vor Regel 28 (2) EPÜ hat, und der dieser Regel zugrunde liegenden Regelungsabsicht andererseits, solche Ansprüche von der Patentierbarkeit auszuschließen.
VI.4 Der EPA-Präsident begründet die Zulässigkeit der Vorlage mit den folgenden beiden Argumentationslinien.
VI.4.1 Erstens argumentiert er, dass die Entscheidung T 1063/18 (s. o.) von der früheren Rechtsprechung in Bezug darauf abweiche, wie eine Regel der Ausführungsordnung nach Artikel 164 (2) EPÜ geprüft werde (Nrn. 4 bis 18 der Vorlage). Der in dieser Entscheidung verfolgte Ansatz, wonach die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ in der Entscheidung G 2/12 (s. o.) jegliche spätere von dieser Auslegung abweichende Klarstellung in der Ausführungsordnung ausschließe, unterscheide sich von anderen Entscheidungen im Zusammenhang mit der EU-Biotechnologierichtlinie (z. B. T 272/95, T 315/03, T 666/05 und T 1213/05 (s. o.)).
VI.4.2 Zweitens schlägt der EPA-Präsident eine analoge Anwendung des Artikels 112 (1) b) EPÜ vor, weil die Wirkung der Entscheidung T 1063/18 (s. o.) vergleichbar damit sei, dass zwei Kammern unterschiedliche Entscheidungen getroffen hätten, und weil nicht davon auszugehen sei, dass der EPÜ-Gesetzgeber im vorliegenden Szenario die Möglichkeit einer Vorlage durch den EPA-Präsidenten bewusst ausgelassen habe (Nrn. 19 bis 30 und 43 der Vorlage). Wenn das Vorlagerecht des EPA-Präsidenten im Falle voneinander abweichender Auslegungen des EPÜ in zwei Kammerentscheidungen mit Inter-partes-Wirkung gelte, dann müsse es erst recht gelten, wenn die Auslegung eines EPÜ-Artikels in einer einzelnen Kammerentscheidung von der Umsetzung dieses Artikels (d. h. seiner Auslegung) mit Erga-omnes-Wirkung in einer vom Verwaltungsrat erlassenen Regel der Ausführungsordnung abweiche.
VI.5 Was die erste Argumentationslinie betrifft, so weichen Entscheidungen zweier Beschwerdekammern im Sinne des Artikels 21 EPÜ nur dann für die Zwecke des Artikels 112 (1) b) EPÜ voneinander ab, wenn über eine bestimmte Rechtsfrage unterschiedlich entschieden wurde. Die Entscheidungen sollten sich in der rechtlichen Beurteilung (ratio decidendi) unterscheiden, auf der sie beruhen. In ihrer Stellungnahme G 3/93 (ABl. EPA 1995, 18, Nr. 2 der Begründung; s. auch Stellungnahme G 2/92, ABl. EPA 1993, 591) befand die Große Beschwerdekammer die Vorlage für zulässig, obwohl die vom EPA-Präsidenten angeführten Entscheidungen nur insofern divergierten, als die eine ein "obiter dictum" enthielt, denn es sei Aufgabe der Großen Beschwerdekammer, die einheitliche Rechtsanwendung zu sichern: " […] auch ein 'obiter dictum' kann zu Rechtsunsicherheit führen".
VI.5.1 Aufgrund ihrer Beurteilung der vom EPA-Präsidenten in diesem Zusammenhang angeführten Entscheidungen und unter Berücksichtigung unter anderem der Stellungnahme von Herrn C. Rennie-Smith zur Entscheidung T 315/03 (s. o.), die von KSVR Patentanwälte zusammen mit ihrem Amicus-curiae-Schriftsatz eingereicht wurde, stellt die Große Beschwerdekammer Folgendes fest:
In der Entscheidung T 315/03 (s. o., Nr. 7.3 der Entscheidungsgründe) befand die Beschwerdekammer 3.3.08, dass Artikel 53 a) EPÜ nichts enthalte, was seine spätere Auslegung durch die Rechtsprechung oder durch (sekundäre) Rechtsvorschriften (Regel 23d EPÜ 1973) ausschließe oder begrenze. Diese Sichtweise war für den Fall relevant (siehe Leitsätze I bis III). Die Kammer stellte ferner fest, dass eine spätere Regel, die von einer bestimmten Auslegung einer Rechtsvorschrift durch ein Gericht abweiche, nicht für sich genommen ultra vires sei (Nr. 7.3 der Entscheidungsgründe):
"Was der Beschwerdegegner vermutlich meinte, war wohl, dass die betreffende Rechtsvorschrift nicht einfach Artikel 53 a) EPÜ sei, sondern der Artikel, wie er in T 19/90 ausgelegt werde. Dies ist nicht nur rechtlich unmöglich – eine Rechtsvorschrift kann nicht mit ihrer Auslegung in der Rechtsprechung kombiniert werden, um eine künstliche Befugnis zu konstruieren, der gegenüber ein Akt oder eine Vorschrift dann als Überschreitung der Befugnis, d. h. ultra vires, eingestuft wird –, es würde zudem, selbst wenn es möglich wäre, keinen Unterschied machen, weil dieses 'fiktive Recht' noch immer nichts enthielte, was seine spätere Auslegung ausschließen oder begrenzen würde."
In der Entscheidung T 272/95 (s. o., Nrn. 4 und 5 der Entscheidungsgründe) erkannte die Beschwerdekammer 3.3.04 an, dass der Verwaltungsrat im Lichte der EU-Biotechnologierichtlinie die Ausführungsordnung zum Zweck der Anwendung und Auslegung derjenigen Bestimmungen des Übereinkommens, die für biotechnologische Erfindungen betreffende europäische Patentanmeldungen und Patente maßgebend sind, durch Erlass der Regeln 23b bis 23e EPÜ 1973 geändert habe. Im Hinblick auf Artikel 164 (2) EPÜ prüfte die Kammer die Vereinbarkeit der neuen Regeln mit Artikel 53 a) EPÜ. Dazu verwies sie auf die Entscheidung G 1/98 der Großen Beschwerdekammer (s. o., Nr. 5.3 der Entscheidungsgründe), die sich mit der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ befasst, und befand, dass Regel 23c EPÜ 1973, die sich auf Artikel 53 b) EPÜ beziehe, nur auslegenden Charakter habe. Die Kammer vertrat die Auffassung, dass dies auch für die neuen Regeln gelte, soweit sie sich auf die Auslegung des Artikels 53 a) EPÜ bezögen, und wandte die Regeln 23d und 23e EPÜ 1973 auf den von ihr zu entscheidenden Fall an. Diesem Ansatz folgte dieselbe Kammer in unterschiedlichen Zusammensetzungen in den Entscheidungen T 666/05 (s. o., Nr. 75 der Entscheidungsgründe) und T 1213/05 (s. o., Nr. 44 der Entscheidungsgründe).
VI.5.2 Die vorgenannten Entscheidungen lassen sich so verstehen, dass ihnen zufolge eine nachgeordnete, aber später erlassene Vorschrift der Ausführungsordnung Auswirkung auf die Auslegung einer höherrangigen und früher erlassenen Vorschrift des Übereinkommens haben kann, unabhängig davon, dass Letztere in einer früheren Entscheidung einer Beschwerdekammer auf eine bestimmte Weise ausgelegt wurde.
VI.5.3 Diese Sichtweise steht im Einklang mit Artikel 31 (3) a) des Wiener Übereinkommens, wonach jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen zu berücksichtigen ist. Sie wird auch durch die Entscheidung G 2/12 der Großen Beschwerdekammer gestützt (s. o., Nrn. VII.4 und VII.6 der Entscheidungsgründe).
VI.5.4 Die Beschwerdekammer in T 1063/18 (s. o.) schloss sich dieser Sichtweise jedoch nicht an und prüfte nicht, ob die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ auf der Grundlage von Artikel 31 (3) des Wiener Übereinkommens durch Regel 28 (2) EPÜ beeinflusst werden könnte. Vielmehr stellte sie fest, dass Regel 28 (2) EPÜ im Widerspruch zu der besonderen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ stehe, die vor Erlass der Regel in der Entscheidung G 2/12 (s. o.) getroffen worden sei (Nrn. 24 bis 26 und 46 der Entscheidungsgründe), und dass der Verwaltungsrat nicht befugt sei, Artikel 53 b) EPÜ mittels der Regel 28 (2) EPÜ zu ändern (Nrn. 31 bis 36 der Entscheidungsgründe). Infolgedessen ließ die Kammer Regel 28 (2) EPÜ gemäß Artikel 164 (2) EPÜ unberücksichtigt, weil sie ihrer Auffassung nach von der in einer früheren Entscheidung der Großen Beschwerdekammer getroffenen Auslegung abwich.
In diesem Aspekt unterscheidet sich die Entscheidung von anderen vorgenannten Kammerentscheidungen, in denen die Auswirkungen einer später erlassenen Vorschrift der Ausführungsordnung auf die Auslegung einer Vorschrift des Übereinkommens beurteilt wurden.
VI.5.5 Daher ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass es voneinander abweichende Entscheidungen zweier Beschwerdekammern über die Frage gibt, ob eine Änderung der Ausführungsordnung sich auf die Auslegung eines Artikels des EPÜ auswirken kann.
VI.6 Zum Vorschlag des EPA-Präsidenten, Artikel 112 (1) b) EPÜ analog anzuwenden, hat die Große Beschwerdekammer folgende Anmerkungen, die von ihrer Schlussfolgerung unter vorstehender Nummer VI.5.5 unabhängig sind.
VI.6.1 Die vorgeschlagene analoge Anwendung erscheint weder plausibel noch angemessen.
Der Wortlaut des Artikels 112 (1) b) EPÜ ist – insbesondere im Vergleich mit Artikel 112 (1) a) EPÜ, der Vorlagen durch eine Beschwerdekammer behandelt – sehr eindeutig, was das besondere Erfordernis der "voneinander abweichenden Entscheidungen" von "zwei Beschwerdekammern" betrifft. Die Große Beschwerdekammer kann in Artikel 112 (1) EPÜ keine unbeabsichtigte Regelungslücke erkennen, die sich aus den gesonderten Bedingungen für Vorlagen durch Beschwerdekammern einerseits und Vorlagen durch den EPA-Präsidenten andererseits ergeben würde.
Somit besteht unabhängig von der grundsätzlichen Bedeutung der vorgelegten Rechtsfragen oder der Notwendigkeit der Sicherung einer einheitlichen Rechtsanwendung weder Raum noch Bedarf für eine analoge Anwendung des Artikels 112 (1) b) EPÜ, um auch ohne voneinander abweichenden Entscheidungen der Beschwerdekammern eine Vorlage durch den EPA-Präsidenten zuzulassen.
VI.6.2 Diese Überlegungen stehen im Einklang mit der Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer über die Zulässigkeit von Vorlagen durch den EPA-Präsidenten.
Die Große Beschwerdekammer bestätigt ihre bisherige Rechtsprechung, der zufolge die Vorlagebefugnis des EPA-Präsidenten in einem restriktiven Sinn zu verstehen ist. Diese Auffassung wurde in der Stellungnahme G 3/08 (s. o., Nrn. 7.2.4 ff. der Begründung) wie folgt zum Ausdruck gebracht:
"7.2.4 […] normiert Artikel 112 EPÜ – ähnlich entsprechenden Vorschriften in den Rechtsordnungen der Vertragsstaaten – die Voraussetzungen, unter denen die Rechtseinheit innerhalb des europäischen Patentsystems durch Anrufung der Großen Beschwerdekammer herzustellen ist. Folglich hat die Große Beschwerdekammer nicht über abstrakte, sondern immer nur über konkrete sich aus den angeführten abweichenden Entscheidungen ergebende Rechtsfragen zu befinden und auch über konkrete, von Rechtssuchenden an sie herangetragene Sachverhalte […] Zu beachten ist, dass der Präsident im Vorlageverfahren keine Beteiligtenstellung hat, weil er durch die Antworten der Großen Beschwerdekammer nicht beschwert werden kann.
7.2.5 Daran ist klar zu erkennen, dass die Auslegung des EPÜ vorrangig den Beschwerdekammern anvertraut ist. Sie haben im Regelfall die Deutungshoheit hinsichtlich des EPÜ, weil ihre Entscheidungen nur unter den eng begrenzten Voraussetzungen der Artikel 112 (1) und 112a (2) EPÜ überprüft werden können. Nur wenn diese vorliegen, hat die Große Beschwerdekammer das letzte Wort. Zieht man in Betracht, dass die Große Beschwerdekammer überhaupt nur auf Vorlage der Beschwerdekammern oder des Präsidenten tätig wird (mit Ausnahme der Anträge auf Überprüfung nach Art. 112a EPÜ, die jedoch nur Verfahrensfragen betreffen und eine sehr geringe Tragweite haben), sie also keine den Beschwerdekammern übergeordnete weitere Instanz innerhalb der Gerichtsbarkeit des EPÜ darstellt, lässt sich das Maß ihrer Bedeutung für die Rechtseinheit einschätzen. Die abschließende Aufzählung der Zulässigkeitsvoraussetzungen einer Vorlage nach Artikel 112 (1) a) und b) EPÜ impliziert, dass die Große Beschwerdekammer Entscheidungen zu Einzelfragen trifft und dass weder die Beschwerdekammern noch der Präsident berechtigt sind, sie nach Gutdünken zur Klärung abstrakter Rechtsfragen anzurufen. Dazu steht dem Präsidenten innerhalb des Amts eine eigene Rechtsabteilung zur Verfügung.
7.2.6 Aus denselben restriktiven Gründen verlangt Artikel 112 (1) b) EPÜ – anders als bei der Vorlage durch eine Beschwerdekammer – als zusätzliche einschränkende Voraussetzung einer präsidialen Vorlage, dass Abweichungen in der Rechtsprechung zweier Beschwerdekammern (im bereits erörterten Sinn) zu derselben Rechtsfrage bestehen. Das Kriterium der 'abweichenden Entscheidungen' scheint darauf hinzudeuten, dass dem Präsidenten die Anrufung der Großen Beschwerdekammer nur dann gestattet sein soll, wenn eine Divergenz oder besser gesagt ein Konflikt in der Rechtsprechung es dem Amt erschwert oder gar unmöglich macht, seine Patenterteilungspraxis mit der Rechtsprechung der Beschwerdekammern in Einklang zu bringen. Keine Rolle spielt dabei, ob die Anregung zur Vorlage von dritter Seite gegeben wurde, wenn nur objektiv eine Divergenz in der Rechtsprechung aufgezeigt werden kann.
7.2.7 Das durch seinen Sinn und Zweck definierte Vorlagerecht findet dort seine Grenzen, wo der Präsident durch eine Vorlage an die Große Beschwerdekammer die Rechtsprechung der Beschwerdekammern zum Schutz von CII aus welchen Gründen auch immer durch die Entscheidung einer vermeintlich höheren Instanz zu ersetzen versuchen sollte [...]"
VI.7 Daher ist die Große Beschwerdekammer der Auffassung, dass die Vorlage des EPA-Präsidenten eine Rechtsfrage betrifft, zu der zwei Beschwerdekammern voneinander abweichende Entscheidungen im Sinne des Artikels 112 (1) b) EPÜ getroffen haben.
VII. Die Vorlage des EPA-Präsidenten entspricht somit den Erfordernissen des Artikels 112 (1) b) EPÜ und ist innerhalb des Rahmens der von der Großen Beschwerdekammer unter Nummer III.3 neu formulierten Frage zulässig.
Hintergrund der Vorlage
VIII. Diese Vorlage ist die sechste zur Frage der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ, von denen vier in zusammengelegten Verfahren behandelt wurden. Es ist somit angebracht, die früheren Vorlagen an dieser Stelle kurz zusammenzufassen.
G 1/98 – Pflanzensorten
VIII.1 In der Entscheidung G 1/98 (s. o., Leitsätze I und II) befasste sich die Große Beschwerdekammer mit Rechtsfragen betreffend Ansprüche, die Pflanzensorten umfassen, aber nicht individuell angeben, und Pflanzensorten als Erzeugnisse der rekombinanten Gentechnik.
Die vorgelegten Fragen wurden wie folgt beantwortet:
"I. Ein Anspruch, in dem bestimmte Pflanzensorten nicht individuell beansprucht werden, ist nicht nach Artikel 53 b) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen, auch wenn er möglicherweise Pflanzensorten umfasst.
II. Bei der Prüfung eines Anspruchs für ein Verfahren zur Züchtung einer Pflanzensorte ist Artikel 64 (2) EPÜ nicht zu berücksichtigen.
III. Das Patentierungsverbot des Artikels 53 b) erster Halbsatz EPÜ gilt für Pflanzensorten unabhängig davon, auf welche Weise sie erzeugt wurden. Daher sind Pflanzensorten, in denen Gene vorhanden sind, die mittels der rekombinanten Gentechnik in eine Elternpflanze eingebracht wurden, vom Patentschutz ausgeschlossen."
G 2/07 und G 1/08 – Im Wesentlichen biologische Verfahren (Verfahrensansprüche)
VIII.2 In den zusammengelegten Verfahren G 2/07 und G 1/08 (s. o.), die auch als "Broccoli" und "Tomate" bezeichnet werden, betrafen die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ: Da der Wortlaut der Regel 26 (5) EPÜ (frühere Regel 23b (5) EPÜ 1973), die dem Artikel 2 (2) der Biotechnologierichtlinie entspricht, nicht zur Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ beitrage, sei der Ausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" rein auf der Grundlage des Artikels 53 b) EPÜ auszulegen. Der Begriff "Pflanze" könne nicht entgegen seinem Wortlaut im Sinne von "Pflanzensorte" ausgelegt werden. Es gebe in der Entstehungsgeschichte keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Begriff "Pflanze" lediglich "Pflanzensorte" bedeuten sollte. Der Ausschluss von "im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" könne deshalb nicht so verstanden werden, dass er sich auf Verfahren zur Züchtung von Pflanzensorten beschränke.
Die vorgelegten Fragen wurden wie folgt beantwortet (G 2/07 und G 1/08, s. o., Leitsatz):
"1. Ein nicht mikrobiologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen, das die Schritte der geschlechtlichen Kreuzung ganzer Pflanzengenome und der anschließenden Selektion von Pflanzen umfasst oder aus diesen Schritten besteht, ist grundsätzlich von der Patentierbarkeit ausgeschlossen, weil es im Sinne des Artikels 53 b) EPÜ 'im Wesentlichen biologisch' ist.
2. Ein solches Verfahren entgeht dem Patentierungsverbot des Artikels 53 b) EPÜ nicht allein schon deshalb, weil es als weiteren Schritt oder als Teil eines der Schritte der Kreuzung und Selektion einen technischen Verfahrensschritt enthält, der dazu dient, die Ausführung der Schritte der geschlechtlichen Kreuzung ganzer Pflanzengenome oder der anschließenden Selektion von Pflanzen zu ermöglichen oder zu unterstützen.
3. Enthält ein solches Verfahren jedoch innerhalb der Schritte der geschlechtlichen Kreuzung und Selektion einen zusätzlichen technischen Verfahrensschritt, der selbst ein Merkmal in das Genom der gezüchteten Pflanze einführt oder ein Merkmal in deren Genom modifiziert, sodass die Einführung oder Modifizierung dieses Merkmals nicht durch das Mischen der Gene der zur geschlechtlichen Kreuzung ausgewählten Pflanzen zustande kommt, so ist das Verfahren nicht nach Artikel 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
4. Bei der Prüfung der Frage, ob ein solches Verfahren als 'im Wesentlichen biologisch' im Sinne des Artikels 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen ist, ist nicht maßgebend, ob ein technischer Schritt eine neue oder eine bekannte Maßnahme ist, ob er unwesentlich ist oder eine grundlegende Änderung eines bekannten Verfahrens darstellt, ob er in der Natur vorkommt oder vorkommen könnte oder ob darin das Wesen der Erfindung liegt."
G 2/12 und G 2/13 – Im Wesentlichen biologische Verfahren (Erzeugnis- und Product-by-Process-Ansprüche)
VIII.3 Die aktuelle Vorlage folgt auf die zusammengelegten Verfahren G 2/12 und G 2/13 (s. o.), die auch als "Tomate II" und "Broccoli II" bezeichnet werden. Wie auch im vorliegenden Fall war die Große Beschwerdekammer dort mit der Frage befasst, ob sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Artikel 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen auswirkt, die auf durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren unmittelbar hergestellte oder definierte Pflanzen oder entsprechendes Pflanzenmaterial (wie eine Frucht oder Pflanzenteile) gerichtet sind. Sie kam zu dem Schluss, dass dies nicht der Fall sei.
Die Große Beschwerdekammer analysierte Bedeutung und Umfang des Artikels 53 b) EPÜ im Lichte der Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens, der verschiedenen anerkannten Auslegungsmethoden (grammatische, systematische, teleologische und historische Auslegung) und der EU-Biotechnologierichtlinie. Sie stellte fest, dass nichts davon den Schluss zulasse, dass sich der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" über die Verfahren hinaus auch auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder hergestellt werden.
Weiter untersuchte die Große Beschwerdekammer, ob sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben haben, die Grund zu der Annahme geben könnten, dass eine grammatische Auslegung der einschlägigen Vorschrift in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen steht. Sie befand, die Entwicklungen auf dem Gebiet der Pflanzenzuchttechnik hätten den Gesetzgeber nicht dazu veranlasst, Artikel 53 b) EPÜ zu ändern, und sie konnte nicht erkennen, warum die ursprüngliche Absicht des Gesetzgebers bei der Abfassung des Artikels 53 b) EPÜ nicht mehr gerechtfertigt sein sollte, nur weil es auf diesem Gebiet inzwischen neue Techniken gebe. Der eindeutige Wortlaut des Artikels 53 b) EPÜ schließe außerdem aus, dass die Gewährung eines Erzeugnisanspruchs oder eines Product-by-Process-Anspruchs für durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren erzeugte Pflanzen oder entsprechendes Pflanzenmaterial als Umgehung des Verfahrensausschlusses angesehen werden könnte. Im Gegenteil brächte die Erweiterung des Verfahrensausschlusses auf Erzeugnisse, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen hergestellt werden, eine Unstimmigkeit in das System des EPÜ, da für Pflanzen und Pflanzenmaterial, sofern es sich dabei nicht um eine Pflanzensorte handle, generell Patentschutz erlangt werden könne.
Die Große Beschwerdekammer betonte jedoch auch, dass die Prüfung der ethischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Aspekte der laufenden Debatte nicht unter ihre richterlichen Entscheidungsbefugnisse falle, denn zu einer Einmischung in die Gesetzgebung sei sie nicht befugt.
Die Große Beschwerdekammer befand somit (gemeinsame Lektüre der Leitsätze von G 2/12 und G 2/13 zusammengefasst), dass sich der Ausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen in Artikel 53 b) EPÜ nicht negativ auf die Gewährbarkeit eines Erzeugnisanspruchs auswirke, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial wie eine Frucht oder Pflanzenteile gerichtet sei. Die Tatsache, dass die Verfahrensmerkmale eines Product-by-Process-Anspruchs, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet sei, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handle, ein im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen definierten, stehe der Gewährbarkeit des Anspruchs nicht entgegen. Die Tatsache, dass das einzige am Anmeldetag verfügbare Verfahren zur Erzeugung des beanspruchten Gegenstands ein in der Patentanmeldung offenbartes im Wesentlichen biologisches Verfahren zur Züchtung von Pflanzen sei, stehe der Gewährbarkeit eines Anspruchs nicht entgegen, der auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial gerichtet sei, bei denen es sich nicht um eine Pflanzensorte handle. Unter diesen Umständen sei es nicht relevant, dass sich der durch den Erzeugnisanspruch verliehene Schutz auf die Erzeugung des beanspruchten Erzeugnisses durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren für die Züchtung von Pflanzen erstrecke, das nach Artikel 53 b) EPÜ als solches nicht patentierbar sei.
Rechtsprechung unter Anwendung von G 2/12 und G 2/13
IX. Die Beschwerdekammer in T 83/05 wandte in ihrer Endentscheidung vom 10. September 2015 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) die Entscheidung G 2/13 (s. o.) an, die auf ihre frühere Zwischenentscheidung vom 8. Juli 2013 (ABl. EPA 2014, A39) zurückging. Sie hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurück, das Patent auf der Grundlage der Ansprüche 1 bis 5 des Hauptantrags und einer entsprechend anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten. Anspruch 1 bezog sich auf eine in einem Kreuzungs- und Selektionsverfahren hergestellte genießbare Brassica-Pflanze. Die Ansprüche 2 und 3 waren auf einen genießbaren Teil und auf den Samen einer Broccolipflanze gerichtet, die nach einem Verfahren hergestellt waren, das genauso definiert war wie in Anspruch 1. Die Ansprüche 4 und 5 betrafen eine Broccolipflanze und eine Broccoli-Infloreszenz.
X. Die Beschwerdekammer in T 1242/06 wandte in ihrer Endentscheidung vom 8. Dezember 2015 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) die Entscheidung G 2/12 (s. o.) an, die auf ihre frühere Zwischenentscheidung vom 31. Mai 2012 (ABl. EPA 2013, 42) zurückging. Die neu eingereichten Ansprüche waren auf Ansprüche für Erzeugnisse beschränkt und bezogen sich auf eine (natürlich) dehydratisierte Tomatenfrucht. Die Kammer stellte fest, dass der Gegenstand der Ansprüche des Hilfsantrags I nicht nach Artikel 53 b) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sei. Die Kammer hob die angefochtene Entscheidung auf und verwies die Sache an die Einspruchsabteilung mit der Anordnung zurück, das Patent auf der Grundlage dieser Ansprüche und einer entsprechend anzupassenden Beschreibung aufrechtzuerhalten.
XI. Schließlich wandte die Beschwerdekammer in der Entscheidung T 1063/18 (s. o.), die den EPA-Präsidenten zur aktuellen Vorlage veranlasst hat, die Entscheidung G 2/12 (s. o.) an.
Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ
XII. Die neu formulierte Frage legt den Schwerpunkt auf die Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ sowie darauf, ob und inwieweit sich das Verständnis des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses im Lichte der Entwicklungen seit der Entscheidung G 2/12 (s. o.) und insbesondere dem Erlass der Regel 28 (2) EPÜ möglicherweise gewandelt hat.
XIII. Hinsichtlich des Artikels 53 b) EPÜ für sich genommen, d. h. ohne Bezugnahme auf Regel 28 (2) EPÜ, bestätigt die Große Beschwerdekammer ihre früheren Entscheidungen im Verfahren G 1/98 (s. o.), in den zusammengelegten Verfahren G 2/07 und G 1/08 (s. o.) und in den zusammengelegten Verfahren G 2/12 und G 2/13 (s. o.).
Grammatische, systematische und teleologische Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ
XIV. Die entscheidende Frage der Vorlage lautet, ob Artikel 53 b) EPÜ einen auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisanspruch oder Product-by-Process-Anspruch von der Patentierbarkeit ausschließt, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert. Bei ihrer Analyse des Artikels 53 b) EPÜ in der Entscheidung G 2/12 (s. o.) wandte die Große Beschwerdekammer die grammatische, die systematische und die teleologische Auslegungsmethode an. Die Große Beschwerdekammer bekräftigt die Schlussfolgerungen, zu denen die Entscheidung G 2/12 auf der Grundlage jeder dieser Methoden gelangt ist.
XIV.1 Nach der ständigen Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer und der Beschwerdekammern sind bei der Auslegung des EPÜ die in den Artikeln 31 und 32 des Wiener Übereinkommens enthaltenen Auslegungsgrundsätze anzuwenden. Einschlägige Entscheidungen und Stellungnahmen der nationalen Gerichte können ebenfalls in Betracht gezogen werden (G 2/12, s. o., Nrn. V (2), (3) und (5) der Entscheidungsgründe mit weiteren Verweisen auf die Rechtsprechung; Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Auflage 2019, III.H.).
XIV.2 Gemäß Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens zielt die objektive Auslegungsweise darauf ab, die "authentische" Bedeutung der betreffenden Vorschrift und ihrer Rechtsbegriffe zu ermitteln. Ausgangspunkt der Auslegung ist somit unabhängig vom ursprünglichen "subjektiven" Willen der Vertragsparteien der Wortlaut, d. h. die "objektive" Bedeutung. Dabei müssen die Vorschriften in ihrem Zusammenhang gelesen werden, damit sie mit Ziel und Zweck des Europäischen Patentübereinkommens übereinstimmen. Die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") und die Umstände des Abschlusses des EPÜ dienen lediglich als ergänzende Quellen, die das Ergebnis der Auslegung bestätigen, oder werden herangezogen, wenn bei Anwendung der allgemeinen Auslegungsregel keine sinnvolle Bedeutung zu bestimmen ist (Artikel 32 Wiener Übereinkommen) (G 2/12, s. o., Nr. V (4) der Entscheidungsgründe).
XIV.3 Da dem Wortlaut rein theoretisch im Prinzip mehr als eine Bedeutung zugewiesen werden könnte, führt die grammatische Auslegung des Wortlauts von Artikel 53 b) EPÜ zu dem Schluss, dass die eigentliche und beabsichtigte Bedeutung des Begriffs "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" näher analysiert werden muss (G 2/12, s. o., Nr. VII.1 der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf G 1/88, ABl. EPA 1989, 189, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe).
XIV.4 Bei der systematischen Auslegung soll die Bedeutung des Artikels 53 b) EPÜ im Kontext der Vorschrift selbst und unter Berücksichtigung ihrer Stellung und Funktion innerhalb einer kohärenten Gruppe mit ihr zusammenhängender Rechtsnormen ermittelt werden. Die Große Beschwerdekammer bekräftigt die Schlussfolgerung, zu der sie in der Entscheidung G 2/12 (s. o., Nr. VII.2 der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf G 1/88, s. o., Nr. 3 der Entscheidungsgründe; G 9/92, ABl. EPA 1994, 875, Nr. 1 der Entscheidungsgründe; G 4/95, ABl. EPA 1996, 412, Nrn. 4 und 5 der Entscheidungsgründe; G 1/98, s. o., Nr. 3.10 der Entscheidungsgründe; G 3/98, ABl. EPA 2001, 62, Nr. 2.2 der Entscheidungsgründe; G 4/98, s. o., Nr. 4 der Entscheidungsgründe) gelangt war, wonach die systematische Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ keine breite Auslegung des Verfahrensausschlusses dahin gehend stützt, dass er auch Erzeugnisansprüche oder Product-by-Process-Ansprüche vom Patentschutz ausnimmt.
XIV.5 Auch hinsichtlich der teleologischen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ im Lichte seines Zwecks, der zugrunde liegenden Werte sowie der rechtlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ziele bestätigt die Große Beschwerdekammer ihre Feststellung aus der Entscheidung G 2/12 (s. o., Nr. VII.3 der Entscheidungsgründe unter Bezugnahme auf G 1/88, s. o., Nr. 5 der Entscheidungsgründe; G 1/03, ABl. EPA 2004, 413, Nr. 2.1.1 der Entscheidungsgründe; G 6/91, ABl. EPA 1992, 491, Nr. 8 der Entscheidungsgründe), dass Ziel und Zweck des Ausschlusses nach Artikel 53 b) EPÜ nicht so offensichtlich sind, dass sich die Frage beantworten lässt, ob die Vorschrift eng oder weit auszulegen ist.
XIV.6 Daraus folgt, dass keine der verschiedenen in Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens vorgesehenen Auslegungsmethoden den Schluss zulässt, dass sich der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" eindeutig über die Verfahren hinaus auch auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder gewonnen werden.
Spätere Übereinkunft oder Übung
XV. Nach Artikel 31 (3) a) und b) des Wiener Übereinkommens sind jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder seine Anwendung und jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, zu berücksichtigen.
Dazu stützt sich der EPA-Präsident auf
i. Regel 26 EPÜ (Nrn. 80 bis 84 der Vorlage);
ii. die Kommissionsmitteilung in Bezug auf die Absicht des Gesetzgebers der Europäischen Union (nachstehend "EU") beim Erlass der EU-Biotechnologierichtlinie (Nrn. 85 bis 99 der Vorlage);
iii. rechtliche und administrative Entwicklungen in den Vertragsstaaten seit G 2/12 (s. o.) (Nrn. 100 bis 111 der Vorlage).
XV.1 Zur Regel 26 EPÜ (frühere Regel 23b EPÜ 1973) stellte die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 2/12 (s. o., Nr. VII.4 (1) der Entscheidungsgründe) fest, dass Regel 26 (5) EPÜ als eine solche spätere Übereinkunft und Übung angesehen werden könnte. Regel 26 (1) EPÜ legt fest, dass die EU-Biotechnologierichtlinie bei der Auslegung der maßgebenden Bestimmungen des EPÜ ergänzend heranzuziehen ist (s. G 2/06, s. o., Nr. 16 der Entscheidungsgründe), führt aber nicht dazu, dass die Richtlinie formell in das Rechtssystem des EPÜ übernommen wird.
XV.1.1 Die Große Beschwerdekammer nimmt Kenntnis von dem Vorbringen des EPA-Präsidenten, dass der EPÜ-Gesetzgeber beabsichtigt habe, das EPÜ vollständig an die EU-Biotechnologierichtlinie anzugleichen (Nr. 94 der Vorlage). Der EPA-Präsident hebt auch hervor, dass unter den 19 zum Zeitpunkt des Erlasses der Regel 26 (1) EPÜ bestehenden EPÜ-Vertragsstaaten auch eben jene 15 EU-Mitgliedstaaten waren, die kurz zuvor die EU-Biotechnologierichtlinie verabschiedet hatten. Daraus schließt er, dass der EPÜ-Gesetzgeber die gleiche Absicht gehabt habe wie der EU-Gesetzgeber. Für die vorliegende Frage bedeute dies, dass der EPÜ-Gesetzgeber auf der Grundlage der Regel 26 (1) EPÜ übereingekommen sei, dass Artikel 53 b) EPÜ im Lichte dieser gesetzgeberischen Absicht auszulegen sei und Erzeugnisse (Pflanzen und Tiere), die ausschließlich durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen würden, nicht patentierbar sein sollten.
XV.1.2 Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer lässt die EU-Biotechnologierichtlinie als solche jedoch – selbst wenn der EPÜ-Gesetzgeber durch den Erlass der Regel 26 (1) EPÜ beabsichtigt hätte, das EPÜ an diese anzugleichen – nicht unmittelbar den vom EPA-Präsidenten gezogenen Schluss zu, der EPÜ-Gesetzgeber habe beabsichtigt, dass Artikel 53 b) EPÜ so auszulegen sei, dass Erzeugnisse (Pflanzen und Tiere), die ausschließlich durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen wurden, von der Patentierbarkeit ausgeschlossen seien.
Wie bereits in G 2/12 (s. o., Nrn. VII.4 (2) und (3) der Entscheidungsgründe) dargelegt, ist die Ausnahme von der Patentierbarkeit nach Artikel 53 b) EPÜ im Wortlaut identisch mit Artikel 4 (1) b) der EU-Biotechnologierichtlinie. Artikel 4 (2) der EU-Biotechnologierichtlinie besagt: "Erfindungen, deren Gegenstand Pflanzen oder Tiere sind, können patentiert werden, wenn die Ausführung der Erfindung technisch nicht auf eine bestimmte Pflanzensorte oder Tierrasse beschränkt ist." Nach Artikel 3 der Biotechnologierichtlinie können "Erfindungen, die neu sind, auf einer erfinderischen Tätigkeit beruhen und gewerblich anwendbar sind, auch dann patentiert werden, wenn sie ein Erzeugnis, das aus biologischem Material besteht oder dieses enthält, oder ein Verfahren, mit dem biologisches Material hergestellt, bearbeitet oder verwendet wird, zum Gegenstand haben".
XV.1.3 Somit führt weder Regel 26 EPÜ als solche noch der Wortlaut der EU-Biotechnologierichtlinie, auf den sich Regel 26 (1) EPÜ bezieht, direkt zu einer Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ, die den Verfahrensausschluss auf die Erzeugnisse solcher Verfahren ausdehnen würde.
XV.2 Im Jahr 2016 erließ die EU-Kommission in Reaktion auf die Entscheidung G 2/12 (s. o.) eine Mitteilung zur Auslegung der EU-Biotechnologierichtlinie (s. o.), in der sie die Auffassung vertrat, dass der EU-Gesetzgeber mit dem Erlass der EU-Biotechnologierichtlinie beabsichtigt habe, durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnene Erzeugnisse (Pflanzen/Tiere und Teile derselben) von der Patentierbarkeit auszuschließen.
XV.2.1 Die Große Beschwerdekammer ist mit den vorbereitenden Arbeiten zur Kommissionsmitteilung vertraut, die in der Einleitung der genannten Mitteilung erwähnt werden, insbesondere mit der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 17. Dezember 2015 zu Patenten und den Rechten von Pflanzenzüchtern (2015/2981(RSP), P8_TA(2015)0473), in der die EU-Kommission aufgefordert wurde, den Geltungsbereich und die Auslegung der EU-Biotechnologierichtlinie hinsichtlich des Patentierbarkeitsausschlusses von Erzeugnissen zu klären, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen wurden. Zur Kenntnis genommen hat sie auch die Entschließungen des Europäischen Parlaments vom 10. Mai 2012 zur Patentierung von im Wesentlichen biologischen Verfahren (2012/2623(RSP), P7_TA(2012)0202) und vom 19. September 2019 zur Patentierbarkeit von Pflanzen und im Wesentlichen biologischen Verfahren (2019/2800(RSP), P9_TA(2019)0020).
Des Weiteren nimmt die Große Beschwerdekammer Kenntnis vom Bericht vom 17. Mai 2016 der EU-Sachverständigengruppe für Entwicklungen und Auswirkungen des Patentrechts im Bereich der Bio- und der Gentechnologie (Ref. Ares(2016)5165507 - 12/09/2016) und von den Schlussfolgerungen des Rates der EU zur Kommissionsmitteilung sowie zum rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABl. EU 2017 C 65/2), in denen die Mitteilung begrüßt wird und die EU-Mitgliedstaaten nachdrücklich aufgefordert werden, sich in ihrer Eigenschaft als Mitglieder der EPO dafür einzusetzen, dass die Praxis der EPO mit diesen Schlussfolgerungen in Einklang gebracht wird.
XV.2.2 Zur Rechtsnatur der Kommissionsmitteilung heißt es in derselben:
"[...] werden in dieser Mitteilung die Ansichten der Kommission zur Patentierbarkeit von Erzeugnissen, die durch im Wesentlichen biologische Prozesse (nach Artikel 4 der Richtlinie) gewonnen werden, dargelegt. [...] Die Mitteilung soll bei der Anwendung der Richtlinie Hilfestellung leisten und greift einer künftigen Stellungnahme der Kommission in dieser Angelegenheit nicht vor. Die Zuständigkeit für die Auslegung des Unionsrechts liegt ausschließlich beim Gerichtshof der Europäischen Union."
Aus diesem Vorbehalt folgt eindeutig, dass die Kommissionsmitteilung nicht rechtsverbindlich ist, sondern als internes Dokument darauf abzielt, das Risiko divergierender Rechtsauslegungen zu verringern und die harmonisierte Anwendung und Umsetzung des EU-Rechts (nachfolgend "Unionsrecht") durch EU-Institutionen und EU-Mitgliedstaaten zu fördern.
Mitteilungen der EU-Kommission sind nicht in der Aufzählung der Rechtsinstrumente der EU aufgeführt, die Sekundärquellen des Unionsrechts sind (Artikel 288 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), konsolidierte Fassung 2016). Dort sind als verbindliche Rechtsakte nur Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse genannt, während Empfehlungen und Stellungnahmen als nicht verbindlich bezeichnet werden. "Mitteilungen" sind überhaupt nicht erwähnt. Wie Entschließungen, Erklärungen und Aktionsprogramme stellen sie weitere Formen von Maßnahmen dar, die die Rechtsordnung der EU formen und gestalten, sind aber keine Rechtsakte.
XV.2.3 Auf jeden Fall greift die Kommissionsmitteilung nicht der Auslegung der EU-Biotechnologierichtlinie durch das zuständige EU-Organ vor. Die rechtswirksame und verbindliche Auslegung des Unionsrechts, ob es sich um Primärrecht wie die Verträge oder um Sekundärrecht wie Verordnungen und Richtlinien handelt, liegt in der ausschließlichen Zuständigkeit des Gerichtshofs der Europäischen Union (nachstehend "EuGH"), dem hinsichtlich des Unionsrechts die Auslegungshoheit zukommt (Artikel 19 (3) b) des Vertrags über die Europäische Union (nachstehend "EUV"), konsolidierte Fassung 2016, in Verbindung mit Artikel 267 AEUV).
Bislang ist noch keine Entscheidung des EuGH über den Patentierungsausschluss von durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnenen Tieren, Pflanzen oder Pflanzenmaterialien und die Auslegung des Artikels 4 der Biotechnologierichtlinie ergangen.
XV.2.4 Dessen ungeachtet ist die EPO als unabhängige internationale Organisation mit eigener autonomer Rechtsordnung nicht unmittelbar an das Unionsrecht gebunden. Umso mehr trifft es zu, dass eine nicht rechtsverbindliche Mitteilung über die Auslegung der EU-Biotechnologierichtlinie, die von der EU-Kommission in Reaktion auf Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer über die Auslegung einer Vorschrift des EPÜ, d. h. des Artikels 53 b) EPÜ, erlassen wurde, nicht Teil der Rechtsvorschriften nach dem EPÜ ist.
XV.3 Der EPA-Präsident verweist auf rechtliche und administrative Entwicklungen in den EPÜ-Vertragsstaaten, die bei der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ zu berücksichtigen seien.
XV.3.1 In den nationalen Rechtsvorschriften von 10 der 38 Vertragsstaaten sind pflanzliche oder tierische Erzeugnisse, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen wurden, von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
In drei Vertragsstaaten war dieser Patentierbarkeitsausschluss bereits vor Ergehen der Entscheidung G 2/12 (s. o.) geltendes Recht:
- Deutschland, § 2a (1) Nr. 1 des Patentgesetzes 1936 in der am 16. Dezember 1980 veröffentlichten Fassung, § 2a (1) Nr. 1 aufgenommen im Oktober 2013;
- Niederlande, Artikel 3 (1) c) und d) des niederländischen Patentgesetzes 1995 (Rijksoctrooiwet 1995), gültig ab 5. Juni 2008;
- Italien, vorbehaltlich zusätzlicher Bedingungen, Artikel 45.4 b) des italienischen Gesetzes über das gewerbliche Eigentum (IIPC, Decreto Legislativo 10 febbraio 2005, n. 30 Codice della proprietà industriale) in der Fassung von 2010.
Sieben Vertragsstaaten änderten ihr Recht nach dieser Entscheidung:
- Österreich, § 2 (2) des österreichischen Patentgesetzes 1970 in der am 1. August 2016 im Amtsblatt veröffentlichten Fassung;
- Belgien, Artikel XI.5 § 1, Nr. 3 des belgischen Wirtschaftsgesetzbuchs (Code de droit économique – Dispositions relatives au droit d'obtenteur) 2013, geändert mit Wirkung vom 1. Juni 2019;
- Frankreich, Artikel L611-19 I Nr. 3bis des französischen Patentgesetzes (Code de la propriété intellectuelle), geändert durch Artikel 9 des Gesetzes Nr. 2016-1087 vom 8. August 2016 zur Wiederherstellung der biologischen Vielfalt, der Natur und der Landschaften;
- Norwegen, Abschnitt C – Kapitel IV – 2a.3.2 der Prüfungsrichtlinien des norwegischen Amts für geistiges Eigentum, auch wenn § 1 (4) des norwegischen Patentgesetzes (Lov om patenter (patentloven) av 15. desember 1967, nr. 9), zuletzt geändert 2013, sich nicht auf Erzeugnisse bezieht, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen werden;
- Polen, Artikel 29 (1) ii) des polnischen Gesetzes vom 30. Juni 2000 über das gewerbliche Eigentumsrecht (IPL), geändert durch Artikel 1 (4) des Gesetzes vom 16. Oktober 2019 (Gesetzblatt von 2019, Pos. 2309);
- Portugal, Artikel 52 (3) c) des portugiesischen Gesetzes über das gewerbliche Eigentum 2018 (Código da Propriedade Industrial – IPC), Dekret 110/2018 vom 10. Dezember 2018, in Kraft getreten am 1. Juli 2019;
- Serbien, Artikel 9 (3) des Patentgesetzes 2011 in der Fassung vom 16. Dezember 2018.
XV.3.2 Die Große Beschwerdekammer nimmt diese legislativen und administrativen Entwicklungen in rund einem Viertel der Vertragsstaaten zur Kenntnis, die dazu geführt haben, dass für ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnene Tiere, Pflanzen oder Pflanzenmaterialien kein nationaler Patentschutz mehr gewährt wird. Der EPA-Präsident macht ferner geltend, dass ähnliche Entwicklungen in zwei weiteren Vertragsstaaten (Kroatien und Finnland) geplant seien und dass alle Vertragsstaaten, die EU-Mitgliedstaaten seien, gegenüber der EU erklärt hätten, dass ihr nationales Recht und ihre nationale Praxis mit der Kommissionsmitteilung im Einklang stünden (Nr. 104 der Vorlage). Derartige Entwicklungen sind jedoch keine spätere Übereinkunft zwischen "den" – zu verstehen im Sinne von "allen" – Vertragsstaaten über die Auslegung oder die Anwendung des Artikels 53 b) EPÜ, wie in Artikel 31 (3) a) des Wiener Übereinkommens gefordert. Ebenso wenig stellen sie eine spätere Übung bei der Anwendung des EPÜ dar, aus der die Übereinstimmung "der" – wiederum im Sinne von "aller" – Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht, wie in Artikel 31 (3) b) des Wiener Übereinkommens gefordert.
Weitere Erwägungen
Historische Auslegung
XVI. Nach Artikel 32 des Wiener Übereinkommens können ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31 entweder a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt (s. J 8/82, ABl. EPA 1984, 155, Nr. 13 der Entscheidungsgründe; J 4/91, ABl. EPA 1992, 402, Nr. 2.4.2 der Entscheidungsgründe; T 128/82, ABl. EPA 1984, 164, Nr. 9 der Entscheidungsgründe; G 1/98, s. o., Nrn. 3.4 ff. der Entscheidungsgründe; G 2/07 und G 1/08, s. o., Nr. 4.3 der Entscheidungsgründe; G 2/12, s. o., Nr. VII.5 (1) der Entscheidungsgründe).
XVII. Die Große Beschwerdekammer hat sich mehrfach mit der Entstehungsgeschichte des Artikels 53 b) EPÜ befasst und hat im Einklang mit dem allgemein anerkannten und in Artikel 32 des Wiener Übereinkommens verankerten Grundsatz des Völkerrechts bei der Auslegung dieser Vorschrift Materialien zur Entstehung des EPÜ als ergänzendes Auslegungsmittel herangezogen.
In dieser Hinsicht bestätigt die Große Beschwerdekammer ihre Schlussfolgerungen in den Entscheidungen G 1/98 (s. o., Nrn. 3.4 ff. der Entscheidungsgründe, insbesondere Nrn. 3.6 und 3.7), G 2/07 und G 1/08 (s. o., Nr. 6.4.2.2 der Entscheidungsgründe) und G 2/12 (s. o., Nrn. VII.5 (2) bis (5) der Entscheidungsgründe), dass die vorbereitenden Arbeiten ("Travaux préparatoires") im Kontext der damaligen Diskussion darüber, welche Art von erfinderischen Verfahren überhaupt von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sein sollte, keinen Beleg dafür enthalten, dass ein Erzeugnis, das durch sein Herstellungsverfahren gekennzeichnet ist, aber ungeachtet dieses (oder eines anderen) Verfahrens geschützt werden soll, von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sein sollte.
Dynamische Auslegung im Lichte der Regel 28 (2) EPÜ
XVIII. Wie vorstehend dargelegt, bekräftigt die Große Beschwerdekammer in ihrer derzeitigen Zusammensetzung sowohl die Schlussfolgerungen als auch die Begründung der Entscheidung G 2/12 (s. o.). Dies bedeutet jedoch nicht, dass mit der Entscheidung G 2/12 die Bedeutung der Ausnahme von der Patentierbarkeit nach Artikel 53 b) EPÜ endgültig geklärt wäre, denn es kann sich später erweisen, dass es Aspekte oder Entwicklungen gibt, die zum Zeitpunkt der Entscheidung unbekannt oder für den Fall unerheblich waren oder aus anderen Gründen nicht berücksichtigt wurden.
XIX. In der Entscheidung T 1063/18 (s. o., Nrn. 31 bis 36 der Entscheidungsgründe) kam die Beschwerdekammer zu dem Schluss, dass der Erlass der Regel 28 (2) EPÜ keine neue Entwicklung sei, die bei der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ zu berücksichtigen sei, insbesondere, weil dem Verwaltungsrat die Befugnis fehle, diesen Artikel mittels der Ausführungsordnung zu "ändern". Die Schlussfolgerung der Kammer scheint darauf zu beruhen, dass die Große Beschwerdekammer in G 2/12 (s. o.) eine definitive Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses getroffen habe, die nur durch eine förmliche Änderung des Artikels 53 b) EPÜ selbst aufgehoben werden könne.
XX. Diese Sichtweise, die weder vom EPÜ selbst noch von einem allgemeinen Rechtsgrundsatz gestützt wird, ist jedoch zu streng, wenn man bedenkt, dass Artikel 53 b) EPÜ als auslegungsoffen anerkannt worden ist und dass zudem eine später erlassene Regel, die von einer bestimmten Auslegung eines Artikels des EPÜ durch eine Beschwerdekammer abweicht, nicht für sich genommen ultra vires ist (s. T 315/03, s. o., Nr. 7.3 der Entscheidungsgründe).
Eine bestimmte Auslegung einer Rechtsvorschrift ist niemals in Stein gemeißelt, weil sich die Bedeutung der Vorschrift im Laufe der Zeit ändern oder weiterentwickeln kann. Dieser Aspekt ist der laufenden Rechtsfortbildung durch die Rechtsprechung immanent, und kommt im Kontext der Rechtsprechung der Beschwerdekammern in Artikel 21 VOBK 2020 zum Ausdruck, wonach eine Kammer, die von einer früheren Entscheidung oder Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer abweichen will, die Große Beschwerdekammer mit der Frage befassen muss. Eine solche neue Vorlage wäre sinnlos, wenn es keine Möglichkeit gäbe – nicht einmal eine theoretische –, dass die Große Beschwerdekammer ihre frühere Beurteilung der Rechtsfrage revidiert.
Ob eine geänderte Auslegung, die mittels einer Regel erfolgt, rechtsstaatlichen Grundsätzen dahin gehend entspricht, dass sie die rechtlichen Grenzen des jeweiligen Artikels nicht überschreitet, ist eine gesonderte Überlegung.
XXI. Folglich kann sich das Verständnis des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses nach Artikel 53 b) EPÜ, zu dem die Große Beschwerdekammer in der Entscheidung G 2/12 (s. o.) gelangt ist, später in rechtlicher oder gar in praktischer oder sachlicher Natur weiterentwickeln.
XXII. In den Fällen G 3/98 (s. o., 76 ff., Nrn. 2.5 ff. der Entscheidungsgründe) und G 2/12 (s. o., Nr. VIII.1 (1) der Entscheidungsgründe) verwies die Große Beschwerdekammer auf einen weiteren Ansatz bei der Auslegung eines Rechtsbegriffs oder einer Vorschrift des EPÜ, nämlich die "dynamische Auslegung". Diese Auslegungsmethode könnte zum Tragen kommen, wenn sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben haben, die Grund zu der Annahme geben könnten, eine dem Wortlaut getreue Auslegung der einschlägigen Vorschrift würde in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen stehen. So könnte sie zu einem vom Gesetzeswortlaut abweichenden Ergebnis führen.
XXIII. Trotz der erheblichen Änderungen, die im Zuge der Revision des EPÜ im Jahr 2000 erfolgt sind, ist Artikel 53 b) EPÜ seit der Abfassung des EPÜ unverändert geblieben. Sein Gesetzeszweck gilt unverändert (s. hierzu G 2/07 und G 1/08, s. o., Nr. 6.4.2.2 der Entscheidungsgründe, auf die auch in G 2/12 verwiesen wird, s. o., Nr. VIII.1 (2) der Entscheidungsgründe).
XXIV. Doch obwohl weder die Vertragsstaaten gemäß Artikel 172 EPÜ noch der Verwaltungsrat nach Artikel 33 (1) b) EPÜ formell Artikel 53 b) EPÜ dahin gehend geändert haben, dass sich der Verfahrensausschluss auf durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnene Tiere, Pflanzen und Pflanzenmaterialien erstreckt, kann die Große Beschwerdekammer bei der jetzigen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ nicht mehr den Beschluss des Verwaltungsrats außer Acht lassen, einen neuen Absatz 2 in Regel 28 EPÜ aufzunehmen.
XXV. In diesem Zusammenhang ist sich die Große Beschwerdekammer des Arguments bewusst, das in einigen Amicus-curiae-Schriftsätzen, insbesondere von Professor M. Haedicke, vorgebracht wurde, dass der Verwaltungsrat als das zum Erlass des Sekundärrechts, d. h. der Ausführungsordnung, befugte Organ mit dem Erlass der Regel 28 (2) EPÜ seine Pflicht zur Loyalität gegenüber bzw. zur loyalen Zusammenarbeit mit der Judikative, d. h. den Beschwerdekammern und insbesondere der Großen Beschwerdekammer, verletzt habe. Weiter wurde vorgebracht, dass jeder Versuch, eine bestimmte Auslegung eines Artikels des EPÜ durch regulatorische Mittel festzulegen, einer formellen Änderung des Artikels selbst bedürfe.
Diese Konzepte sind Teil der bestehenden rechtsstaatlichen Grundsätze, die die Doktrin der Gewaltenteilung untermauern. Ein weiterer Aspekt nach deutschem Verfassungsrecht ist das Wesentlichkeitsprinzip, dem zufolge gesetzgebende Beschlüsse in Angelegenheiten von grundlegender oder wesentlicher Bedeutung der Legislative (dem Parlament) vorbehalten sind. Derartige Beschlüsse dürften nicht von Verwaltungsorganen mittels Verwaltungsvorschriften getroffen werden.
XXV.1 Die EPO ist eine zwischenstaatliche Organisation, die nach dem Völkerrecht von Nationalstaaten, also den Vertragsstaaten, gemäß deren jeweiligen verfassungsrechtlichen Strukturen gegründet wurde, und ihrerseits rechtsstaatlich verfasst ist (G 3/08, s. o., Nr. 7.2.1, mit weiteren Verweisen auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern und der Großen Beschwerdekammer).
Den rechtsstaatlichen Grundsätzen haben sich im Wesentlichen alle Vertragsstaaten auf nationaler Ebene ungeachtet ihrer unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Traditionen verpflichtet.
XXV.2 Der genaue Umfang dieser Grundsätze und ihre Umsetzung müssen jedoch die Besonderheiten und die Organisationsstruktur der EPO widerspiegeln. Die Struktur der EPO mit den beiden Organen EPA und Verwaltungsrat ist in Artikel 4 (2) EPÜ festgelegt, wobei die Aufgabe der Erteilung europäischer Patente durch das EPA unter Aufsicht des Verwaltungsrats durchgeführt wird (Artikel 4 (3) EPÜ). In dieser Hinsicht haben sowohl das EPA als auch der Verwaltungsrat Exekutivfunktion. Darüber hinaus ist der Verwaltungsrat nach Artikel 33 EPÜ das für den Erlass des Sekundärrechts zuständige Organ. Den Beschwerdekammern ist im europäischen Patentsystem die Rolle einer unabhängigen Gerichtsbarkeit zugewiesen (Artikel 21 bis 23 EPÜ; G 6/95, ABl. EPA 1996, 649, Nrn. 2 ff. der Entscheidungsgründe); sie sind zwar eine gesonderte Organisationseinheit mit verstärkter organisatorischer und managementbezogener Autonomie (CA/43/16 rev. 1), sind aber nach Artikel 4 (2) EPÜ dennoch kein Organ der EPO, sondern nach Artikel 15 EPÜ strukturell in das EPA integriert.
Insbesondere hat die EPO kein Parlament, das der Legislative entspricht, die Teil der verfassungsrechtlichen Strukturen der Vertragsstaaten ist.
XXV.3 In Anbetracht der besonderen Organisationsstruktur und Verfasstheit der EPO gibt es keine Grundlage für die in Amicus-curiae-Schriftsätzen geäußerte Auffassung, dass der Erlass der Regel 28 (2) EPÜ durch den Verwaltungsrat gegen die Doktrin der Gewaltenteilung und das Wesentlichkeitsprinzip verstoße.
XXV.3.1 Erstens kann die Große Beschwerdekammer – ungeachtet einer allgemeinen Loyalitätspflicht aller Organe und Gremien – aus der Doktrin der Gewaltenteilung nicht ableiten, dass es ein allgemeines Verbot des Erlasses von Sekundärrecht (hier der Regel 28 (2) EPÜ) gäbe, das die Auslegung einer Vorschrift des Primärrechts (hier des Artikels 53 b) EPÜ) durch ein Gericht (hier die Große Beschwerdekammer) betrifft. Dieses Argument geht nicht einmal auf die eigentliche Rechtsfrage ein, die der neu formulierten Frage zugrunde liegt und die nicht auf Regel 28 (2) EPÜ gerichtet ist, sondern auf die Frage einer potenziellen Neuauslegung des Artikels 53 b) EPÜ selbst durch die Große Beschwerdekammer als zuständiges unabhängiges Rechtsprechungsorgan nach Artikel 112 (1) EPÜ.
XXV.3.2 Zweitens kann, da die EPO kein Parlament hat, das Wesentlichkeitsprinzip nicht unmittelbar angewendet werden. Selbst wenn dieses Prinzip so zu verstehen wäre, dass es allein den Vertragsstaaten zukomme, Artikel 53 b) EPÜ im Rahmen einer Revision des EPÜ nach Artikel 172 EPÜ zu ändern, so wäre dies zu restriktiv, da damit verkannt würde, dass der Verwaltungsrat gezwungen sein kann, Artikel 53 b) EPÜ im Rahmen seiner Befugnisse nach den Artikeln 33 (1) b) und 35 (3) EPÜ zu ändern. Wie im vorhergehenden Absatz erläutert, bezieht sich auch dieses Vorbringen nicht auf die Rechtsfrage, die der neu formulierten Frage zugrunde liegt.
XXV.3.3 Somit begründen weder die Doktrin der Gewaltenteilung noch das Wesentlichkeitsprinzip als solche eine Nichtberücksichtigung der Regel 28 (2) EPÜ für die Zwecke der Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ.
XXVI. Die Änderung der Ausführungsordnung durch die Einführung der Regel 28 (2) EPÜ wurde nach Ergehen der Entscheidung G 2/12 (s. o.) vorgeschlagen und beschlossen. Daher ist zu prüfen, ob und in welchem Umfang diese Neuentwicklung eine dynamische Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ rechtfertigt.
XXVI.1 In diesem Zusammenhang nimmt die Große Beschwerdekammer die vorbereitenden Arbeiten zu Regel 28 (2) EPÜ zur Kenntnis:
- CA/PL PV 45, Protokoll der 45. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" (München, 15. September 2015), Nummern 58 - 72, 80;
- CA/PL 12/15, Präsentation in der 45. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" – Sachstand der Praxis des EPA in Bezug auf Tomate II/Broccoli II, vom 6. November 2015;
- CA/PL 3/16, Rechtsrahmen und Praxis des EPA in Bezug auf die Patentierbarkeit pflanzenbezogener Erfindungen, vom 25. April 2016;
- CA/PL 4/16, Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen – Praxis in EPÜ-Vertragsstaaten und Beobachterstaaten, vom 6. April 2016;
- CA/PL 4/16 Add. 1, Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen – Praxis in EPÜ-Vertragsstaaten und Beobachterstaaten, vom 22. April 2016;
- CA/PL 4/16 Add. 2, Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen – Praxis in EPÜ-Vertragsstaaten und Beobachterstaaten, vom 6. Mai 2016;
- CA/PL 4/16 Add. 3, Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen – Praxis in EPÜ-Vertragsstaaten und Beobachterstaaten, vom 9. Mai 2016;
- CA/PL 4/16 Add. 4, Patentierbarkeit biotechnologischer Erfindungen – Praxis in EPÜ-Vertragsstaaten und Beobachterstaaten, vom 22. November 2016;
- CA/PL PV 46, Protokoll der 46. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" (München, 12. Mai 2016), Nummern 21 - 41;
- CA/PL PV 47, Protokoll der 47. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" (München, 21. und 22. November 2016), Nummern 4 - 42;
- CA/PL 18/16, Präsentation in der 47. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" – Mitteilung der Kommission vom 3. November 2016 über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG (ABl. EU C 411 vom 8.11.2016, S. 3) vom 30. November 2016;
- CA/PL 4/17, Patentierbarkeit von durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnenen Pflanzen und Tieren nach dem EPÜ in der Folge der Mitteilung der EU-Kommission vom 3. November 2016 über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, vom 27. März 2017;
- CA/PL 4/17 Add. 1, Präsentation in der 48. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" – Patentierbarkeit von durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnenen Pflanzen und Tieren nach dem EPÜ in der Folge der Mitteilung der EU-Kommission vom 3. November 2016 über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen, Dokument vom 16. Mai 2017;
- CA/PL 6/17, Aussetzung von Verfahren vor dem EPA zu Erfindungen betreffend Pflanzen oder Tiere, die durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnen werden – CIPA-Positionspapier vom 13. März 2017;
- CA/PL 8/17, Patentierbarkeit von durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnenen Pflanzen und Tieren nach dem EPÜ in der Folge der Mitteilung der EU-Kommission vom 3. November 2016 über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen – Stellungnahme von BUSINESSEUROPE vom 24. April 2017;
- CA/PL 9/17, Patentierbarkeit von durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnenen Pflanzen und Tieren nach dem EPÜ in der Folge der Mitteilung der EU-Kommission vom 3. November 2016 über bestimmte Artikel der Richtlinie 98/44/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen – Stellungnahme des epi vom 25. April 2017;
- CA/PL PV 48, Protokoll der 48. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" (München, 27. und 28. April 2017), Nummern 8 - 92;
- CA/56/17, Ausschluss von der Patentierbarkeit nach Artikel 53 b) EPÜ von durch im Wesentlichen biologische Verfahren gewonnenen Pflanzen und Tieren – Änderung der Regeln 27 b) und 28 EPÜ, vom 6. Juni 2017;
- CA/PV 152, Protokoll der 152. Tagung des Verwaltungsrats (Den Haag, 28. und 29. Juni 2017), Nummern 128 – 144;
- CA/72/17, Zusammenfassung der Beschlüsse der 152. Tagung des Verwaltungsrats (Den Haag, 28. und 29. Juni 2017), Nummern 14, 37 – 39.
XXVI.2 Der Großen Beschwerdekammer sind auch die Nachfolgedokumente zur Patentierbarkeit von pflanzen- und tierbezogenen Erfindungen nach dem EPÜ bekannt:
- CA/PL 3/18, Aktualisierte Informationen zur Patentierbarkeit von pflanzen- und tierbezogenen Erfindungen nach dem EPÜ, vom 30. Januar 2018;
- CA/PL PV 49, Protokoll der 49. Sitzung des Ausschusses "Patentrecht" (München, 20. Februar 2018), Nummern 19 – 26 (Beratungen über das vorstehende Dokument).
XXVI.3 In Anbetracht des Wortlauts der Regel 28 (2) EPÜ und der vorbereitenden Arbeiten zu dieser Regel erkennt die Große Beschwerdekammer an, dass es die Absicht des EPÜ-Gesetzgebers war, auf diese Weise eine bestimmte Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ zu begründen, wonach Pflanzen oder Tiere, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind.
Wie vorstehend dargelegt, führt die Anwendung der verschiedenen Auslegungsmethoden nach Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens, bei der auch die späteren Entwicklungen in den Vertragsstaaten berücksichtigt werden, nicht zu der Feststellung, dass der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" in Artikel 53 b) EPÜ klar und eindeutig so zu verstehen wäre, dass er sich auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder gewonnen werden. Die Große Beschwerdekammer bestätigt daher die Schlussfolgerung, zu der sie in der Entscheidung G 2/12 (s. o., Nrn. VII.6 (2) und (3) der Entscheidungsgründe) gelangt war.
XXVI.4 Gleichzeitig erkennt die Große Beschwerdekammer jedoch an, dass Artikel 53 b) EPÜ einem solchen umfassenderen Verständnis des Verfahrensausschlusses auch nicht entgegensteht. Außerdem erkennt sie an, dass sich die der Entscheidung G 2/12 (s. o.) zugrunde liegende Rechts- und Sachlage mit dem Erlass der Regel 28 (2) EPÜ wesentlich geändert hat. Diese Änderung stellt einen neuen Aspekt oder Gesichtspunkt dar, der sich seit der Unterzeichnung des EPÜ ergeben hat und Grund zu der Annahme geben kann, dass eine grammatische und restriktive Auslegung des Wortlauts des Artikels 53 b) EPÜ in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen steht, während eine dynamische Auslegung zu einem vom Wortlaut der Vorschrift abweichenden Ergebnis führen könnte.
XXVI.5 Die überwiegende Mehrheit der im Verwaltungsrat vertretenen Vertragsstaaten stimmte für die Aufnahme der Regel 28 (2) EPÜ (dafür: 35; dagegen: 1; Enthaltungen: 1; nicht anwesend: 1; s. Protokoll der 152. Tagung des Verwaltungsrats vom 28. und 29. Juni 2017, CA/PV 152). Dies verdeutlicht, wie sehr sich die Absicht und die Ziele der Vertragsstaaten im Hinblick auf Artikel 53 b) EPÜ seit Ergehen der Entscheidung G 2/12 weiterentwickelt haben. Darüber hinaus haben etliche von ihnen ihre nationalen Bestimmungen inhaltlich an die Regel 28 (2) EPÜ angepasst.
XXVI.6 Deshalb ist der Schluss zu ziehen, dass die Vertragsstaaten mit der Aufnahme der Regel 28 (2) EPÜ beabsichtigt haben, dass Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere von der Patentierbarkeit auszuschließen sind, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert.
Die Große Beschwerdekammer vertritt die Auffassung, dass dieser Patentierbarkeitsausschluss nicht mit dem Wortlaut des Artikels 53 b) EPÜ unvereinbar ist, der, wie dargelegt, diese breitere Auslegung des Begriffs "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" nicht ausschließt. Angesichts der eher außergewöhnlichen Umstände, von denen die verschiedenen Ansätze zur Bestimmung des Umfangs des Verfahrensausschlusses in Artikel 53 b) EPÜ bis jetzt geprägt waren, könnte Regel 28 (2) EPÜ als Ausdruck der Absicht der Vertragsstaaten angesehen werden, diesem Begriff eine besondere Bedeutung zu verleihen.
XXVI.7 Schließlich kommt die Große Beschwerdekammer zu dem Ergebnis, dass die Aufnahme der Regel 28 (2) EPÜ angesichts der eindeutigen gesetzgeberischen Absicht der im Verwaltungsrat vertretenen Vertragsstaaten und im Hinblick auf Artikel 31 (4) des Wiener Übereinkommens eine dynamische Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ zulässt und sogar verlangt.
XXVI.8 Die Große Beschwerdekammer gibt deshalb die in G 2/12 (s. o.) getroffene Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ auf und befindet im Lichte der Regel 28 (2) EPÜ, dass der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" in Artikel 53 b) EPÜ so zu verstehen und anzuwenden ist, dass er sich auf Erzeugnisse erstreckt, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, oder auf Fälle, in denen das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert.
Sonstiges
Vereinbarkeit mit Artikel 164 (2) EPÜ
XXVII. Da Regel 28 (2) EPÜ nicht in inhaltlichem Widerspruch zu der in dieser Stellungnahme enthaltenen neuen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ steht, besteht keine mangelnde Übereinstimmung zwischen diesen Vorschriften.
Artikel 164 (2) EPÜ, der einem Artikel des EPÜ den Vorrang gegenüber einer dazu im Widerspruch stehenden Regel der Ausführungsordnung einräumt und der von der Beschwerdekammer in T 1063/18 (s. o.) in Anbetracht der früheren Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ in G 2/12 (s. o.) angewandt wurde, ist somit nicht relevant.
Folgen der neuen Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ für erteilte europäische Patente und anhängige europäische Patentanmeldungen
XXVIII. Das neue Verständnis von Artikel 53 b) EPÜ, das aus der dynamischen Auslegung dieser Vorschrift durch die Große Beschwerdekammer resultiert, wirkt sich negativ auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen und Product-by-Process-Ansprüchen aus, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder die beanspruchten Verfahrensmerkmale ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definieren.
XXIX. Zur Wahrung der Rechtssicherheit und zum Schutz der berechtigten Interessen der Patentinhaber und Anmelder hält die Große Beschwerdekammer es für angebracht, dass die in dieser Stellungnahme getroffene neue Auslegung des Artikels 53 b) EPÜ keine Rückwirkung entfaltet für europäische Patente mit derartigen Ansprüchen, die vor Inkrafttreten der Regel 28 (2) EPÜ am 1. Juli 2017 erteilt wurden, oder für vor diesem Tag eingereichte und noch anhängige europäische Patentanmeldungen, in denen Schutz für derartige Ansprüche begehrt wird.
Bei Anmeldungen ist der Anmeldetag oder, wenn eine Priorität beansprucht wurde, der Prioritätstag ausschlaggebend.
Schlussfolgerung
Auf der Grundlage ihres Verständnisses des eigentlichen Gegenstands der ihr vom EPA-Präsidenten vorgelegten Rechtsfrage und ihrer vorstehend dargelegten Feststellungen
beantwortet die Große Beschwerdekammer diese Frage wie folgt:
Unter Berücksichtigung der Entwicklungen nach den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13 der Großen Beschwerdekammer
wirkt sich der Patentierbarkeitsausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren in Artikel 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen und Product-by-Process-Ansprüchen aus, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder die beanspruchten Verfahrensmerkmale ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definieren.
Diese negative Auswirkung gilt nicht für vor dem 1. Juli 2017 erteilte europäische Patente und für anhängige europäische Patentanmeldungen, die vor diesem Tag eingereicht wurden und noch anhängig sind.