BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Stellungnahme der Großen Beschwerdekammer vom 16. Dezember 2005 - G 1/04
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Messerli |
Mitglieder: | W. Moser |
| U. Kinkeldey |
| A. Nuss |
| J.-C. Saisset |
| M. Seppik |
| H. C. Thomsen |
Stichwort: Diagnostizierverfahren
Artikel: 4 (3), 52 (1), (2) und (4), 57, 84 und 112 (1) b) EPÜ
Regel: 29 EPÜ
Artikel: 53 c) EPÜ in der revidierten Fassung
Schlagwort: "Diagnostizierverfahren gemäß Artikel 52 (4) EPÜ als mittels einer gesetzlichen Fiktion von der Patentierbarkeit ausgeschlossene Erfindungen" - "Richtige Auslegung der in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Begriffe "Diagnostizierverfahren" und "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" - Erfordernisse der Klarheit und der Rechtssicherheit - Schwierigkeit der Definition von Human- und Veterinärmedizinern auf europäischer Ebene im Rahmen des EPÜ - wesentliche Merkmale eines nach Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossenen Diagnostizierverfahrens - Einstufung einer Tätigkeit als diagnostisch - Bedingungen für die Qualifizierung eines Diagnostizierverfahrens als am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen"
Leitsätze:
I. Damit der Gegenstand eines Anspruchs für ein am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenes Diagnostizierverfahren unter das Patentierungsverbot des Artikels 52 (4) EPÜ fällt, muss der Anspruch die Merkmale umfassen, die sich auf Folgendes beziehen:
i) die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, also die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase als rein geistige Tätigkeit,
ii) die vorausgehenden Schritte, die für das Stellen dieser Diagnose konstitutiv sind, und
iii) die spezifischen Wechselwirkungen mit dem menschlichen oder tierischen Körper, die bei der Durchführung derjenigen vorausgehenden Schritte auftreten, die technischer Natur sind.
II. Ob ein Verfahren ein Diagnostizierverfahren im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ ist, kann weder von der Beteiligung eines Human- oder Veterinärmediziners, der persönlich anwesend ist oder die Verantwortung trägt, abhängig sein noch davon, dass alle Verfahrensschritte auch oder nur von medizinischem oder technischem Hilfspersonal, dem Patienten selbst oder einem automatisierten System vorgenommen werden können. Ebenso wenig darf in diesem Zusammenhang zwischen wesentlichen Verfahrensschritten mit diagnostischem Charakter und unwesentlichen Verfahrensschritten ohne diagnostischen Charakter unterschieden werden.
III. Bei einem Diagnostizierverfahren gemäß Artikel 52 (4) EPÜ müssen die technischen Verfahrensschritte, die für das Stellen der Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne konstitutiv sind und ihr vorausgehen, das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllen.
IV.Artikel 52 (4) EPÜ verlangt keine bestimmte Art oder Intensität der Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper; ein vorausgehender technischer Verfahrensschritt erfüllt somit das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen", wenn seine Ausführung irgendeine Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper einschließt, die zwangsläufig dessen Präsenz voraussetzt.
Zusammenfassung des Verfahrens
I. Am 29. Dezember 2003 legte der Präsident des EPA in Ausübung seiner Befugnis nach Artikel 112 (1) b) EPÜ der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vor:
1a. Sind "Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden", im Sinne von Artikel 52 (4) EPÜ (im Folgenden: "Diagnostizierverfahren") nur solche Verfahren, die alle beim Stellen einer ärztlichen Diagnose auszuführenden Verfahrensschritte enthalten, d. h. die Untersuchungsphase mit der Sammlung der einschlägigen Daten, den Vergleich der gewonnenen Untersuchungsdaten mit den Normwerten, die Feststellung einer signifikanten Abweichung (eines Symptoms) bei diesem Vergleich und schließlich die Zuordnung der Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild (die deduktive medizinische Entscheidungsphase), oder
1b. liegt ein "Diagnostizierverfahren" bereits dann vor, wenn das beanspruchte Verfahren nur einen Verfahrensschritt enthält, der Diagnosezwecken dient oder sich auf die Diagnose bezieht?
2. Falls die Frage 1b bejaht wird: Muss das beanspruchte Verfahren ausschließlich zu Diagnosezwecken einsetzbar sein oder sich ausschließlich auf die Diagnose beziehen? Nach welchen Kriterien ist dies zu beurteilen?
3a. Liegt ein "Diagnostizierverfahren" bereits dann vor, wenn
i) das beanspruchte Verfahren zumindest einen für das Vorliegen eines Diagnostizierverfahrens als wesentlich erachteten Verfahrensschritt enthält, der die persönliche Anwesenheit eines Arztes erfordert (Alternative 1), oder
ii) das beanspruchte Verfahren zwar nicht die persönliche Anwesenheit eines Arztes erfordert, aber voraussetzt, dass ein Arzt die Verantwortung trägt (Alternative 2), oder
iii) alle Verfahrensschritte auch oder nur von medizinischem oder technischem Hilfspersonal, vom Patienten selbst oder von einem automatisierten System vorgenommen werden können (Alternative 3)?
3b. Falls die Beteiligung eines Arztes (durch persönliche Anwesenheit oder Tragen der Verantwortung) entscheidend ist, muss der Arzt dann an dem Verfahrensschritt beteiligt sein, der am Körper vorgenommen wird, oder muss der Arzt nur an irgendeinem für ein Diagnostizierverfahren als wesentlich erachteten Verfahrensschritt beteiligt sein?
4. Bedeutet das Erfordernis "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen", dass Verfahrensschritte in direktem Kontakt mit dem Körper erfolgen, und können nur solche Schritte, die unmittelbar am Körper vorgenommen werden, einem Verfahren den Charakter eines Diagnostizierverfahrens verleihen, oder genügt es, wenn wenigstens einer der Verfahrensschritte unmittelbar am Körper vorgenommen wird?
II. In der Begründung seiner Vorlage verwies der Präsident des EPA auf widersprüchliche Entscheidungen der Beschwerdekammern in der obigen Rechtsfrage und brachte im Wesentlichen folgende Argumente vor:
i) Gemäß der Entscheidung T 385/86 (ABl. EPA 1988, 308) seien als Diagnostizierverfahren nur diejenigen Verfahren vom Patentschutz ausgenommen, deren Ergebnis unmittelbar gestatte, über eine bestimmte medizinische Behandlung zu entscheiden. Dies sei wiederum nur dann der Fall, wenn das beanspruchte Verfahren alle Schritte enthalte, die beim Stellen einer ärztlichen Diagnose auszuführen seien. Es seien dies die Schritte Untersuchung, Feststellung einer signifikanten Abweichung vom Normwert sowie Zuordnung der Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild. Dementsprechend stellten Verfahren, die lediglich Zwischenergebnisse lieferten, keine Diagnostizierverfahren dar, und zwar selbst dann nicht, wenn die Ergebnisse beim Stellen einer Diagnose verwertbar seien. Solch ein enges Begriffsverständnis habe zur Folge, dass Verfahren, die nicht alle beim Stellen einer ärztlichen Diagnose auszuführenden Schritte umfassten, nicht nach Artikel 52 (4) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen seien.
ii) In Abweichung zu dem in T 385/86 erläuterten Begriffsverständnis sei in der Entscheidung T 964/99 (ABl. EPA 2002, 4) die Auffassung vertreten worden, dass der Ausdruck "Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden" nicht nur im Sinne von Verfahren zu verstehen sei, die alle beim Stellen einer ärztlichen Diagnose auszuführenden Schritte enthielten. Artikel 52 (4) EPÜ solle alle am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Verfahren vom Patentschutz ausschließen, die sich auf die Diagnose bezögen oder für Diagnosezwecke von Nutzen seien. Demnach genüge es zur Bejahung des Ausschlusses nach Artikel 52 (4) EPÜ bereits, dass das beanspruchte Verfahren einen Verfahrensschritt umfasse, der Diagnosezwecken diene bzw. sich auf die Diagnose beziehe und als wesentliche zur Diagnose gehörende und am lebenden menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Tätigkeit anzusehen sei.
iii) Wie in der Entscheidung T 964/99 festgestellt, würde mit der in der Entscheidung T 385/86 enthaltenen Forderung, dass für das Vorliegen eines Diagnostizierverfahrens alle beim Stellen einer ärztlichen Diagnose auszuführenden Schritte enthalten sein müssen, für Diagnostizierverfahren ein anderer Standard gesetzt als für chirurgische oder therapeutische Verfahren, da letztere bereits dann vom Patentschutz ausgeschlossen seien, wenn sie nur einen einzigen chirurgischen oder therapeutischen Verfahrensschritt enthielten.
iv) In der Entscheidung T 385/86 werde der Begriff "Diagnostizierverfahren" mit "Diagnose" gleichgesetzt, indem die Erkennung, die Unterscheidung und die Bestimmung eines pathologischen Zustands sowie die Zuordnung der Abweichung zu einem Krankheitsbild notwendige Bestandteile eines solchen Verfahrens sein müssten. Eine so enge Auslegung habe zur Folge, dass ein wegen Artikel 52 (4) EPÜ dem Patentschutz nicht zugängliches Diagnostizierverfahren durch Weglassen vornehmlich des Vergleichsschritts im Anspruch in ein u. U. patentierbares Messverfahren umgewandelt werden könnte. Demgegenüber könnten nach T 964/99 sogar Verfahren unter Artikel 52 (4) EPÜ fallen, die nur einen Schritt enthielten, der Diagnosezwecken diene bzw. sich auf die Diagnose beziehe und als wesentliche zur Diagnose gehörende und am lebenden menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Tätigkeit zu betrachten sei. Die Entscheidung T 964/99 gehe allerdings nicht ausdrücklich darauf ein, ob der Diagnosezweck bzw. der Bezug zur Diagnose des betreffenden Verfahrensschritts sich aus den Patentansprüchen selbst ergeben müsse oder ob es ausreiche, wenn sich dieser Zweck bzw. Bezug explizit oder implizit aus den gesamten Anmeldungsunterlagen ergebe.
v) In der Entscheidung T 385/86 sei ferner erwogen worden, ob - ausgehend davon, dass die Vorschrift des Artikels 52 (4) Satz 1 EPÜ verhindern solle, dass der Arzt bei der Ausübung seiner Heilkunst durch Patentrechte behindert werde - das beanspruchte Verfahren, das nicht alle bei einer ärztlichen Diagnosestellung auszuführenden Schritte enthielt, trotzdem deshalb nicht als gewerblich anwendbar gelten könne, weil es ausschließlich von einem Arzt in Ausübung seiner Heilkunst ausführbar sei (Nr. 3.5 der Entscheidungsgründe). Dabei gelangte die Kammer zu dem Schluss, dass neben Verfahren, die Diagnostizierverfahren seien, weil sie alle beim Stellen einer Diagnose auszuführenden Schritte umfassten, auch ein Verfahren als Diagnostizierverfahren angesehen werden könne, das zumindest einen Verfahrensschritt enthalte, der ausschließlich von einem Arzt durchgeführt werden könne. In Fällen dagegen, in denen nicht alle Schritte, die zur Stellung einer Diagnose auszuführen sind, beansprucht seien, sei das Vorliegen eines Diagnostizierverfahrens zu verneinen, wenn alle Schritte des beanspruchten Verfahrens von einem technisch vorgebildeten Fachmann ohne medizinische Fachkenntnisse und Fähigkeiten oder vom Patienten selbst ausgeführt werden könnten.
vi) Während die Entscheidung T 385/86 in einer weiteren Prüfung darauf abstelle, ob zumindest ein Verfahrensschritt enthalten sei, der vom Arzt selbst durchgeführt werden müsse, sei nach der Entscheidung T 964/99 der Charakter der Tätigkeit maßgebend; die persönliche Anwesenheit des Arztes bei der Durchführung des Verfahrens scheine dabei keine notwendige Voraussetzung zu sein. Die Entscheidung T 964/99 könnte vielmehr so verstanden werden, dass ein "Diagnostizierverfahren" nach Artikel 52 (4) EPÜ auch dann vorliegen könne, wenn ein Arzt nicht notwendigerweise für einen der Verfahrensschritte die Verantwortung trage.
vii) In dieser weiten Auslegung scheine es dann maßgeblich auf das Kriterium anzukommen, ob ein spezifischer Verfahrensschritt mit diagnostischem Charakter enthalten sei. Ein solcher diagnostischer Charakter scheine regelmäßig dann gegeben zu sein, wenn ein Arzt diesen Verfahrensschritt persönlich vornehmen müsse oder hierfür die Verantwortung trage. Doch selbst wenn keine dieser beiden Alternativen gegeben sei, könnte dennoch ein Verfahrensschritt mit diagnostischem Charakter vorliegen. Vor dem Hintergrund der Entscheidung T 310/99 vom 1. April 2003 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) sei jedoch ungewiss, ob eine derartige Interpretation zulässig sei. Nach dieser Entscheidung sei nämlich nicht nur danach zu fragen, wer an der Durchführung des Verfahrens beteiligt sei. Da die beanspruchten Tätigkeiten zweifellos von einem Laborassistenten ohne tatsächliche Beteiligung eines Arztes ausgeführt werden konnten, sei das Vorliegen eines "Diagnostizierverfahrens" verneint worden (Nr. 14 der Entscheidungsgründe).
viii) Es scheine daher weiterhin klärungsbedürftig, ob es für die Einstufung einer Tätigkeit als diagnostisch auf die beteiligten Personen ankomme oder ob dem nur eine Indizwirkung dergestalt zukomme, dass, wenn das beanspruchte Verfahren von einem Arzt oder unter der Verantwortung eines Arztes durchzuführen sei, es in der Regel unter den Ausschluss des Artikels 52 (4) EPÜ falle.
ix) In der Entscheidung T 385/86 sei das Merkmal, dass das Diagnostizierverfahren "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" werden müsse, dahingehend verstanden worden, dass alle ein Diagnostizierverfahren kennzeichnenden Schritte am menschlichen oder tierischen Körper selbst vorzunehmen seien. Sowohl die Untersuchungsphase (Istwert-Ermittlung) als auch die Feststellung der Symptome anhand des Untersuchungsergebnisses (d. h. die Abweichung der ermittelten Istwerte von Normwerten) müssten demnach am lebenden menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden. Dementsprechend müssten sowohl die ermittelten Istwerte als auch die als Krankheitssymptom zu wertende Abweichung von einem Normwert ohne Weiteres direkt an Körperpartien ablesbar bzw. unmittelbar am Körper selbst wahrnehmbar sein (siehe Nrn. 4.2 und 4.3 der Entscheidungsgründe). Nach T 385/86 wäre also bereits dann, wenn ein Teil des Diagnostizierverfahrens außerhalb des untersuchten Körpers durchgeführt wird, das Kriterium "am … Körper vorgenommen" nicht erfüllt. Das Ergebnis der Wechselwirkung des Körpers mit einem diagnostischen Untersuchungsmittel scheine unmittelbar am Körper ablesbar sein zu müssen. Welche Intensität oder Qualität diese Wechselwirkung aufweise, scheine dagegen im Hinblick auf das Merkmal "am … Körper vorgenommen" nicht maßgeblich.
x) Aus der Entscheidung T 964/99 lasse sich schließen, dass das Merkmal "am … Körper vorgenommen" jedenfalls dann erfüllt sei, wenn ein direkter Kontakt mit dem Körper gegeben sei. Darüber hinaus stelle sich jedoch die Frage, ob es für die Erfüllung dieses Merkmals auch ausreichen könne, wenn eine andere Art der Wechselwirkung mit dem lebenden Körper entstehe. Zu denken wäre beispielsweise an nichtinvasive Verfahren - z. B. unter Einsatz von Strahlungen -, die zu Mess- und Analysezwecken vorgenommen werden und die Grundlage für eine Diagnose bilden können. Über die Qualität oder Intensität einer Wechselwirkung für die Erfüllung dieses Merkmals fänden sich in T 964/99 keine näheren Ausführungen. Dem Wortlaut des Artikels 52 (4) EPÜ ("die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden") zufolge könnte möglicherweise bereits die reine Präsenz des menschlichen oder tierischen Körpers ausreichen, so dass auch eine Begutachtung des Erscheinungsbilds des menschlichen oder tierischen Körpers darunter subsumiert werden könnte. Diese Interpretation scheine in der Entscheidung T 775/92 vom 7. April 1993 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) angewandt worden zu sein, wo auch eine Fernwechselwirkung mit dem Körper als diagnostisches Verfahren eingestuft worden sei (siehe Nr. 10 der Entscheidungsgründe).
xi) Nach der Entscheidung T 964/99 müssten offenbar nicht sämtliche Verfahrensschritte am Körper vorgenommen werden, um den Patentierungsausschluss der am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnostizierverfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ bejahen zu können. Es scheine vielmehr auszureichen, dass einer dieser Schritte am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werde. Eine solche Interpretation scheine auch im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung zu chirurgischen und therapeutischen Verfahren.
xii) In der Entscheidung T 964/99 sei der Verfahrensschritt, der "diagnostischen Charakter" hatte, zugleich auch derjenige gewesen, der "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" wurde. Dies werfe folglich die Frage auf, ob diese Verknüpfung stets bestehen müsse, oder ob unter Umständen ein "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenes Diagnostizierverfahren" auch dann vorliegen könne, wenn in einem mehrstufigen Verfahren nicht der Verfahrensschritt, der sich auf die Diagnose beziehe und eine wesentliche Diagnosemaßnahme sei, "am … Körper" vorgenommen werde. In der Tat scheine laut der Entscheidung T 807/98 vom 25. April 2002 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) der Verfahrensschritt mit "diagnostischem Charakter" auch außerhalb des Körpers erfolgen zu können.
III. Stellungnahmen Dritter ("amicus curiae briefs")
Stellungnahmen wurden eingereicht von der Internationalen Federation von Patentanwälten (FICPI), der Europäischen Gesellschaft für Humangenetik (ESHG), Herrn Simon Kremer von Mewburn Ellis, European Patent Attorneys, London, Herrn Dr. H.-P. Pfeifer im Namen von Roche Diagnostics, Philips Intellectual Property & Standards, Herrn Andrew Sheard im Namen von Amersham plc (jetzt GE Healthcare Bio-Sciences), der Siemens AG, der Praxis Dr. med. Ulrich Kübler, der Società Italiana Brevetti und dem Institut der beim Europäischen Patentamt zugelassenen Vertreter (epi). In den Schriftsätzen wurde unter anderem Folgendes vorgebracht:
a) Stellungnahmen zu Gunsten einer engen Auslegung des Ausschlusses von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren
i) Der Ausschluss von Diagnostizierverfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ sei in Verbindung mit Artikel 4 (3) EPÜ zu sehen, wonach es Aufgabe der EPO sei, Patente zu erteilen. Jede Ausnahme von dieser Vorschrift sei daher eng auszulegen. Der Wortlaut des Artikels 52 (4) EPÜ schließe nur am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Diagnostizierverfahren aus. Dieser Wortlaut sei bewusst so gewählt worden, dass er sich nicht auf alle Diagnostizierverfahren beziehe.
ii) Nach der Entscheidung T 964/99 sei jedes die Entnahme von Körperproben umfassende Verfahren ein unter die Ausschlussbestimmung des Artikels 52 (4) EPÜ fallendes Diagnostizierverfahren, und dies unabhängig davon, ob die Proben von einem Arzt oder vom Patienten selbst entnommen würden. Die Abgabe einer Urin- oder Speichelprobe durch einen Patienten ohne Beteiligung eines Arztes und die anschließende Analyse dieser Probe durch ein gewerbliches Labor seien demzufolge als Diagnostizierverfahren eingestuft worden. Eine solche Schlussfolgerung stehe nicht im Einklang mit dem eindeutigen Wortlaut des Artikels 52 (4) EPÜ.
iii) Es sei kein grundlegendes Ziel von Artikel 52 (4) EPÜ, dass Ärzte bei der Diagnosestellung nicht durch Patente gehindert würden. Dieser Artikel lasse eine Patentierung neuer und wirksamer diagnostischer Mittel und Instrumente ausdrücklich zu. Durch Patente für solche Erzeugnisse würden zwangsläufig auch Verfahren zu deren Anwendung geschützt.
iv) Einem Diagnostizierverfahren gingen fast zwangsläufig Datensammlungs- und Analyseschritte voraus. Ansprüche, in denen einige, aber nicht alle dieser Schritte aufgezählt seien, sollten nicht nach Artikel 52 (4) EPÜ zurückgewiesen werden. Die in der Entscheidung T 964/99 geäußerte Sorge, dass durch das Weglassen eines dieser Schritte die Ausschlussbestimmung des Artikels 52 (4) EPÜ umgangen werden könnte, sei angesichts der Praxis des EPA, im Hinblick auf die Artikel 84 und 56 EPÜ darauf zu bestehen, dass ein Anspruch alle für die Lösung einer technischen Aufgabe wesentlichen Merkmale angeben müsse, eher akademisch als real.
v) Es sei allgemein bekannt, dass die Bestimmung medizinischer Laborwerte ein wichtiger Bestandteil der von Ärzten in Privatpraxen und Krankenhäusern gestellten Diagnosen sei. Die meisten dieser Parameter beträfen Molekül- oder Zellkonzentrationen in einer Körperflüssigkeit (z. B. Blut oder Urin) und würden normalerweise in vitro bestimmt. Nach Vermischen der Probe (z. B. Körperflüssigkeit) mit den Reagenzien in einem Reaktionsgefäß werde die erkennbare Veränderung anhand des systemeigenen Instruments ausgewertet. Erfindungen, die solche In-vitro-Bestimmungen medizinischer Laborwerte zum Gegenstand hätten, ließen sich in den meisten Fällen durch Erzeugnisansprüche schützen. Wenn sich jedoch Verfahrensansprüche anböten, sollten auch die zu Grunde liegenden Verfahren nicht nach Artikel 52 (4) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden, da ja keiner der Verfahrensschritte am Körper vorgenommen werde. Nur wenn eine direkte Wechselwirkung mit dem Körper tatsächlich den Ausschlag dafür gebe, ob das Ziel der Erfindung erreicht werde, sollte ein Diagnostizierverfahren als unter die Ausschlussbestimmung des Artikels 52 (4) EPÜ fallend angesehen werden. Zudem müsse, damit die Ausschlussbestimmung greife, das gesamte Diagnostizierverfahren am Körper vorgenommen werden.
vi) Jüngste Entwicklungen im Bereich neuer Analysemethoden könnten zu erheblichen Verbesserungen der Analyseinstrumente führen, die der Ärzteschaft zur Verfügung stünden. Einige dieser Entwicklungen seien so geartet, dass ihr möglicher Ausschluss von der Patentierbarkeit entscheidend von der Beantwortung der Vorlagefragen abhängen könnte. Bei diesen Entwicklungen handle es sich um so genannte integrierte Home-Monitoring-Systeme, nichtinvasive Verfahren und Entscheidungshilfesysteme.
vii) Mit modernen Analyse- und Diagnoseinstrumenten ließen sich große Datenmengen über einen bestimmten Patienten sammeln. Über die Einstufung dieser Daten als pathologisch könnten die in der medizinischen Analyse eingesetzten automatisierten Systeme aber bislang noch nicht entscheiden. Vielmehr müsse der Arzt, der die Daten auswerte, über ein umfassendes Wissen verfügen, um daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Für die Ärzte werde es aber immer schwieriger, den ständig wachsenden Umfang an erforderlichem Wissen zu dem Zeitpunkt parat zu haben, zu dem eine Entscheidung zu treffen sei. Ziel sei es daher, der Ärzteschaft Entscheidungshilfesysteme an die Hand zu geben, die die analytischen und sonstigen diagnostischen Daten unter Zuziehung von aktuellem Fachwissen "verfeinerten". Für Verfahrensansprüche zur Funktionsweise solcher Systeme könnten die Vorlagefragen somit entscheidend sein, denn es seien Fälle denkbar, in denen zumindest ein Schritt der Datensammlung am Körper vorgenommen werde, während das Entscheidungshilfesystem auf dem Weg zur endgültigen Diagnose eine Vielzahl von Schritten ausführe.
viii) Eine enge Auslegung des Ausschlusses von Diagnostizierverfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ sei somit gerechtfertigt. Ein Gegenargument gegen eine enge Auslegung sei, dass sich die meisten derartigen Erfindungen durch Erzeugnisansprüche abdecken ließen. Allerdings sei ein Erzeugnisschutz nicht immer möglich. Es gebe Fälle, in denen sich der Kern der Erfindung auf typische Verfahrensmerkmale beziehe, so z. B. auf eine bestimmte Abfolge von Schritten oder einen bestimmten zeitlichen Ablauf. Zudem beinhalteten einige der neuen und aus ärztlicher Sicht hoch interessanten Entwicklungen der medizinischen Analytik Wechselwirkungen zwischen Körper und Instrument, die üblicherweise in Verfahrensansprüchen ausgedrückt würden.
ix) Der in der Entscheidung T 964/99 beschrittene Lösungsweg berge die große Gefahr, Erfindungen vom Patentschutz auszuschließen, die in ihrem Kern den automatisierten Betrieb einer Maschine beträfen, aber daneben Schritte umfassten, die zumindest theoretisch auch ein Arzt am Körper eines Patienten vornehmen könnte.
x) Hinsichtlich der tatsächlichen Reichweite der Ausschlussbestimmung von Artikel 52 (4) EPÜ müsse Rechtssicherheit herrschen. Die Definition des Ausschlussbereichs sollte dauerhaft sein. Dieses Erfordernis sei nicht erfüllt, wenn der Arzt ein integrierender Bestandteil der Definition des Begriffs "Diagnostizierverfahren" sei, weil sich die Definition des Ausschlussbereichs dann dynamisch ändern würde. Im Zuge des technischen Fortschritts könnte sich im Gesundheitswesen ein Meinungswandel darüber vollziehen, inwieweit ein bestimmtes Verfahren von einem Arzt mit bestimmten Fähigkeiten durchgeführt werden müsse.
xi) Die Analyse von Proben oder Bilddaten, die für sich genommen keine Unterscheidung zwischen einem pathologischen und einem nichtpathologischen Zustand des Körpers des Patienten erlaubten, sollte als technische Errungenschaft gelten und somit nicht unter das Patentierungsverbot des Artikels 52 (4) EPÜ fallen. Die eigentliche Diagnose werde erst dann gestellt, wenn sich eine der zahlreichen in Frage kommenden Pathologien zu einem vergleichsweise detaillierten Krankheitsbild verdichtet habe, anhand dessen genau festgestellt werden könne, um welche Erkrankung es sich handle.
b) Stellungnahmen zu Gunsten einer weiten Auslegung des Ausschlusses von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren
i) Ziel des Artikels 52 (4) EPÜ sei es, die Patentierung bestimmter Verfahren zur Behandlung von Menschen und Tieren zu verhindern. Aus ethischer Sicht sei der lebende menschliche oder tierische Körper kein geeignetes Objekt für ein gewerbliches Verfahren. Die Arbeit von Ärzten oder sonstigen Medizinern, einschließlich eines medizinischen Genetikers, sei keine gewerbliche, sondern eine berufliche Tätigkeit und somit nicht gewerblich anwendbar. Deshalb seien Verfahren, die zu stark in das Verhältnis zwischen Arzt und Patient eingriffen, vom Patentschutz ausgeschlossen.
ii) Die Notwendigkeit, einen ungehinderten Informationszugang, einen freien weltweiten Aufbau von Wissen im Bereich genetischer Daten und eine freie Durchführung der Diagnostizierverfahren zu gewährleisten, gelte angesichts der Vielzahl von Personen, die auf diesem konkreten Gebiet an der Entwicklung eines zuverlässigen und präzisen Diagnosetests beteiligt seien, insbesondere bei Testverfahren für die genetische Diagnose. Ein Ziel des EPÜ müsse es daher sein, die Patentierung von Testverfahren für die genetische Diagnose zu verhindern, deren Erfolg in der Regel von gemeinschaftlichen Bemühungen auf breiter Ebene abhängig sei und deren Patentierung einen negativen Einfluss auf die Kooperationsbereitschaft der Ärzte in aller Welt haben könnte.
iii) Jeder explizite oder implizite auditive, visuelle oder taktile Kontakt, der zum endgültigen Diagnoseergebnis beitrage, sei ein Schritt in einem am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnosetest. Ein Diagnostizierverfahren, das einen solchen Schritt enthalte, sei gemäß Artikel 52 (4) EPÜ von der Patentierbarkeit ausgeschlossen.
Begründung der Stellungnahme
Zulässigkeit der Vorlage
1. Die Entscheidungen T 385/86 und T 964/99 stammen beide von der Technischen Beschwerdekammer 3.4.1. Nach Artikel 112 (1) b) EPÜ kann der Präsident des EPA die Große Beschwerdekammer befassen, wenn zwei Beschwerdekammern über eine bestimmte Rechtsfrage voneinander abweichende Entscheidungen getroffen haben. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass in den Entscheidungen T 775/92, T 530/93 vom 8. Februar 1996 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht), T 1165/97 vom 15. Februar 2000 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) und T 807/98 andere Technische Beschwerdekammern der in T 385/86 vertretenen Auffassung gefolgt sind. Somit weicht die Entscheidung T 964/99 auch von den Entscheidungen anderer Beschwerdekammern ab. Hinzu kommt, dass die Technische Beschwerdekammer 3.4.1 die Entscheidungen T 385/86 und T 964/99 in völlig unterschiedlicher Besetzung getroffen hat. Die Vorlage ist daher zulässig.
Vorbemerkung
2. Am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Diagnostizierverfahren werden normalerweise von Medizinern durchgeführt, die auf dem Gebiet der Human- bzw. Veterinärmedizin tätig sind. Daher werden diese Personen im Folgenden als "Human- oder Veterinärmediziner" bezeichnet. Der in der Vorlage verwendete Begriff "Arzt" bezieht sich eher auf den Bereich der Humanmedizin.
Der Begriff der am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnostizierverfahren
3. In Artikel 52 (4) EPÜ heißt es unter anderem: "Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden, gelten nicht als gewerblich anwendbare Erfindungen." Zur Beantwortung der Vorlagefragen sind zunächst die Begriffe "Diagnostizierverfahren" und "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" zu definieren. Im Hinblick auf die richtige Auslegung dieser Begriffe sind der Gegenstand und Zweck der Vorschrift, die verschiedenen mit Diagnostizierverfahren verbundenen Interessen und die Rechtssicherheit wichtige Aspekte, die es zu berücksichtigen gilt.
4. Nach der Systematik des Artikels 52 EPÜ sind die in Artikel 52 (4) EPÜ genannten, am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnostizierverfahren Erfindungen im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ und somit auch von Artikel 57 EPÜ, gelten jedoch auf Grund einer gesetzlichen Fiktion nicht als gewerblich anwendbar. Dies wird durch die Materialien zum EPÜ gestützt (siehe Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, Sitzungsbericht des Hauptausschusses I, Dok. M/PR/I, Rdn. 24). Artikel 52 (4) EPÜ beschränkt also den Begriff der gewerblichen Anwendbarkeit im Bereich der human- und veterinärmedizinischen Behandlungen und hat als Lex specialis Vorrang vor Artikel 57 EPÜ (siehe T 116/85, ABl. EPA 1989, 13, Nr. 3.5 der Entscheidungsgründe). Doch während der Gesetzgeber die gesetzliche Fiktion der mangelnden gewerblichen Anwendbarkeit gewählt hat, scheint der Patentierungsausschluss der oben genannten Verfahren gemäß Artikel 52 (4) EPÜ eher auf sozialethischen Überlegungen und auf Erwägungen im Zusammenhang mit der öffentlichen Gesundheit zu beruhen. Human- und Veterinärmedizinern sollte es frei stehen, die ihnen geeignet erscheinenden Maßnahmen anzuwenden, um eine Krankheit durch Untersuchungsmethoden zu diagnostizieren. Die der oben erwähnten gesetzlichen Fiktion zu Grunde liegende Überlegung scheint also darauf abzuzielen, dass diejenigen, die Diagnostizierverfahren als Teil der medizinischen Behandlung von Menschen oder Tieren anwenden, darin nicht durch Patente behindert werden (siehe T 116/85, Nr. 3.7 der Entscheidungsgründe).
5. In den Materialien zum EPÜ wird auf den Begriff "Diagnostizierverfahren" nicht näher eingegangen. In der ständigen Rechtsprechung des EPA ist jedoch anerkannt, dass das Stellen einer Diagnose als Teil der medizinischen Behandlung von Menschen oder Tieren zu Heilzwecken folgende Verfahrensschritte umfasst: i) die Untersuchungsphase mit der Sammlung von Daten, ii) den Vergleich dieser Daten mit den Normwerten, iii) die Feststellung einer signifikanten Abweichung, d. h. eines Symptoms, bei diesem Vergleich und iv) die Zuordnung der Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild, d. h. die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer besteht kein Grund, von dieser Rechtsprechung abzugehen. Die in diesem Zusammenhang zu beantwortende Frage ist jedoch, ob die in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Diagnostizierverfahren nur die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase umfassen, die in der Zuordnung der festgestellten Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild besteht, also die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, oder ob sie darüber hinaus auch einen oder mehrere der vorausgehenden Schritte einschließen sollten, die die Untersuchung, die Sammlung von Daten und den Vergleich betreffen.
5.1 Im Zusammenhang mit dem Ausschluss von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden, versteht man unter Diagnose die Bestimmung der Art eines human- oder veterinärmedizinischen Zustandes mit dem Ziel der Erkennung oder Aufdeckung einer Pathologie. Dazu gehört auch die umgekehrte Feststellung, dass ein bestimmter Zustand ausgeschlossen werden kann.
5.2 Die Diagnose zu Heilzwecken als deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase ist an sich eine geistige Tätigkeit, sofern sich infolge von Entwicklungen auf dem Gebiet der Diagnosetechnik dafür nicht ein Gerät verwenden lässt, das diagnostische Schlüsse ziehen kann. Als geistige Tätigkeit gilt die deduktive Entscheidungsphase gemäß Artikel 52 (2) EPÜ nicht als Erfindung im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ, wohingegen das von dem Gerät durchgeführte Verfahren durchaus eine Erfindung im Sinne dieser Vorschrift sein könnte.
5.3 Weil die in Artikel 52 (4) EPÜ genannten Diagnostizierverfahren Erfindungen im Sinne des Artikels 52 (1) EPÜ sind (siehe vorstehend Nr. 4), müssen sie in Fällen, in denen die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase eine rein geistige Tätigkeit, also ein nichttechnischer Schritt ist, zwingend auch vorausgehende Schritte (siehe vorstehend Nr. 5) technischer Natur umfassen, um die Erfordernisse des Artikels 52 (1) EPÜ zu erfüllen. Der Gegenstand eines Anspruchs, der sowohl technische als auch nichttechnische Merkmale umfasst, kann den Erfordernissen des Artikels 52 (1) EPÜ genügen, wenn die nichttechnischen Merkmale mit den technischen so zusammenwirken, dass eine technische Wirkung entsteht (siehe T 603/89, ABl. EPA 1992, 230, Nr. 2.5 der Entscheidungsgründe).
6. Bei der Bestimmung des Umfangs des Ausschlusses von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ in Bezug auf Diagnostizierverfahren, die vorausgehende Schritte umfassen müssen, damit sie Artikel 52 (1) EPÜ genügen (siehe vorstehend Nr. 5.3), ist Folgendes zu beachten: Eine enge Auslegung des Umfangs des Ausschlusses von der Patentierbarkeit setzt voraus, dass Artikel 52 (4) EPÜ am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Diagnostizierverfahren nur dann ausschließt, wenn alle vorausgehenden Schritte, die für das Stellen einer Diagnose als geistiger Tätigkeit konstitutiv sind (siehe vorstehend Nr. 5.2), am lebenden menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden (siehe T 385/86, Nr. 4.1 der Entscheidungsgründe), während eine breite Auslegung des Umfangs des Ausschlusses von der Patentierbarkeit bedeutet, dass diese Vorschrift sämtliche am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Verfahren ausschließt, die sich auf die Diagnose beziehen oder für Diagnosezwecke von Nutzen sind (siehe T 964/99, Nr. 4.4 der Entscheidungsgründe).
Nach Artikel 4 (3) EPÜ hat die EPO die generelle Aufgabe, europäische Patente zu erteilen. In Artikel 52 (1) EPÜ ist zudem die grundlegende Maxime eines allgemeinen Anspruchs auf Patentschutz verankert, der zufolge für eine Erfindung, die den Erfordernissen dieser Vorschrift genügt, grundsätzlich ein europäisches Patent zu erteilen ist. Gewiss enthält das EPÜ Ausschlussbestimmungen zur Patentierbarkeit. Auch gilt der häufig angeführte Grundsatz, wonach im EPÜ vorgesehene Ausschlussbestimmungen zur Patentierbarkeit restriktiv auszulegen sind, nicht ausnahmslos. Die Große Beschwerdekammer ist jedoch der Ansicht, dass auf den Umfang des Ausschlusses von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren der Grundsatz einer engen Auslegung solcher Ausschlussbestimmungen anzuwenden ist.
6.1 Ausgangspunkt in Artikel 52 (4) EPÜ sind "Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden". Dabei wird weder auf bestimmte zu solchen Verfahren gehörende Schritte Bezug genommen noch eine Formulierung wie "sich auf die Diagnose beziehend" oder "für Diagnosezwecke von Nutzen" verwendet. Somit deutet schon der Wortlaut der Vorschrift selbst auf eine enge Auslegung in dem Sinne hin, dass ein solches Verfahren nur vom Patentschutz ausgeschlossen ist, wenn sich sämtliche Verfahrensschritte darauf beziehen. Wenn ferner das Ziel des Ausschlusses solcher Verfahren darin besteht, dass Human- oder Veterinärmediziner nicht durch Patente daran gehindert werden, die ihnen geeignet erscheinenden Maßnahmen anzuwenden, um Krankheiten zu diagnostizieren (siehe vorstehend Nr. 4), wird es in der Tat erforderlich sein, zu definieren, wer als ein solcher Mediziner anzusehen ist. Es ist jedoch schwierig, wenn nicht gar unmöglich, auf europäischer Ebene im Rahmen des EPÜ eine solche Definition aufzustellen. Demzufolge kann das europäische Patenterteilungsverfahren aus Gründen der Rechtssicherheit, die von größter Wichtigkeit ist, nicht davon abhängig gemacht werden, ob solche Mediziner an einem Verfahren beteiligt sind. Da ein umfassender Schutz von Human- und Veterinärmedizinern erforderlichenfalls auch auf anderem Wege zu erreichen ist, und zwar insbesondere durch Rechtsvorschriften auf der nationalen Ebene der EPÜ-Vertragsstaaten, die diesen Personen ein Recht zur Ausführung der betreffenden Verfahren einräumen, ist eine enge Auslegung der Reichweite des Patentierungsverbots in dem oben beschriebenen Sinne gerechtfertigt. Außerdem wird auf nationaler Ebene angemessener zu definieren sein, wer ein Human- oder Veterinärmediziner ist. Eine solche enge Auslegung ist ferner dadurch gerechtfertigt, dass diese Verfahren auf Grund der jüngsten Entwicklungen auf dem Gebiet der Diagnostik zu Heilzwecken immer komplexer und technisch anspruchsvoller werden, so dass es für Human- und Veterinärmediziner zunehmend schwierig wird, über die Mittel zu ihrer Durchführung zu verfügen. So gesehen dürften sie in ihrer Tätigkeit kaum durch bestehende Patente auf solche Verfahren behindert werden. Insofern ist schwer nachzuvollziehen, warum Anmeldern und Erfindern auf dem Gebiet der Diagnostik ein umfassender Patentschutz verwehrt werden sollte.
6.2 Im vorliegenden Zusammenhang ist ferner zu beachten, dass die Patentansprüche nach Artikel 84 EPÜ den Gegenstand angeben müssen, für den Schutz begehrt wird, und dass sie deutlich sein müssen. Dies bedeutet, dass ein unabhängiger Anspruch im Sinne der Regel 29 EPÜ alle wesentlichen Merkmale, die zur Definition der Erfindung erforderlich sind, ausdrücklich angeben sollte und die Bedeutung dieser Merkmale für den Fachmann aus dem Wortlaut des Anspruchs allein klar hervorgehen sollte. Dasselbe sollte entsprechend für einen Anspruch gelten, der sich auf einen Gegenstand bezieht, der unter die Ausschlussbestimmung des Artikels 52 (4) EPÜ fällt. Diese Erfordernisse dienen dem übergeordneten Ziel der Rechtssicherheit.
6.2.1 Chirurgische Verfahren im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ umfassen alle physischen Eingriffe am menschlichen oder tierischen Körper, bei denen die Erhaltung des Lebens oder der Gesundheit des Körpers von entscheidender Bedeutung ist. Therapeutische Verfahren im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ betreffen die Heilung von Krankheiten und Störungen der Funktionen des menschlichen oder tierischen Körpers und umfassen prophylaktische Maßnahmen, wie z. B. das Immunisieren gegen eine bestimmte Krankheit. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern fällt ein Verfahrensanspruch unter die Ausschlussbestimmung des Artikels 52 (4) EPÜ, wenn er auch nur ein Merkmal enthält, das eine physische Tätigkeit oder Maßnahme definiert, die einen Verfahrensschritt zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers darstellt. So bezieht sich nach Artikel 52 (4) EPÜ beispielsweise ein Anspruch mit dem Merkmal "Vornahme einer Lumbalpunktion zur Verabreichung von Epiduralinjektionen" auf ein chirurgisches Verfahren und ein Anspruch mit dem Merkmal "Verabreichung einer Substanz zu prophylaktischen Zwecken" auf ein therapeutisches Verfahren. Dies bedeutet, dass der chirurgische oder therapeutische Charakter eines Verfahrens durchaus in einem einzigen Verfahrensschritt begründet werden kann, ohne dass gegen Artikel 84 EPÜ verstoßen würde. Diagnostizierverfahren unterscheiden sich in dieser Hinsicht jedoch von chirurgischen und therapeutischen Verfahren.
6.2.2 Die Verfahrensschritte, die vor dem Stellen der Diagnose als einer geistigen Tätigkeit auszuführen sind (siehe vorstehend Nr. 5.2), betreffen die Untersuchung, die Sammlung von Daten und den Vergleich (siehe vorstehend Nr. 5). Fehlt nur einer der vorausgehenden Schritte, die für das Stellen einer solchen Diagnose konstitutiv sind, so liegt kein Diagnostizierverfahren vor, sondern allenfalls ein Verfahren zur Datenermittlung oder -verarbeitung, das in einem Diagnostizierverfahren verwendbar ist (siehe T 385/86, Nr. 3.3 der Entscheidungsgründe). Daraus folgt, dass zur Definition eines Diagnostizierverfahrens im Sinne von Artikel 52 (4) EPÜ aber wegen des spezifischen und zwangsläufig mehrstufigen Charakters eines solchen Verfahrens mehrere Verfahrensschritte erforderlich sind (siehe vorstehend Nr. 5), wohingegen der chirurgische oder therapeutische Charakter eines Verfahrensanspruchs in einem einzigen Verfahrensschritt begründet sein kann (siehe vorstehend Nr. 6.2.1). Somit wird durch die in der Entscheidung T 385/86 gewählte restriktive Auslegung des Ausschlusses von der Patentierbarkeit von Diagnostizierverfahren - entgegen den Ausführungen in der Entscheidung T 964/99, Nr. 3.6 der Entscheidungsgründe - für solche Verfahren kein anderer Standard gesetzt als für chirurgische oder therapeutische Verfahren.
6.2.3 Wenn die Diagnose als deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase eine rein geistige Tätigkeit ist (siehe vorstehend Nr. 5.2), dann sind das die Diagnose zu Heilzwecken betreffende Merkmal und die Merkmale, die sich auf die vorausgehenden Schritte beziehen, die für das Stellen der Diagnose konstitutiv sind, die wesentlichen Merkmale eines Diagnostizierverfahrens im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ. Somit muss ein auf ein solches Verfahren gerichteter unabhängiger Anspruch diese Merkmale enthalten, um die Erfordernisse des Artikels 84 EPÜ zu erfüllen. Wenn ein solcher Anspruch dagegen nur ein einziges Merkmal enthält, das sich auf einen bestimmten von mehreren vorausgehenden Schritten bezieht und Diagnosezwecken dient oder sich auf die Diagnose zu Heilzwecken bezieht (siehe T 964/99), dann wären die oben genannten Erfordernisse nicht erfüllt. Da eine Diagnose zu Heilzwecken das Fazit aus einer gründlichen und umfassenden Beurteilung des Krankheitsbilds ist, bei der alle in den vorausgehenden Schritten gesammelten Daten als Ganzes bewertet werden, wäre es in der Tat nicht mit dem mehrstufigen Charakter des Stellens einer Diagnose zu Heilzwecken vereinbar, wenn man einen solchen Anspruch so auslegen würde, als bezöge er sich auf ein Diagnostizierverfahren im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ. Für die Diagnose relevante Zwischenergebnisse dürfen nicht mit der vorstehend unter Nummer 5 beschriebenen Diagnose im strengen Sinne verwechselt werden, die darin besteht, die festgestellte Abweichung einem bestimmten Krankheitsbild zuzuordnen. Daher besteht keine ausreichende Grundlage, die Patentierbarkeit eines Verfahrens zur Ermittlung solcher Ergebnisse oder Werte unter Berufung auf Artikel 52 (4) EPÜ zu verneinen. Eine gegenteilige Entscheidung würde zu einer sehr breiten Auslegung des Umfangs des Ausschlusses von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren führen, die nur schwerlich mit dem Erfordernis der Rechtssicherheit vereinbar wäre.
6.2.4 Es wurde vorgebracht, dass der Ausschluss von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren im Falle der vorstehend unter Nummer 6 erläuterten engen Auslegung möglicherweise dadurch umgangen werden könnte, dass im betreffenden unabhängigen Anspruch eines der wesentlichen Merkmale des Verfahrens (siehe vorstehend Nr. 6.2.3) weggelassen würde. Angesichts der ständigen Rechtsprechung des EPA zu Artikel 84 EPÜ, wonach ein unabhängiger Anspruch, um patentierbar zu sein, alle wesentlichen Merkmale angeben muss, die für die deutliche und vollständige Definition einer bestimmten Erfindung notwendig sind, scheint diese Gefahr allerdings nicht wirklich gegeben. Die wesentlichen Merkmale sind größtenteils technischer Natur. Ist jedoch ein nichttechnisches Merkmal als für die Definition der Erfindung konstitutiv anzusehen, so muss auch dieses als wesentliches Merkmal in den unabhängigen Anspruch aufgenommen werden. Obwohl also die Diagnose im strengen Sinne, sofern sie nicht von einem Gerät durchgeführt wird, eine rein geistige Tätigkeit ist (siehe vorstehend Nr. 5.2), ist das sich darauf beziehende Merkmal ein solches wesentliches Merkmal, das in den unabhängigen Anspruch aufgenommen werden muss. Dasselbe gilt für ein Merkmal, das sich auf einen nichttechnischen Verfahrensschritt bezieht, der zu den vorausgehenden Schritten gehört, die für das Stellen der Diagnose zu Heilzwecken konstitutiv sind (siehe nachstehend Nr. 6.4.1).
Insbesondere das oben angeführte nichttechnische Merkmal, das sich auf die Diagnose zu Heilzwecken bezieht, ist als wesentliches Merkmal in den betreffenden unabhängigen Anspruch aufzunehmen, wenn sich aus der fraglichen europäischen Patentanmeldung oder dem fraglichen europäischen Patent insgesamt zweifelsfrei ergibt, dass es wesentlich ist. Dies ist dann der Fall, wenn in der betreffenden Anmeldung oder dem betreffenden Patent ein Verfahren zur Ermittlung diagnostisch relevanter Werte offenbart ist, die - anders als in dem vorstehend unter Nummer 6.2.3 beschriebenen Fall - die Zuordnung der festgestellten Abweichung zu einem bestimmten Krankheitsbild erlauben.
6.3 Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer kann die Einstufung einer Tätigkeit als diagnostisch nicht von den beteiligten Personen abhängen. Der Wortlaut des Artikels 52 (4) EPÜ ist in dieser Hinsicht eindeutig: Die Ausschlussbestimmung bezieht sich nur auf das Verfahren und nicht auf die das Verfahren ausführende Person. Auch in den Materialien zum EPÜ findet sich kein Hinweis, der den Ausschluss von der Patentierbarkeit von Diagnostizierverfahren auf eine bestimmte Personengruppe, z. B. Human- oder Veterinärmediziner, beschränken würde. Zudem ist es - wie bereits vorstehend unter Nummer 6.1 dargelegt - schwierig, wenn nicht gar unmöglich, auf europäischer Ebene im Rahmen des EPÜ zu definieren, wer als Human- oder Veterinärmediziner anzusehen ist. Die Erteilung eines europäischen Patents davon abhängig zu machen, ob eine solche Person an einem Verfahren beteiligt ist, würde daher zu Rechtsunsicherheit im Patenterteilungsverfahren führen. Ob ein Verfahren ein Diagnostizierverfahren im Sinne des Artikels 52 (4) EPÜ ist oder nicht, sollte also weder von der Beteiligung eines Human- oder Veterinärmediziners, der persönlich anwesend ist oder die Verantwortung trägt, abhängen noch davon, dass alle Verfahrensschritte auch oder nur von medizinischem oder nichtmedizinischem Hilfspersonal, dem Patienten selbst oder einem automatisierten System vorgenommen werden können. Dies trägt auch dem allgemein bekannten Umstand Rechnung, dass technische Weiterentwicklungen immer stärker Eingang in die Human- und Veterinärmedizin und die einschlägigen Berufe finden. Die Technik bewirkt heute mehr als je zuvor einen grundlegenden Wandel darin, wer wie im Gesundheitswesen tätig wird, und führt so zu einer schrittweisen Umgestaltung der Human- und Veterinärmedizin. In einer sich im Zuge des technischen Fortschritts verändernden Human- und Veterinärmedizin wird das Verhältnis zwischen Human- bzw. Veterinärmediziner und nichtmedizinischem Hilfspersonal dringender denn je zu überdenken sein. Dies wird Auswirkungen auf das Berufsbild und den Aufgabenbereich des nichtmedizinischen Hilfspersonals haben, weil es dieser Personengruppe obliegen wird, eine große Vielfalt diagnostischer und sonstiger Informationen zu erheben und zu sammeln. Zudem sollte vor diesem Hintergrund nicht zwischen wesentlichen Verfahrensschritten mit diagnostischem Charakter und unwesentlichen Verfahrensschritten ohne diagnostischen Charakter unterschieden werden, weil sich die Einschätzung der Sach- und Rechtslage in Bezug auf diese Aspekte im Laufe der Zeit erheblich wandeln kann; hier wäre ebenfalls ein Verstoß gegen das Erfordernis der Rechtssicherheit zu sehen. Wie vorstehend unter Nummer 6.1 angeführt, könnte überlegt werden, die Tätigkeit von Human- und Veterinärmedizinern auf anderem Wege auf nationaler Ebene zu schützen.
6.4 Als weitere Beschränkung wird in Artikel 52 (4) EPÜ festgelegt, dass Diagnostizierverfahren nur von der Patentierbarkeit ausgeschlossen sind, wenn sie am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden. Aus der Tatsache, dass Artikel 52 (4) EPÜ auch auf chirurgische und therapeutische Verfahren Bezug nimmt, ist zu schließen, dass die Diagnostizierverfahren Heilzwecken dienen und somit am lebenden menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden müssen.
6.4.1 Das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" ist nur in Bezug auf technische Verfahrensschritte zu berücksichtigen. Es bezieht sich also nicht auf die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, d. h. auf die deduktive Entscheidungsphase, die als rein geistige Tätigkeit nicht am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden kann. Außerdem können bei einem Diagnostizierverfahren die vorausgehenden Schritte, die für das Stellen einer Diagnose zu Heilzwecken konstitutiv sind, neben technischen Verfahrensschritten auch Schritte wie den Vergleich von in der Untersuchungsphase gesammelten Daten (siehe vorstehend Nr. 5) mit zum allgemeinen Fachwissen gehörenden Normwerten umfassen. Diese Tätigkeiten sind überwiegend nichttechnischer Natur und werden in der Regel auch nicht am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen.
6.4.2 Artikel 52 (4) EPÜ verlangt keine bestimmte Art oder Intensität der Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper. Jeder der unter Nummer 6.4.1 genannten technischen Verfahrensschritte ist also entweder invasiv oder nichtinvasiv. Die nichtinvasiven Verfahrensschritte können einen direkten physischen Kontakt mit dem menschlichen oder tierischen Körper umfassen oder in einem gewissen Abstand von ihm ausgeführt werden. Außerdem kann die Durchführung jedes dieser Verfahrensschritte die Verwendung von Vorrichtungen zur Datensammlung und/oder von Diagnosegeräten zu Mess- und Analysezwecken einschließen. Daraus folgt, dass jeder einzelne dieser Verfahrensschritte das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllt, wenn seine Ausführung irgendeine Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper impliziert, die zwangsläufig dessen Präsenz voraussetzt.
6.4.3 Wenn aber - anders als in dem vorstehend unter Nummer 6.4.2 beschriebenen Fall - mehrere oder alle der vorstehend unter Nummer 6.4.1 genannten technischen Verfahrensschritte ohne jegliche Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper von einem Gerät ausgeführt werden, z. B. mit Hilfe eines spezifischen Softwareprogramms, dann erfüllen diese Schritte nicht das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen", weil ihre Durchführung nicht dessen Präsenz voraussetzt. Ebenso wenig ist dieses Kriterium bei Verfahrensschritten erfüllt, die in vitro in einem Labor durchgeführt werden. Dasselbe gilt für Verfahrensschritte, die in vitro mit Hilfe von Diagnoseinstrumenten, den so genannten DNA-Microarrays, durchgeführt werden. Die in einem "amicus curiae brief" vorgebrachten Argumente für eine breite Auslegung der Reichweite des Patentierungsverbots nach Artikel 52 (4) EPÜ (siehe vorstehend Nr. III. b) ii)), die sich auf derartige Verfahrensschritte beziehen, sind daher nicht überzeugend.
6.4.4 Schon aus dem Wortlaut des Artikels 52 (4) EPÜ in Bezug auf Diagnostizierverfahren ergibt sich, dass die verschiedenen technischen Verfahrensschritte eines solchen Verfahrens (siehe vorstehend Nr. 6.4.1) grundsätzlich nicht in vitro, sondern am menschlichen oder tierischen Körper und somit in Wechselwirkung damit durchzuführen sind. Da eine enge Auslegung des Umfangs des Ausschlusses von der Patentierbarkeit nach Artikel 52 (4) EPÜ von Diagnostizierverfahren gerechtfertigt ist (siehe vorstehend Nr. 6.1), ist es angezeigt, zu verlangen, dass alle technischen Verfahrensschritte eines solchen Verfahrens das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllen sollten, d. h., die Durchführung jedes einzelnen dieser Schritte sollte eine Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper beinhalten, die zwangsläufig dessen Präsenz voraussetzt (siehe vorstehend Nr. 6.4.2). Dies gilt umso mehr, als eine breite Auslegung dieses Kriteriums dahingehend, dass nur ein einziger Verfahrensschritt des Diagnostizierverfahrens am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden müsste, bei dem es sich nicht einmal um eine wesentliche Diagnosemaßnahme handeln müsste (siehe vorstehend Nrn. II. xi) und xii)), aus den bereits unter den Nummern 6.1, 6.2.3 und 6.3 dargelegten Gründen gegen den übergeordneten Grundsatz der Rechtssicherheit verstoßen würde.
Zusammenfassung
7. Diagnostizierverfahren im Sinne von Artikel 52 (4) EPÜ schließen den Verfahrensschritt ein, der sich auf die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase bezieht, d. h. auf die Diagnose im strengen Sinne als rein geistige Tätigkeit.
8. Die Reichweite des Patentierungsverbots für Diagnostizierverfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ ist eng auszulegen (siehe vorstehend Nr. 6). Damit also der Gegenstand eines Anspruchs, der ein am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenes Diagnostizierverfahren betrifft, nach Artikel 52 (4) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist, muss der Anspruch (in Anbetracht des Artikels 84 EPÜ) sowohl das Merkmal, das sich auf die Diagnose zu Heilzwecken als rein geistige Tätigkeit, also auf die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase bezieht (siehe vorstehend Nr. 6.2.3), als auch die Merkmale umfassen, die sich i) auf die vorausgehenden Schritte beziehen, die für das Stellen der Diagnose konstitutiv sind (siehe vorstehend Nr. 6.2.3), sowie ii) auf die spezifischen Wechselwirkungen mit dem menschlichen oder tierischen Körper, die bei der Durchführung der vorausgehenden technischen Schritte auftreten (siehe vorstehend Nr. 6.4.4).
9. Die Erteilung eines europäischen Patents für ein Diagnostizierverfahren, das vorausgehende technische Verfahrensschritte umfasst, die von einem Gerät ausgeführt werden (siehe vorstehend Nr. 6.4.3), verstößt nicht gegen Artikel 52 (4) EPÜ, weil die Ausführung dieser Verfahrensschritte nicht das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllt. Falls Patentschutz besteht, dürfte es jedoch in der Regel ausreichen, das betreffende Gerät zu kaufen, um zur Durchführung eines solchen Verfahrens berechtigt zu sein. In Fällen, in denen man durch ein Verfahren ohne Benutzen des Geräts zu denselben diagnostischen Schlüssen gelangen kann, werden diejenigen, die das Verfahren ausführen, nicht durch das Patent behindert. Daher ist nicht davon auszugehen, dass Human- oder Veterinärmediziner durch ein solches Patent behindert würden.
Akte zur Revision des EPÜ
10. Aus Artikel 1, Nummern 17 und 18 der "Akte zur Revision des Übereinkommens über die Erteilung europäischer Patente" (Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2001, 3) ist ersichtlich, dass der neue Artikel 53 c) EPÜ als Ausnahme von der Patentierbarkeit unter anderem vorsieht, dass für Diagnostizierverfahren, die am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen werden, keine europäischen Patente erteilt werden; gleichzeitig wird der jetzige Artikel 52 (4) EPÜ ersatzlos gestrichen. Unter Nummer 6 der Erläuterungen zu den "Übergangsbestimmungen" (Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2001, 134) heißt es, dass "die Überführung des geltenden Artikel 52 (4) [EPÜ] in [den neuen] Artikel 53 c) EPÜ … rein redaktioneller Natur" ist und mit der Neufassung der materiellrechtlichen Vorschriften in den geänderten Artikeln 52 und 53 EPÜ "eine sachliche Änderung der bestehenden Rechtslage nicht verbunden ist". Grund für diese Änderung war die Erkenntnis, dass der Ausschluss dieser Verfahren von der Patentierbarkeit auf Erwägungen im Zusammenhang mit der öffentlichen Gesundheit beruht und daher nicht mehr mit der mangelnden gewerblichen Anwendbarkeit begründet werden sollte.
11. Das Patentierungsverbot für am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Diagnostizierverfahren im jetzigen Artikel 52 (4) EPÜ betrifft Erfindungen, die gewerblich anwendbar im Sinne des Artikels 57 EPÜ sind (siehe vorstehend Nr. 4), der unverändert bleibt. Dasselbe gilt für das im neuen Artikel 53 c) EPÜ enthaltene Patentierungsverbot für solche Verfahren. In dieser Hinsicht bleibt die Rechtslage damit unverändert. Die derzeitige Auslegung der Reichweite des Patentierungsverbots für am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommene Diagnostizierverfahren nach dem jetzigen Artikel 52 (4) EPÜ behält somit auch nach dem Inkrafttreten des revidierten EPÜ ihre Gültigkeit.
Schlussfolgerung
Aus diesen Gründen
wird die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wie folgt beantwortet:
1. Damit der Gegenstand eines Anspruchs für ein am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenes Diagnostizierverfahren unter das Patentierungsverbot des Artikels 52 (4) EPÜ fällt, muss der Anspruch die Merkmale umfassen, die sich auf Folgendes beziehen:
i) die Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne, also die deduktive human- oder veterinärmedizinische Entscheidungsphase als rein geistige Tätigkeit,
ii) die vorausgehenden Schritte, die für das Stellen dieser Diagnose konstitutiv sind, und
iii) die spezifischen Wechselwirkungen mit dem menschlichen oder tierischen Körper, die bei der Durchführung derjenigen vorausgehenden Schritte auftreten, die technischer Natur sind.
2. Ob ein Verfahren ein Diagnostizierverfahren im Sinne von Artikel 52 (4) EPÜ ist, kann weder von der Beteiligung eines Human- oder Veterinärmediziners, der persönlich anwesend ist oder die Verantwortung trägt, abhängig sein noch davon, dass alle Verfahrensschritte auch oder nur von medizinischem oder technischem Hilfspersonal, dem Patienten selbst oder einem automatisierten System vorgenommen werden können. Ebenso wenig darf in diesem Zusammenhang zwischen wesentlichen Verfahrensschritten mit diagnostischem Charakter und unwesentlichen Verfahrensschritten ohne diagnostischen Charakter unterschieden werden.
3. Bei einem Diagnostizierverfahren gemäß Artikel 52 (4) EPÜ müssen die technischen Verfahrensschritte, die für das Stellen der Diagnose zu Heilzwecken im strengen Sinne konstitutiv sind und ihr vorausgehen, das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen" erfüllen.
4. Artikel 52 (4) EPÜ verlangt keine bestimmte Art oder Intensität der Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper; ein vorausgehender technischer Verfahrensschritt erfüllt somit das Kriterium "am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommen", wenn seine Ausführung irgendeine Wechselwirkung mit dem menschlichen oder tierischen Körper einschließt, die zwangsläufig dessen Präsenz voraussetzt.