BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 12. Juli 2000 - G 3/98
(Übersetzung)*
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Messerli |
Mitglieder: | R. Teschemacher |
| G. Davies |
| J.-C. Saisset |
| C. Andries |
| W. Moser |
| P. van den Berg |
Patentinhaber/Beschwerdeführer: University Patents, Inc.
Einsprechender/Beschwerdegegner: SmithKline Beecham Biologicals SA
Stichwort: Sechsmonatsfrist/UNIVERSITY PATENTS
Artikel: 54 (2)(3), 55 (1) a), 56, 89, 112 (1) a) EPÜ
Regel: 23 EPÜ
Artikel 17 (2) VerfOBK
Artikel: 2, 4 PVÜ
Artikel: 4 SPÜ
Artikel: 6 EMRK
Schlagwort: "Zulässigkeit der Vorlage - Rechtsfrage im Beschwerdeverfahren von Bedeutung (ja)" - "Berechnung der Sechsmonatsfrist nach Artikel 55 - maßgebender Zeitpunkt: Tag der tatsächlichen Einreichung der Anmeldung"
Leitsatz:
Für die Berechnung der Frist von sechs Monaten nach Artikel 55(1) EPÜ ist der Tag der tatsächlichen Einreichung der europäischen Patentanmeldung maßgebend; der Prioritätstag ist für die Berechnung dieser Frist nicht heranzuziehen.
Sachverhalt und Anträge
I. Die Technischen Beschwerdekammern 3.2.4 und 3.3.4 haben die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ mit ähnlichen Rechtsfragen befaßt.
II. Mit Zwischenentscheidung T 377/95 (ABl. EPA 1999, 11 - Herpes-simplex-Virus/University Patents, Inc.) vom 5. August 1998 hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.4 der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorgelegt (Verfahrenssprache englisch, Aktenzeichen G 3/98):
For the purposes of Article 55(1) EPC, in the case where a priority is recognised for a European patent application, is the time period of six months "preceding the filing of the European patent application" to be calculated from the date of filing of the priority application (the priority date) or from the date of the actual filing of the European patent application?
III. Mit Zwischenentscheidung der Einspruchsabteilung war festgestellt worden, daß das Patent in der Fassung des letzten Hilfsantrags den Erfordernissen des Übereinkommens entspreche. Die Fassungen der vorangehenden Anträge erachtete die Einspruchsabteilung wegen fehlender Neuheit nicht als patentierbar. Hierzu hatte sie festgestellt, daß die nach diesen Anträgen beanspruchten Gegenstände durch einen Vortrag vor dem Prioritätstag der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden seien. Sie vertrat die Auffassung, die Patentinhaberin könne schon deswegen nicht geltend machen, es liege eine nach Artikel 55 (1) a) EPÜ unschädliche Offenbarung vor, weil der Vortrag früher als sechs Monate vor Einreichung der europäischen Anmeldung gehalten worden sei. Auf den Prioritätstag komme es für die Berechnung der Sechsmonatsfrist nicht an. Daher sei es auch unerheblich, ob die mündliche Offenbarung durch den Vortrag als offensichtlicher Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders angesehen werden könne. Gegen diese Entscheidung legten beide Parteien Beschwerde ein.
IV. Im Verfahren vor der Kammer 3.3.4 hatte die Einsprechende beantragt, das Patent in vollem Umfang zu widerrufen. Sie vertrat die Auffassung, auch die Fassung nach dem letzten Hilfsantrag sei durch die mündliche Offenbarung neuheitsschädlich getroffen. Ferner berief sie sich darauf, daß dieser Fassung auch gegenüber einem im Beschwerdeverfahren neu genannten Dokument, einer Dissertation aus dem Jahr 1981, die Neuheit fehle. Jedenfalls fehle es gegenüber dem Vortrag und der Dissertation in Verbindung mit weiterem Stand der Technik an erfinderischer Tätigkeit.
V. Die Patentinhaberin hatte in erster Linie beantragt, das Patent in der erteilten Fassung aufrechtzuerhalten. Ihrer Auffassung nach erfüllt der Vortrag die Voraussetzungen einer mißbräuchlichen Offenbarung im Sinne von Artikel 55 (1) a) EPÜ. Die Dissertation aus dem Jahr 1981 sei erst nach dem Prioritätstag in der Universitätsbibliothek öffentlich zugänglich geworden. Selbst wenn der Vortrag zum Stand der Technik zählen würde, sei jedenfalls der Gegenstand des letzten Hilfsantrags neu und erfinderisch. Die Patentinhaberin beantragte hilfsweise, der Großen Beschwerdekammer die Frage vorzulegen, ob die Sechsmonatsfrist nach Artikel 55 (1) a) EPÜ vom Prioritätstag oder vom späteren Tag der Einreichung der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen sei. Die Einsprechende widersetzte sich diesem Antrag, da das Patent in jedem Fall von der Dissertation vorweggenommen sei.
VI. Die vorlegende Kammer 3.3.4 ist der Auffassung, die Vorlage sei erforderlich. Die grundsätzlich bedeutsame Frage der Berechnung der Sechsmonatsfrist sei in der bisherigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern ungeklärt geblieben. Von den nationalen Gerichten letzter Instanz in der Schweiz, in den Niederlanden und in Deutschland würden unterschiedliche Auffassungen vertreten. Die zwischen den Parteien streitige Frage des offensichtlichen Mißbrauchs könne nur dann geprüft werden, wenn die Vorschrift auf den vorliegenden Sachverhalt anwendbar sei. Zur Relevanz der neuen Entgegenhaltung bemerkt die Kammer, diese könne ohne vorherige Prüfung nicht beurteilt werden. Sollte die Kammer letztlich die Auffassung der Einsprechenden über die neue Entgegenhaltung nicht teilen, so müsse der Vortrag erörtert werden (Gründe Nr. 63).
VII. Mit Zwischenentscheidung vom 12. April 1999 (T 535/95, nicht veröffentlicht) hat die Kammer 3.2.4 der Großen Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage vorgelegt (Verfahrenssprache deutsch, Aktenzeichen G 2/99):
Wenn einer europäischen Patentanmeldung eine Priorität zuerkannt wird, ist dann für die Zwecke des Artikels 55 (1) EPÜ die Frist von sechs Monaten "vor Einreichung der europäischen Patentanmeldung" vom Tag der Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung (Prioritätstag) oder vom tatsächlichen Einreichungstag der europäischen Patentanmeldung an zu berechnen?
VIII. Das Streitpatent war aufgrund einer offenkundigen Vorbenutzung von der Einspruchsabteilung wegen fehlender Neuheit widerrufen worden. Diese hatte festgestellt, daß ein dem Gegenstand des Streitpatents entsprechendes Muster einem Kunden überlassen worden sei. Im Beschwerdeverfahren wurde Tatsache und Gegenstand dieser Vorbenutzung nicht mehr bestritten. Die Patentinhaberin berief sich jedoch darauf, daß die Vorbenutzung auf einem offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des ursprünglichen Anmelders beruhe. Sie trug vor, der Vertriebsleiter einer Firma der Frau des ursprünglichen Anmelders habe das Muster gegen dessen ausdrückliche Weisung weitergegeben. Diese Darstellung wurde von der Einsprechenden bestätigt, die gleichzeitig ihren Einspruch zurücknahm. Später wurde der Sachverhalt auch durch eine eidesstattliche Versicherung des Vertriebsleiters bestätigt.
IX. Die Kammer 3.2.4 kam zum Ergebnis, der übrige Stand der Technik stehe der Aufrechterhaltung des Patents nicht entgegen. Dagegen sei der Gegenstand der genannten Vorbenutzung identisch mit dem Gegenstand des Anspruchs 1 des angefochtenen Patents. Die Vorbenutzung beruhe auch auf einem offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des früheren Anmelders. Der frühere Anmelder habe das Unternehmen seiner Ehefrau de facto geführt. Der Vertriebsleiter habe durch die weisungswidrige Weitergabe des Musters ein bestehendes Vertrags- und Vertrauensverhältnis verletzt. Da die Vorbenutzung mehr als sechs Monate vor der Einreichung der Anmeldung, aber weniger als sechs Monate vor Einreichung der prioritätsbegründenden Anmeldung erfolgt sei, komme es für die Entscheidung des Falls auf die Frage der Berechnung der Sechsmonatsfrist nach Artikel 55 (1) EPÜ an, die der Großen Beschwerdekammer bereits unter dem Aktenzeichen G 3/98 vorliege. Um der Patentinhaberin Gelegenheit zu geben, sich zu dieser Frage vor der Großen Beschwerdekammer zu äußern, beschloß sie auf deren Antrag, die Rechtsfrage erneut vorzulegen.
X. Die Kammer 3.2.4 hat sich zur Beurteilung der Vorlagefrage nicht geäußert. Die Kammer 3.3.4 führt zur Vorlagefrage unter anderem folgendes aus:
Mit Blick auf den Wortlaut der einschlägigen Bestimmungen könne im englischen Text des Übereinkommens unterschieden werden zwischen "the filing of the European patent application" in Artikel 55 EPÜ und "the date of filing of the European patent application" in Artikel 89 EPÜ; entsprechende Unterschiede seien in der deutschen und französischen Fassung festzustellen. Dies lasse darauf schließen, daß dieser Wortlaut gewählt worden sei, um den Anwendungsbereich von Artikel 55 (1) EPÜ einzuschränken. Eine solche Absicht könne auch aus den travaux préparatoires zu Artikel 55 (1) EPÜ hergeleitet werden. Hierüber bestehe breites Einverständnis unter den Vertragsstaaten.
Die vorlegende Kammer 3.3.4 hält es jedoch für notwendig, der Frage weiter nachzugehen, da die Berechnung der Frist ausgehend vom Tag der Nachanmeldung möglicherweise zu unbefriedigenden Ergebnissen führe. Dabei seien zwischenzeitliche Entwicklungen zu berücksichtigen wie die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Prioritäten in europäischen Patentanmeldungen oder die Dauer des Erteilungs- und Einspruchsverfahrens. Ferner sei das in der Praxis zu Artikel 6 (1) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) anerkannte Recht der Parteien eines Verfahrens auf Gleichbehandlung zu beachten. Dies schließe das Recht ein, sich gegen Ansprüche zu verteidigen und hierzu Behauptungen des Gegners mit Tatsachenvortrag und Beweismitteln entgegenzutreten. In der Literatur seien die Auffassungen zur Berechnung der Sechsmonatsfrist geteilt. Die für eine Anknüpfung an den Prioritätstag eintretende Meinung könne sich darauf stützen, daß Artikel 89 EPÜ über Artikel 54 (2) und (3) EPÜ implizit auf Artikel 55 EPÜ verweise. Die einschränkende Auslegung des Artikels 55 (1) EPÜ könne zudem das aus der ersten Anmeldung folgende Prioritätsrecht nicht gewährleisten. Dies verstoße nicht nur gegen Artikel 4A (1) der Pariser Verbandsübereinkunft zum Schutz des gewerblichen Eigentums (PVÜ), sondern auch gegen Artikel 87 EPÜ. Es könne für das Schicksal einer Anmeldung auch nicht vernünftigerweise darauf ankommen, ob sie bei einem nationalen Amt oder bei einer internationalen Behörde wie dem EPA eingereicht worden sei. Im Hinblick auf eine Abwägung der Interessen des Anmelders einerseits und der Öffentlichkeit andererseits zeige der Sachverhalt des vorliegenden Falles, daß sich der Anmelder nicht auf eine mißbräuchliche Offenbarung einstellen und die Nachanmeldung rechtzeitig, das heißt innerhalb von sechs Monaten nach der Offenbarung einreichen könne, da er von der mißbräuchlichen Offenbarung regelmäßig erst später erfahre.
XI. Vor der Großen Beschwerdekammer hat die Einsprechende im Verfahren G 3/98 die Auffassung vertreten, die Sechsmonatsfrist in Artikel 55 (1) EPÜ sei vom Zeitpunkt der tatsächlichen Einreichung der europäischen Patentanmeldung zu berechnen, und hierzu zwei Rechtsgutachten vorgelegt. Dies ergebe sich aus dem Wortlaut der Bestimmung, der auf die Einreichung der Anmeldung und nicht auf den Prioritätstag abstelle. Artikel 89 EPÜ nehme hinsichtlich der Wirkungen des Prioritätsrechts ausdrücklich nicht auf Artikel 55 EPÜ Bezug. Die entsprechenden Formulierungen seien vom Gesetzgeber bewußt gewählt worden, um eine Kumulierung der Prioritätsfrist und der Sechsmonatsfrist auszuschließen. Dieses Ergebnis sei auch in Einklang mit der PVÜ, da diese keine Vorgänge vor dem Prioritätstag regle. Die Auslegung des Wortlauts der Bestimmung im Zusammenhang der Vorschrift gemäß Artikel 31 der Wiener Vertragsrechtskonvention (WVK) führe zu einem eindeutigen Ergebnis. Dieses Ergebnis könne keineswegs als offensichtlich sinnwidrig oder unvernünftig im Sinne von Artikel 32 b) WVK angesehen werden. Dies werde schon dadurch ausgeschlossen, daß der Gesetzgeber des EPÜ diese Lösung bewußt gewählt habe und daß die Praxis in mehreren Vertragsstaaten bei der Auslegung vergleichbarer nationaler Bestimmungen und auch von Artikel 55 EPÜ zu demselben Ergebnis gekommen sei. Im übrigen bleibe der Erfinder keineswegs schutzlos gegenüber mißbräuchlichen Offenbarungen, da er ihm nach nationalem Recht zustehende zivilrechtliche Ansprüche geltend machen könne. Damit scheide die Heranziehung ergänzender Auslegungsmittel nach Artikel 32 WVK zusätzlich zur allgemeinen Auslegungsregel in Artikel 31 WVK aus.
XII. Demgegenüber haben sich die Patentinhaberinnen in beiden Verfahren auf den Standpunkt gestellt, daß die Sechsmonatsfrist vom Prioritätstag an zu berechnen sei. Dem stehe der Wortlaut von Artikel 55 (1) EPÜ schon deswegen nicht entgegen, weil sich die Bestimmung nicht mit den Wirkungen des Prioritätsrechts befasse. Ein entgegenstehender Wille der Vertragsstaaten könne aus den Materialien zum EPÜ nicht hergeleitet werden. Schließlich ergebe sich auch aus Artikel 89 EPÜ nichts anderes. Diese Bestimmung verweise auf Artikel 54 EPÜ, der den Stand der Technik regle. Auch Artikel 55 EPÜ sei eine Bestimmung zur Regelung des Standes der Technik; sie nehme bestimmte Offenbarungen vom Stand der Technik aus und verweise auf Artikel 54 EPÜ. Daher sei in die Verweisung des Artikels 89 EPÜ auf Artikel 54 (2) und (3) EPÜ eine Verweisung auf Artikel 55 EPÜ mit hineinzulesen. Allein eine solche Auslegung führe zu sachgerechten Ergebnissen und einem angemessenen Schutz, da andernfalls das Prioritätsrecht weitgehend ausgehöhlt werde. Dies sei angesichts des hohen Anteils europäischer Anmeldungen, in denen eine Priorität in Anspruch genommen werde, von besonderer Bedeutung. Eine enge Interpretation des Artikels 55 EPÜ versage insbesondere Anmeldern außerhalb der Vertragsstaaten die Möglichkeit, auf der Grundlage der Unionspriorität eine europäische Nachanmeldung einzureichen. Darin liege zugleich ein Verstoß gegen das Gebot der Inländerbehandlung in Artikel 2 PVÜ.
Die Einsprechende in dem Beschwerdeverfahren, das zur Vorlage G 2/99 geführt hat, hat ihren Einspruch zurückgenommen, nachdem sich die Patentinhaberin auf eine mißbräuchliche Offenbarung berufen hatte.
XIII. Mit Beschluß vom 27. Mai 1999 sind die beiden Verfahren nach Artikel 8 VerfOGBK verbunden worden. Am 12. Juli 2000 hat eine mündliche Verhandlung stattgefunden, an deren Ende die in der Entscheidungsformel enthaltene Antwort auf die vorgelegte Rechtsfrage verkündet worden ist.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Vorlagen
1.1 Zunächst ist hinsichtlich der Kriterien des Artikels 112 (1) a) EPÜ ohne weiteres zu bejahen, daß eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung vorliegt, deren Beantwortung eine einheitliche Rechtsanwendung sichern würde. Dieses Bedürfnis wird durch die Tatsache verdeutlicht, daß die Frage der Anknüpfung der Sechsmonatsfrist des Artikels 55 (1) EPÜ in einer Reihe von Entscheidungen offengelassen wurde (Nachweise in T 377/95, Gründe Nr. 2 und Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 3. Aufl. 1998, I.C.7.2).
1.2 Die vorgelegten Fragen stellen sich auch in den Verfahren, die zu den Vorlagen geführt haben.
1.2.1 In der Vorlage T 535/95 ist im einzelnen dargelegt, warum verschiedene Antworten auf die Vorlagefrage die Kammer zu verschiedenen Entscheidungen veranlassen würden. Demzufolge ist der Zusammenhang, in dem sich die Vorlagefrage in diesem Verfahren stellt, ohne weiteres ersichtlich.
1.2.2 Dagegen ist in der Vorlage T 377/95 eine solche Feststellung nicht getroffen.
So hat die Kammer das Vorliegen eines Mißbrauchs im Sinne von Artikel 55 (1) a) EPÜ nicht geprüft. Sie hat vielmehr hierzu ausgeführt, eine Vorschrift könne nicht auf einen Sachverhalt angewendet werden, ohne daß feststehe, daß sie auf diesen Sachverhalt anwendbar sei (Gründe Nr. 3). Dieser Satz kann dahin verstanden werden, daß zunächst der abstrakte Anwendungsbereich einer Vorschrift zu klären ist, bevor diese auf einen konkreten Sachverhalt angewendet werden kann. Dem kann sich die Große Beschwerdekammer nicht anschließen. Es gibt keinen verbindlichen Grundsatz, in welcher Reihenfolge die Voraussetzungen einer Norm bei ihrer Anwendung zu prüfen sind. Eine solche Reihenfolge wird vielmehr nach Gesichtspunkten der Zweckmäßigkeit zu treffen sein. Wird verneint, daß eine Vorschrift anwendbar ist, so kann das entscheidende Organ ein Kriterium auswählen, das nicht erfüllt ist, ohne weitere Kriterien zu prüfen. Aus Gründen der Verfahrensökonomie kann es das am leichtesten zu prüfende Kriterium auswählen. So mag im Einzelfall der Anwendungsbereich einer Norm höchst zweifelhaft sein, die Feststellung des Fehlens einer tatsächlichen Voraussetzung aber keinerlei Schwierigkeiten aufwerfen.
Ferner hat die Kammer 3.3.4 in ihrer Vorlage dahingestellt sein lassen, ob die neue Entgegenhaltung der Aufrechterhaltung entgegensteht. Zu dem Einwand des Einsprechenden in diesem Verfahren, die Neuheitsschädlichkeit dieser Entgegenhaltung mache eine Vorlage überflüssig, bemerkt sie lediglich, eine Voraussage über die Erheblichkeit dieses Dokuments sei nicht möglich, bevor eine Prüfung stattgefunden habe (Gründe Nr. 63).
1.2.3 Die Kammer 3.3.4 hat demgemäß nicht dargelegt, wie verschiedene Antworten auf die Vorlagefrage das weitere Verfahren beeinflussen würden. Gemäß Artikel 112 (1) a) EPÜ befaßt eine Beschwerdekammer innerhalb eines bei ihr anhängigen Verfahrens die Große Beschwerdekammer mit einer Rechtsfrage, wenn sie hierzu eine Entscheidung für erforderlich hält. Wenngleich es demnach für die Erforderlichkeit der Vorlage auf die Sicht der vorlegenden Kammer ankommt, muß deren Einschätzung doch auf objektiven Gegebenheiten beruhen und nachvollziehbar sein. In Einklang hiermit ist gemäß Artikel 17 (2) Satz 2 VerfOBK in der Vorlageentscheidung anzugeben, in welchem Zusammenhang sich die Vorlagefrage stellt. Daraus soll ersichtlich sein, daß die Vorlagefrage im Ausgangsverfahren nicht nur von theoretischer Bedeutung ist (siehe dazu auch Artikel 112 (3) EPÜ). Dies wäre jedenfalls dann der Fall, wenn die vorlegende Kammer nach dem Stand der Akten unabhängig von der Beantwortung der Vorlagefrage zu derselben Entscheidung käme.
1.2.4 Im vorliegenden Fall ergibt sich aus dem Vorbringen der Parteien im Verfahren vor der Kammer 3.3.4, daß zwischen den Parteien ernsthafter Streit über die Umstände besteht, die einen offensichtlichen Mißbrauch begründen sollen. Möglicherweise kann hierüber erst nach Erhebung weiterer Beweise entschieden werden. Ob dies dann zu einem klaren Beweisergebnis führt, ist durchaus fraglich. Es wäre nicht abwegig, wenn die an der angemeldeten Erfindung beteiligten Forscher von verschiedenen Vorstellungen über ihre Verpflichtungen ausgegangen sind. Ist das Beweisergebnis nicht eindeutig genug, kann die Beweislast für die Entscheidung den Ausschlag geben. In dieser Situation scheint es nicht unvernünftig, zunächst die Frage zu klären, ob die Anwendung von Artikel 55 (1) a) EPÜ schon deswegen ausscheidet, weil nach dem unstreitigen zeitlichen Ablauf die Offenbarung außerhalb der Frist von sechs Monaten vor der tatsächlichen Einreichung der Anmeldung erfolgt ist.
Was das angeblich neuheitsschädliche Dokument angeht, so ergibt sich aus dem Vorbringen der Parteien im Beschwerdeverfahren, daß kein Fall vorliegt, in dem die Heranziehung des präsenten Standes der Technik ohne weiteres eine abschließende Entscheidung erlaubt. Die neue Entgegenhaltung ist in der Beschwerdebegründung genannt worden. Ermittlungen beider Parteien deuten darauf hin, daß die Dissertation offenbar erst nach dem ersten Prioritätstag in einer Bibliothek öffentlich zugänglich war. Die Patentinhaberin hat beantragt, das Dokument als verspätet nicht zuzulassen. Die Einsprechende hält das Dokument für relevant, weil 4 von den 5 unabhängigen Ansprüchen des Patents die erste Priorität nicht zukomme. Das neue Dokument wirft somit eine Reihe von Fragen auf, die nichts mit dem Streitstoff in erster Instanz zu tun haben (Zulassung des Dokuments, Zurückverweisung als "fresh case", ausreichende Offenbarung in der ersten Prioritätsanmeldung, Neuheit und erfinderische Tätigkeit gegenüber dem Dokument). Insgesamt kann unter Berücksichtigung des Parteivorbringens im Beschwerdeverfahren nicht ohne weiteres davon ausgegangen werden, daß sich die Vorlagefrage als irrelevant für die abschließende Entscheidung über die Aufrechterhaltung des Patents erweisen könnte. Vielmehr sind die Gesichtspunkte, die eine abschließende Entscheidung ohne Beantwortung der Vorlagefrage erlauben würden, tatsächlich und in ihrer rechtlichen Bewertung ernsthaft umstritten. Bei dieser Sachlage erscheint es daher im Interesse der Verfahrenseffizienz ebenfalls vertretbar, zunächst die Vorlagefrage zu stellen.
2. Die Auslegung von Artikel 55 EPÜ
2.1 Der Wortlaut der Vorschrift
Als Ausgangspunkt für die Berechnung der Frist für unschädliche Offenbarungen bezeichnet Artikel 55 EPÜ die Einreichung der europäischen Patentanmeldung. Bezugspunkt der Vorschrift ist demnach die Einreichung der zu prüfenden Anmeldung und nicht die Einreichung einer Anmeldung, deren Priorität in Anspruch genommen ist. Nach Artikel 89 EPÜ, der die Wirkungen des Prioritätsrechts regelt, hat das Prioritätsrecht die Wirkung, daß der Prioritätstag als Tag der europäischen Patentanmeldung für die Anwendung von Artikel 54 (2) und (3) EPÜ sowie von Artikel 60 (2) EPÜ gilt; Artikel 55 EPÜ ist in dieser Bezugnahme nicht genannt. Damit sieht weder der Wortlaut von Artikel 55 EPÜ noch der Wortlaut von Artikel 89 EPÜ vor, daß die Frist für unschädliche Vorbenutzungen vom Prioritätstag an zu berechnen ist.
2.2 Der Wortlaut im Zusammenhang der Vorschrift
Die Patentinhaberin im Verfahren G 2/99 bezeichnet ein solches Ergebnis der Wortauslegung nur als vordergründig eindeutig. Sie ist der Meinung, nach der Systematik des Übereinkommens sei nicht zu erwarten, daß Artikel 55 EPÜ neben der Einreichung der europäischen Anmeldung auch die Einreichung einer prioritätsbegründenden Anmeldung erwähne, weil sich die Vorschrift mit den Voraussetzungen der Patentierbarkeit und nicht mit den Wirkungen des Prioritätsrechts befasse. Dabei wird freilich übersehen, daß das Übereinkommen außerhalb des Kapitels über die Priorität an einer Reihe von Stellen, die Fristen regeln, den Prioritätstag alternativ ausdrücklich neben der Einreichung der Anmeldung oder dem Anmeldetag anführt (vgl. etwa Artikel 77 (3) und (5) EPÜ sowie Artikel 93 (1) Satz 1 EPÜ). Dies ist schon deswegen erforderlich, weil aus Gründen der Rechtssicherheit die Entscheidung, an welchen von mehreren möglichen Zeitpunkten eine Frist anknüpft, nicht der Freiheit des Interpreten des Übereinkommens überlassen sein kann.
Die Vorlage T 377/95 greift das Argument auf, Artikel 89 EPÜ enthalte eine indirekte Verweisung auf Artikel 55 EPÜ (Gründe Nr. 45). Dies soll sich daraus ergeben, daß Artikel 89 EPÜ auf Artikel 54 (2) und (3) EPÜ verweise, die den Stand der Technik umfassend definierten. Es erscheine willkürlich, Artikel 55 EPÜ aus dem Stand der Technik in toto herauszunehmen, zumal die in Artikel 89 EPÜ genannten Absätze 2 und 3 gerade die Absätze des Artikels 54 EPÜ seien, auf die sich Artikel 55 EPÜ beziehe (so schon Loth, Neuheitsbegriff und Neuheitsschonfrist im Patentrecht, Köln 1988, S. 304). Dem ist entgegenzuhalten, daß Artikel 89 EPÜ die Wirkung des Prioritätsrechts nicht generell auf den Stand der Technik bezieht, sondern auf die Anwendung von drei einzeln genannten Vorschriften, zu denen Artikel 55 EPÜ nicht gehört. Darin liegt der Unterschied zu Artikel 56 EPÜ, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit generell auf den Begriff des Standes der Technik Bezug nimmt.
Im übrigen spricht gegen die Annahme einer impliziten Verweisung in Artikel 89 EPÜ auf Artikel 55 EPÜ auch die Verwendung verschiedener Begriffe in den beiden Bestimmungen. Als "Einreichung" im Sinne von Artikel 55 EPÜ ist eine Tätigkeit des Anmelders anzusehen; dies ergibt sich nicht nur aus dem Begriff selbst, sondern auch aus den Vorschriften über die Einreichung der europäischen Patentanmeldung in Artikel 75 und Artikel 76 (1) Satz 1 EPÜ oder aus der Befreiung vom Vertretungserfordernis in Artikel 133 (2) EPÜ. Dagegen ist der "Tag der Anmeldung" im deutschen Text von Artikel 89 EPÜ gleichbedeutend mit dem Anmeldetag (im englischen und französischen Text gibt es nur jeweils einen Begriff: "date of filing" und "date du dépôt"). Der Anmeldetag ist ein Tag, der der Anmeldung aufgrund der Eingangsprüfung (Artikel 90 (1) EPÜ) zuerkannt wird. Der Anmeldetag ist nicht notwendig mit dem Tag der Einreichung von Anmeldungsunterlagen identisch. Im Fall verspätet eingereichter Zeichnungen kann der Anmeldetag verschoben werden (Artikel 91 (6) in Verbindung mit Regel 43 EPÜ). An den Anmeldetag sind andere Rechtsfolgen geknüpft (z. B. die Laufzeit in Artikel 63 EPÜ) als an die Einreichung der europäischen Patentanmeldung (z. B. die Frist zur Zahlung der ersten Gebühren in Artikel 78 (2) EPÜ). Dies schließt es aus, beide Begriffe als gleichbedeutend zu behandeln. Die Große Beschwerdekammer kommt daher zu demselben Ergebnis wie schon das Schweizerische Bundesgericht in seinem Urteil vom 19. August 1991 (ABl. EPA 1993, 170 - Stapelvorrichtung) und der deutsche Bundesgerichtshof in seinem Beschluß vom 5. Dezember 1995 (ABl. EPA 1998, 263 - Corioliskraft), daß aus dem Wortlaut von Artikel 89 EPÜ und Artikel 55 EPÜ nicht hergeleitet werden kann, daß der Prioritätstag an die Stelle der Einreichung der Anmeldung tritt.
2.3 Der Wille des Gesetzgebers
Es kann auch nicht angenommen werden, daß der Anknüpfungspunkt in Artikel 55 EPÜ versehentlich gewählt worden ist und daß dadurch Folgen eintreten, die den Absichten des Gesetzgebers widersprechen. Dagegen spricht schon, daß der Gesetzgeber, wie vorstehend dargelegt, an anderer Stelle des Übereinkommens jeweils bewußt zwischen den drei Zeitpunkten Prioritätstag, Anmeldetag und Einreichung der Anmeldung als verschiedenen möglichen Anknüpfungspunkten unterscheidet. Welchen Zeitpunkt die Einreichung der Anmeldung definiert, war dem Gesetzgeber gerade im Zusammenhang mit den unschädlichen Offenbarungen bewußt. Er hat nämlich diesen Zeitpunkt auch als Anknüpfungspunkt für die Erfüllung der Formerfordernisse zur Geltendmachung des Ausstellungsschutzes herangezogen. So hat er in Artikel 55 (2) EPÜ vorgeschrieben, daß bei Einreichung der Anmeldung anzugeben ist, daß die Erfindung zur Schau gestellt worden ist. Die gleichfalls in Artikel 55 (2) EPÜ vorgeschriebene Ausstellungsbescheinigung ist gemäß Regel 23 Satz 1 EPÜ innerhalb einer Frist von vier Monaten nach Einreichung der Anmeldung einzureichen. Es kann dem Gesetzgeber nicht ohne weiteres unterstellt werden, daß er in demselben sachlichen Zusammenhang in zwei Absätzen derselben Bestimmung denselben Begriff verwendet, jedoch damit verschiedene Zeitpunkte definieren will. Auch die Möglichkeit, daß sowohl in Artikel 55 (1) EPÜ als auch in Artikel 55 (2) EPÜ und in Regel 23 Satz 1 EPÜ der Prioritätstag gemeint sein soll, kann ausgeschlossen werden. Dies würde ja bedeuten, daß die Handlungen nach Artikel 55 (2) EPÜ i.V.m. Regel 23 Satz 1 EPÜ schon zu erfüllen wären, bevor die Anmeldung eingereicht wurde. Formerfordernisse, die vor Einreichung der Anmeldung zu erfüllen sind, sind dem EPÜ aber fremd.
2.4 Die travaux préparatoires
Auch die Gesetzgebungsgeschichte liefert keinen Anhaltspunkt für ein gesetzgeberisches Versehen. In der Fassung der Vorbereitenden Dokumente für die Münchner Diplomatische Konferenz lautete die Anknüpfung der Frist für unschädliche Offenbarungen "... innerhalb von sechs Monaten vor dem Anmeldetag ..." (Dok. M/1, Artikel 53 des Entwurfs). Die niederländische Delegation wollte klargestellt haben, daß unter "Anmeldetag" im Sinne der Vorschrift der Tag der Einreichung der Anmeldung verstanden werden müsse. Daher wurde der Text der Vorschrift in diesem Punkt klargestellt und "Anmeldetag" durch "Einreichung" ersetzt (Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, Sitzungsbericht des Hauptausschusses I, Dok. M/PR/I, Rdn. 61). Bei derselben Gelegenheit wurde eine weitere Änderung vorgenommen und aufgrund eines Vorschlags der britischen Delegation "... innerhalb von sechs Monaten ..." durch die Formulierung "... nicht früher als sechs Monate ..." ersetzt, um die Einbeziehung nicht vorveröffentlichter, aber prioritätsälterer kollidierender Anmeldungen in den Anwendungsbereich von Artikel 55 (1) a) EPÜ sicherzustellen (Dok. M/PR/I, a.a.O., Rdn. 62 ff). Versuche, den Anwendungsbereich von Artikel 55 (1) b) EPÜ zu erweitern, lehnte der Hauptausschuß I unter anderem deswegen ab, weil eine solche Änderung vom Straßburger Patentübereinkommen (SPÜ) abweichen würde (Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, Anlage I, Bericht über die Beratungsergebnisse des Hauptausschusses I, Abschnitt C.II.2).
Artikel 4 SPÜ regelt die Berücksichtigung mißbräuchlicher Offenbarungen in den Absätzen 2 und 4 wie folgt:
(2) Vorbehaltlich der Bestimmungen des Absatzes 4 dieses Artikels bildet den Stand der Technik alles, was vor dem Tag der Einreichung der Patentanmeldung oder einer ausländischen Anmeldung, deren Priorität gültig beansprucht wird, durch schriftliche oder mündliche Beschreibung, durch Benutzung oder in sonstiger Weise der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist.
(4) Ein Patent kann nicht lediglich aus dem Grund verweigert oder für nichtig erklärt werden, daß die Erfindung innerhalb von sechs Monaten vor Einreichung der Anmeldung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden ist, wenn die Offenbarung unmittelbar oder mittelbar zurückgeht
a) auf einen offensichtlichen Mißbrauch zum Nachteil des Anmelders oder seines Rechtsvorgängers oder ....
Die unterschiedlichen Formulierungen in den beiden Absätzen machen deutlich, daß beim Stand der Technik nach Absatz 2 der Prioritätstag zu berücksichtigen ist, während bei dem offensichtlichen Mißbrauch in Absatz 4 allein auf die Einreichung der Anmeldung abzustellen ist. Bei Ausarbeitung des SPÜ bestand demgemäß Einvernehmen darüber, daß es auf die Einreichung in dem betreffenden Staat und nicht auf die Einreichung einer Anmeldung ankommt, deren Priorität in Anspruch genommen ist (Committee of Experts on Patents, Memorandum by the Secretariat on the meeting held at Strasbourg from 7th to 10th November 1961, Dok. EXP/Brev (61) 8, Rdn. 7). Bei den parallelen Arbeiten zum EPÜ war die zuständige Arbeitsgruppe der Ansicht, daß eine weitergehende Neuheitsschonfrist nur auf der Ebene der PVÜ dem Erfinder eine gesicherte Rechtsposition verschaffen könne. Eine isolierte Regelung im EPÜ gebe ihm eine falsche Sicherheit, die nicht mehr bestehe, wenn er eine Nachanmeldung außerhalb der Vertragsstaaten des EPÜ einreiche (Ergebnisse der fünften Sitzung der Arbeitsgruppe "Patente" vom 2. bis 18. April 1962 in Brüssel, Dok. (EWG) 3076/IV/62, S. 142, zu Artikel 15; ähnlich Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, Anlage I, Bericht über die Beratungsergebnisse des Hauptausschusses I, Abschnitt C.II.2).
Daraus ergibt sich zweierlei:
Erstens war dem Gesetzgeber des EPÜ aus Artikel 4 (4) SPÜ die Anknüpfung der Frist an die Einreichung der zu prüfenden Anmeldung bekannt. Zweitens wollte er in Artikel 55 EPÜ eine Regelung in Einklang mit dem SPÜ treffen. Dies entzieht jeder Vermutung die Grundlage, der Gesetzgeber habe die Reichweite der in Artikel 55 (1) a) EPÜ getroffenen Regelung nicht erkannt. Dies kann umso weniger angenommen werden, als die Frage der Kumulierung der Prioritätsfrist mit der Schutzfrist für unschädliche Offenbarungen auch bei Versuchen zur Ausweitung der Regelung in Artikel 11 PVÜ erörtert worden war und kontrovers geblieben ist (Ladas, Patents, Trademarks, and Related Rights, Cambridge, Mass. 1975, Vol. 1, § 341). Dementsprechend belegen auch Äußerungen im Anschluß an die Münchner Diplomatische Konferenz, daß der Gesetzgeber die Sechsmonatsfrist bewußt nicht vom Prioritätstag an berechnen wollte (Bericht der deutschen Delegation (Singer), GRUR Int. 1974, 47, 63; van Empel, The Granting of European Patents, Leyden 1975, Rdn. 88). Die Entstehungsgeschichte des EPÜ liefert daher keinen Anhaltspunkt dafür, daß der Wortlaut von Artikel 55 und 89 EPÜ nicht mit dem Sinn der Vorschriften übereinstimmt (Schweizerisches Bundesgericht, a.a.O., Gründe Nr. 2.b)aa)). Da offensichtlich eine Regelung mit zeitlich eng begrenztem Anwendungsbereich geschaffen werden sollte, kann auch der Hinweis auf die begrenzten Wirkungen der Vorschrift (Loth, a.a.O., S. 306) kaum überraschen.
2.5 Dynamische Auslegung
Auch die Vorlage T 377/95 interpretiert auf der Grundlage von Wortlaut und Zusammenhang des Übereinkommens Artikel 55 (1) a) EPÜ dahin, daß die Sechsmonatsfrist von der Einreichung der zu prüfenden Anmeldung an zu berechnen ist, und stellt fest, daß diese Auslegung dem Willen des Gesetzgebers bei der Schaffung des Übereinkommens entspreche (Gründe Nr. 21, 24). Die Kammer 3.3.4 meint jedoch, bei der Anwendung der Vorschrift müßten weitere Gesichtspunkte herangezogen werden, die dem Gesetzgeber nicht bekannt gewesen seien (Gründe Nr. 26). Nach Abwägung der betroffenen Interessen kommt sie zu der Auffassung, daß eine enge, auf das Erfordernis der Sorgfalt des Erfinders gestützte Auslegung nicht zu vernünftigen Ergebnissen führe (Gründe Nr. 52). Sie nennt folgende Gesichtspunkte, die sich erst nach Unterzeichnung des EPÜ ergeben hätten:
2.5.1 Die Häufigkeit der Inanspruchnahme von Prioritäten in europäischen Patentanmeldungen
Die Vorlage T 377/95 (Gründe Nr. 27) beruft sich auf Loth (Münchner Gemeinschaftskommentar, Artikel 55 EPÜ, Rdn. 65), der unter Hinweis auf den hohen Prozentsatz europäischer Nachanmeldungen die Auffassung vertritt, die Nichtkumulierung der Sechsmonatsfrist mit dem Prioritätsjahr hätte die fast völlige Bedeutungslosigkeit des Artikel 55 EPÜ zur Folge und führe zu einer Aushöhlung des Prioritätsrechts.
Es mag zutreffen, daß der Gesetzgeber nicht vorausgesehen hat, in wievielen Fällen in europäischen Anmeldungen Prioritäten in Anspruch genommen werden. Jedenfalls war jedoch damit zu rechnen, daß zumindest Anmelder aus Nicht-Vertragsstaaten regelmäßig die Priorität aus ihrem Heimatland in Anspruch nehmen. Damit war die Möglichkeit einer mißbräuchlichen Offenbarung vor dem Prioritätstag keineswegs ein Fall, der sich für den Gesetzgeber als eine ungewöhnliche Ausnahmesituation dargestellt hätte. Im übrigen ist es für die Bewertung des Interessenkonflikts zwischen dem von der mißbräuchlichen Offenbarung betroffenen Anmelder und der Öffentlichkeit, insbesondere den Wettbewerbern, nicht von entscheidender Bedeutung, wie häufig dieser Interessenkonflikt auftritt: Die abzuwägenden Interessen, vor allem Einzelfallgerechtigkeit und Rechtssicherheit, bleiben stets dieselben. Will man wegen einer Vielzahl von Fällen die Bewertung zugunsten des betroffenen Anmelders ändern, so ändert man sie auch notwendig in derselben Häufigkeit zu Lasten der Öffentlichkeit.
Was das Argument der Aushöhlung des Prioritätsrechts angeht, so ist festzustellen, daß das Prioritätsrecht unabhängig vom Bestehen einer Regelung über unschädliche Offenbarungen ist. Das Prioritätsrecht schützt davor, daß einer Anmeldung Tatsachen entgegengehalten werden, die im Prioritätsintervall eingetreten sind (Artikel 4B PVÜ). Dagegen betrifft das Prioritätsrecht nicht die Frage, welche Wirkungen vor dem Prioritätstag eingetretene Tatsachen auf die Nachanmeldung haben. Zwar verpflichtet Artikel 11 (1) PVÜ die Vertragsstaaten zur Gewährung von zeitweiligem Schutz für Erfindungen, die auf amtlichen oder amtlich anerkannten Ausstellungen zur Schau gestellt werden, den das EPÜ in Artikel 55 (1) b) EPÜ regelt. Hinsichtlich der Ausgestaltung dieses Schutzes verweist die Bestimmung aber auf das nationale Recht (zu möglichen Formen dieses Schutzes siehe Bodenhausen, Paris Convention for the Protection of Industrial Property, Genf 1968, Artikel 11, Anm. c). Zum Verhältnis zwischen dem einstweiligen Schutz und dem Prioritätsrecht bestimmt Artikel 11 (2) PVÜ in Satz 1, daß der einstweilige Schutz die Prioritätsfrist nicht verlängert, während Satz 2 dem nationalen Recht die Möglichkeit offenläßt, die Frist vom Tag der Ausstellung an zu berechnen. Eine Verpflichtung der Vertragsstaaten, die Frist zum Schutz vor unschädlichen Offenbarungen mit der Prioritätsfrist zu kumulieren, enthält die PVÜ demgemäß nicht. Daraus ergibt sich zugleich, daß auch kein Verstoß gegen den Grundsatz der Inländerbehandlung vorliegt. Wer eine Erstanmeldung einreicht, befindet sich in einer anderen tatsächlichen Situation als der Einreicher einer späteren Anmeldung. Dies gilt unabhängig davon, ob es sich wie bei der Unionspriorität um einen Sachverhalt mit Auslandsberührung handelt, oder wie bei der inneren Priorität um einen reinen Inlandssachverhalt. Artikel 2 PVÜ richtet sich nicht dagegen, daß verschiedene Sachverhalte verschieden geregelt werden. Die negativen Folgen für eine spätere Anmeldung im Ausland sollen, allerdings in beschränktem Umfang, durch Gewährung des Prioritätsrechts nach Artikel 4 PVÜ kompensiert werden. Kein Staat ist aber durch die PVÜ verpflichtet, den Nachanmelder in jeder Hinsicht so zu behandeln, als habe er die Anmeldung bereits am Prioritätstag eingereicht.
2.5.2 Der Zeitfaktor
Die Vorlage T 377/95 führt hierzu aus (Gründe Nr. 28-30), vor Einführung des Einspruchsverfahrens nach Erteilung seien verlängerte Auseinandersetzungen (zu ergänzen: durch Berücksichtigung mißbräuchlicher Offenbarungen) vor dem Patentamt möglicherweise ein Grund zur Besorgnis gewesen. Da das im EPÜ vorgesehene Einspruchsverfahren nach Patenterteilung das Verfahren vor der Erteilungsbehörde ohnehin verlängert habe, scheine eine solche Besorgnis nicht mehr dasselbe Gewicht wie früher zu haben. In ähnlicher Weise vertritt die Kammer 3.3.4 in ihrer Vorlage die Meinung, Bedenken gegen Verzögerungen des Einspruchsverfahrens durch die Notwendigkeit von Beweisaufnahmen, insbesondere Zeugeneinvernahmen, hätten im Vergleich zu früher nicht mehr die gleiche Bedeutung, da im Verfahren vor dem EPA ohnehin die Hälfte der Laufzeit des Patents vor einer endgültigen Entscheidung vergangen sein könnte.
Die Vorlage enthält keinen Beleg dafür, daß sich der Gesetzgeber tatsächlich von solchen Überlegungen hat leiten lassen. Es ist auch nicht ersichtlich, daß Erteilungs- oder Einspruchsverfahren früher in den Vertragsstaaten generell wesentlich kürzer gewesen seien. Im Gegenteil ist daran zu erinnern, daß parallel zu den Vorarbeiten zum EPÜ in den Niederlanden und in Deutschland die aufgeschobene Prüfung eingeführt wurde, um den Rückstand der anhängigen Anmeldungen abzubauen und damit die überlange Bearbeitungsdauer vor den Ämtern dieser Länder zu verkürzen. Schließlich ist schwer nachzuvollziehen, warum keine Bedenken dagegen bestehen sollen, ein ohnehin zu langes Verfahren weiter zu verlängern.
2.5.3 Artikel 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention
Nach Artikel 6 (1) EMRK hat jedermann "Anspruch darauf, daß seine Sache in billiger Weise öffentlich und innerhalb einer angemessenen Frist gehört wird, und zwar von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht, das über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen ... zu entscheiden hat". Unter Bezugnahme auf die Praxis zur EMRK legt die Vorlage T 377/95 dar (Gründe Nr. 33-35), daß aus der genannten Bestimmung zur Erfüllung des Gleichbehandlungsgebots das Recht hergeleitet wird, sich auf Beweismittel und Tatsachen zu beziehen, um sich gegen einen geltend gemachten Anspruch zu verteidigen.
Daraus folgert sie für die vorliegende Situation, daß es dem Patentinhaber möglich sein müsse, sich nach Artikel 55 (1) a) EPÜ auf einen Mißbrauch zu berufen, wenn der Gegner behauptet habe, dem Patent fehle wegen einer Offenbarung Neuheit oder erfinderische Tätigkeit (Gründe Nr. 35). Dabei wird außer acht gelassen, daß es sich bei dem Recht auf ein faires Verfahren im Sinne von Artikel 6 (1) EMRK um ein Verfahrensrecht zur Gewährleistung der Waffengleichheit der Parteien handelt. Eine Partei soll die Möglichkeit haben, Beweismittel der Gegenpartei durch geeignete eigene Beweismittel zu entkräften (Grotrian, Article 6 of the European Convention on Human Rights - The right to a fair trial, Strasbourg 1996, Nr. 91, mit Rechtsprechungsnachweisen). Im vorliegenden Fall geht es jedoch nicht darum, daß es dem Patentinhaber verwehrt wäre, sich aus Verfahrensgründen gegen Behauptungen zur Wehr zu setzen, die seiner Meinung nach unrichtig sind. Es geht vielmehr um die Frage des materiellen Rechts, welche Sachverhalte bei der Prüfung von Neuheit und erfinderischer Tätigkeit zu berücksichtigen sind. Die Ausgestaltung des materiellen Rechts ist aber nicht Gegenstand von Artikel 6 (1) EMRK; die Vorschrift enthält nur die verfahrensrechtliche Garantie eines fairen Verfahrens, in dem über die Ansprüche entschieden wird, wie immer sie der betreffende Staat nach seinem Ermessen vorsehen mag (Harris/ O'Boyle/ Warbrick, Law of the European Convention on Human Rights, London 1995, S. 186f., mit Rechtsprechungsnachweisen). Eines näheren Eingehens auf die sonstigen Voraussetzungen der Bestimmung bedarf es daher im vorliegenden Zusammenhang nicht.
2.5.4 Folgen der Auslegung nach dem Wortlaut
Unter Hinweis auf die Entscheidung einer Einspruchsabteilung vom 8. Juli 1991 (EPOR 1992, 79 - PASSONI/Stand structure) meint die Kammer 3.3.4, es sei nicht vernünftig, das Schicksal einer Anmeldung davon abhängig zu machen, ob sie ursprünglich bei einem nationalen Amt oder beim EPA eingereicht worden ist. Auf diese Alternative kommt es jedoch für die Berechnung der Sechsmonatsfrist im Zusammenhang mit einer mißbräuchlichen Offenbarung nicht an. Unterstellt man vielmehr, daß für das jeweilige nationale Amt eine mit Artikel 55 EPÜ harmonisierte Regelung gilt, so kommt es allein darauf an, ob die zu beurteilende Anmeldung eine Erstanmeldung oder eine mehr als sechs Monate nach der Offenbarung eingereichte Nachanmeldung ist. Nur die Erstanmeldung genießt den Schutz gegen die mißbräuchliche Offenbarung, nicht dagegen die Nachanmeldung, mag sie beim EPA oder bei einem nationalen Amt eingereicht sein.
Die Kammer 3.3.4 hält es auch für unvernünftig, vom Erfinder oder seinem Rechtsnachfolger zu verlangen, eine Nachanmeldung innerhalb von sechs Monaten nach einer mißbräuchlichen Offenbarung einzureichen, wenn er erst nachträglich von ihr erfahren habe. Dieses Argument läßt sich freilich jeder zeitlichen Grenze entgegenhalten, innerhalb der eine Anmeldung eingereicht werden muß, um Schutz gegen mißbräuchliche Offenbarung zu erhalten. Jedenfalls ist die Verletzung der Geheimhaltung durch die Offenbarung eher der Sphäre des Erfinders und späteren Anmelders zuzurechnen als der Sphäre der Allgemeinheit, insbesondere seiner Wettbewerber. Nur der Anmelder kann geeignete Maßnahmen treffen, die eine unbefugte Offenbarung verhindern sollen. Es ist daher nicht von vornherein unvernünftig oder unangemessen, den hier bestehenden Interessenkonflikt im Interesse der Rechtssicherheit zu Lasten des Anmelders zu lösen, und nicht im Interesse der Einzelfallgerechtigkeit zu Lasten der Allgemeinheit.
Im übrigen ist nicht ersichtlich, daß die genannten Wertungsgesichtspunkte dem Gesetzgeber unbekannt gewesen wären; vielmehr handelt es sich um Erwägungen, die jeder Diskussion einer Neuheitsschonfrist immanent sind. In dieser Hinsicht ist es der Rechtsanwendung verwehrt, ihre eigene Abwägung an die Stelle der Bewertung des Gesetzgebers zu setzen.
Nichts anderes kann aus dem Hinweis der Patentinhaberinnen auf die zwischenzeitliche Rechtsentwicklung insbesondere in Deutschland hergeleitet werden. Dort habe der Gesetzgeber im Bereich des Gebrauchsmuster- und Geschmacksmusterrechts die Neuheitsschonfrist an den für den Zeitrang der Anmeldung maßgeblichen Tag geknüpft, der auch der Prioritätstag sein kann (vgl. § 3 Satz 3 DE-GebrMG, § 7a DE-GeschmMG). Darin sei ein Zeichen dafür zu sehen, daß das Fehlen einer ausreichenden Neuheitsschonfrist zunehmend als unbefriedigend empfunden werde. Gerade diese gesetzgeberische Entwicklung in Deutschland zeigt aber, daß die rechtspolitische Entscheidung über eine Ausweitung des Anwendungsbereichs der Neuheitsschonfrist als Sache des Gesetzgebers behandelt worden ist. So hat der deutsche Gesetzgeber auch differenziert und den Unterschied in der Neuheitsschonfrist zwischen Gebrauchsmuster und Patent bewußt bestehen lassen. Dem lag die Erwägung zugrunde, daß Wünsche, die rigorose Einschränkung der Neuheitsschonfrist im Patentrecht zu revidieren, sinnvollerweise nur im Rahmen einer umfassenden internationalen Abstimmung erfüllt werden könnten (Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gebrauchsmustergesetzes, Teil B, Zu Nr. 2, Pkt.2, Bl.f.PMZ, 1986, 320, 324).
Insgesamt ist nicht zu erkennen, daß sich seit der Unterzeichnung des Übereinkommens Gesichtspunkte ergeben hätten, die Grund zu der Annahme geben könnten, eine dem Wortlaut getreue Auslegung von Artikel 55 (1) a) EPÜ stehe in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen. Daher bedarf die zwischen den Parteien streitige Frage, unter welchen Voraussetzungen eine dynamische Auslegung zu einem vom Gesetzeswortlaut abweichenden Ergebnis führen kann, keiner weiteren Erörterung.
2.6 Das Ergebnis der vorstehenden Auslegung steht in Einklang mit den höchstrichterlichen Entscheidungen in der Schweiz und in Deutschland (s.o. Nr. 2.2). Besonders hinzuweisen ist auf die eingehend begründete schweizerische Entscheidung, weil der schweizerische Gesetzgeber für das nationale Recht eine andere Lösung gewählt hat, die ausdrücklich an den Prioritätstag anknüpft. Das Gericht hat eine inhaltliche Übereinstimmung der unterschiedlich formulierten Regelungen des nationalen und des europäischen Rechts verneint, obwohl die schweizerischen Materialien darauf hindeuteten, daß der nationale Gesetzgeber die Regelungen als gleichbedeutend angesehen hatte (a.a.O., Gründe Nr. 2a) und 2b)dd), letzter Abs.).
Zu einem anderen Ergebnis ist die höchstrichterliche Rechtsprechung in den Niederlanden gekommen. Die Entscheidung des Hoge Raad vom 23. Juni 1995 (ABl. EPA 1998, 278 - Follikelstimulationshormon II) ist im Verfahren der einstweiligen Verfügung ergangen und stellt in ihrer knappen Begründung auf den Schutzzweck von Artikel 55 EPÜ ab. Sie zeigt keine Gesichtspunkte auf, die das hier gewonnene Ergebnis in Frage stellen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegte Rechtsfrage wird wie folgt beantwortet:
Für die Berechnung der Frist von sechs Monaten nach Artikel 55 (1) EPÜ ist der Tag der tatsächlichen Einreichung der europäischen Patentanmeldung maßgebend; der Prioritätstag ist für die Berechnung dieser Frist nicht heranzuziehen.