AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
DE Deutschland
Beschluß des Bundesgerichtshofs, X. Zivilsenat, vom 5. Dezember 1995
(X ZB 1/94)*
Stichwort: Corioliskraft
Artikel XI § 3 (6) Satz 2 IntPatÜG**
§ 3 (4) PatG 1981
Schlagwort: "Neuheitsschonfrist - Berechnung"
Leitsatz
Für die Berechnung der sechsmonatigen Neuheitsschonfrist nach Art. XI § 3 (6) Satz 2 IntPatÜG ist - ebenso wie bei § 3 (4) PatG 1981 und Art. 55 (1) EPÜ - einerseits auf das Prioritätsdatum einer inhaltlich neuheitsschädlichen früheren Patentanmeldung und andererseits auf das Anmeldedatum (nicht auf ein früheres Prioritätsdatum) der späteren Patentanmeldung abzustellen.
Aus den Gründen
I. Auf die am 25. Juli 1978 unter Inanspruchnahme der Unionspriorität einer Voranmeldung (...) vom 25. Juli 1977 eingereichte Patentanmeldung hat das Deutsche Patentamt das Patent 28 33 037 (künftig: Streitpatent) (...) am 13. August 1986 erteilt. Gegen die Erteilung des Patents hat u. a. die Rechtsbeschwerdegegnerin (künftig: Einsprechende) Einspruch eingelegt.
Die Einsprechende hat sich (...) darauf berufen, das Streitpatent sei durch den Inhalt der früheren deutschen Patentanmeldung 28 22 087 (künftig: Entgegenhaltung) vom 20. Mai 1978, offengelegt am 14. Dezember 1978, neuheitsschädlich vorweggenommen; für die Entgegenhaltung ist eine Unionspriorität vom 7. Juni 1977 in Anspruch genommen.
(...) das Deutsche Patentamt hat das Streitpatent widerrufen. Nach dem ab 1. Januar 1978 geltenden deutschen Patentrecht sei die das Streitpatent neuheitsschädlich vorwegnehmende Entgegenhaltung aufgrund ihres Altersranges zu berücksichtigen. Gegen diesen Beschluß hat die Patentinhaberin Beschwerde eingelegt (...). Das Bundespatentgericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Dagegen richtet sich die (...) Rechtsbeschwerde der Patentinhaberin.
II. Die zulässige Rechtsbeschwerde hat in der Sache keinen Erfolg.
1. Das Beschwerdegericht hat die Zurückweisung der Beschwerde damit begründet, Anspruch 1 des Streitpatents sei neuheitsschädlich durch die nachveröffentlichte Entgegenhaltung älteren Zeitranges vorweggenommen. Die Neuheitsschonfrist gemäß Art. XI § 3 (6) Satz 2 IntPatÜG komme der Inhaberin des Streitpatents nicht zugute, weil die Beschreibung in der Entgegenhaltung nicht erst innerhalb der Frist von sechs Monaten vor der Anmeldung des Streitpatents erfolgt sei. (...)
2. Ohne Rechtsfehler wendet das Beschwerdegericht bei der Neuheitsprüfung (...) das PatG (...) in der ab 1. Januar 1978 geltenden Fassung an. (...) Auf dieser (...) Grundlage kommt der (...) Beschluß zu dem Ergebnis, daß die nachveröffentlichte Entgegenhaltung aufgrund einer zu Recht in Anspruch genommenen Unionspriorität vom 7. Juni 1977 im Sinne des § 2 (2) PatG 1978 (= § 3 (2) PatG 1981) gegenüber dem Streitpatent als älterer Stand der Technik anzusehen ist (...).
3. (...) ohne Erfolg macht die Rechtsbeschwerde demgegenüber geltend, die auf der Erfindung der Einsprechenden beruhende Beschreibung der Entgegenhaltung sei innerhalb der Neuheitsschonfrist erfolgt und sei deshalb unschädlich. (...)
Zu Recht hat das Beschwerdegericht den Lauf der Sechs-Monats-Frist von dem Tag der "Einreichung" der Anmeldung des Streitpatents und nicht von dessen Prioritätstag zurückgerechnet. Das entspricht dem Wortlaut des Gesetzes und der überwiegenden Ansicht zu den entsprechenden Bestimmungen des § 2 (4) PatG 1978 (= § 3 (4) PatG 1981) und Art. 55 (1) EPÜ (vgl. Benkard, PatG GebrMG, 9. Aufl., § 3 Rdn. 96; Schulte, PatG, 5. Aufl., § 3 Rdn. 96; Singer, EPÜ Art. 55 Rdn. 2; Günzel, Festschrift Rudolf Nirk, 1992, S. 441, 453; Schweizerisches Bundesgericht BGE 117 II, 480 ff.; ebenso letztlich auch Bernhardt/Kraßer, Lehrbuch des Patentrechts, 4. Aufl., § 16 VI 1, 147 f.; offengelassen von EPA, Entscheidung vom 01.07.1985 - T 173/83, GRUR Int. 1988, 246 - Antioxidans/Telecommunications1 ; kritisch Loth, Gemeinschaftskomm. z. EPÜ, Art. 55 Rdn. 62 ff.; ders., Neuheitsbegriff und Neuheitsschonfrist im Patentrecht, 1988, 302 ff.; a. A. Hoge Raad, Urt. v. 23.06.19952 ) (...) Das wird zu Art. 55 (1) EPÜ bestätigt durch die Bestimmung des Art. 89 EPÜ, nach welcher der Prioritätstag als Tag der Patentanmeldung lediglich im Rahmen von Art. 54 (2) und (3) sowie im Rahmen von Art. 60 (2) EPÜ gilt; Art. 55 (1) EPÜ ist dort nicht erwähnt3. (...)
4. Das Beschwerdegericht hat bei der Prüfung des Laufs der sechsmonatigen Neuheitsschonfrist zutreffend auf den Prioritätstag der früheren Anmeldung abgehoben.
a) zu Recht sieht das Beschwerdegericht die nach Art. XI § 3 (6) Satz 2 IntPatÜG maßgebliche "Beschreibung" der Entgegenhaltung in der prioritätsbegründenden Anmeldung der Entgegenhaltung vom 7. Juni 1977. (...)
b) (...) Das geltende Recht spricht zumindest tendenziell dafür, unter "Beschreibung" (...) bereits die prioritätsbegründende Anmeldung einer Entgegenhaltung, nicht erst deren spätere Veröffentlichung zu verstehen. Zweifel daran, daß die prioritätsbegründende Anmeldung der Entgegenhaltung vom 7. Juni 1977 als die nach der Übergangsregelung erforderliche "Beschreibung" zu werten ist, ergeben sich insbesondere nicht aus der Regelung in § 2 (4) PatG 1978 (= § 3 (4) PatG 1981; Art. 55 (1) EPÜ). Nach § 3 (4) PatG 1981 bzw. Art. 55 (1) EPÜ bleibt eine "Offenbarung" der Erfindung (...) u. a. außer Betracht, wenn sie "nicht früher als sechs Monate" vor der Einreichung der Anmeldung erfolgt ist. Unter "Offenbarung" aber ist (...) eher die Darstellung der Erfindung als deren Veröffentlichung zu verstehen. § 35 (2) PatG 1981 wie Art. 83 EPÜ bezeichnen die Beschreibung der technischen Lehre (...) als "Offenbarung" und betreffen die (noch) nicht veröffentlichte Patentanmeldung. Für ein Verständnis der "Offenbarung" als Darstellung der Erfindung spricht auch, daß nach § 3 (2) PatG 1981 ebenso wie nach Art. 54 (3) EPÜ (...) auch eine (noch) nicht veröffentlichte frühere Patentanmeldung zum (fiktiven) Stand der Technik gehören. (...) Nach Art. 54 (4) EPÜ werden frühere Anmeldungen bei der Neuheitsprüfung nur berücksichtigt, soweit der territoriale Geltungsbereich sich mit dem der früheren Anmeldung deckt. Das bestätigt, daß die Regelung insgesamt der Verhinderung von Doppelpatentierungen dient. (...) Dies deutet darauf hin, Zweck der Fristenregelung in § 3 (4) PatG 1981 wie auch in Art. 55 (1) EPÜ habe (...) der Umstand sein sollen, daß (...) der Berechtigte - gerade auch in den Mißbrauchsfällen - angemessen Gelegenheit erhalte, seinerseits die Erfindung anzumelden, so daß folgerichtig lediglich auf das Alter der Erstanmeldung abgestellt würde. (...)
5. (...) Anhaltspunkte dafür, daß ein umfassender Schutz des berechtigten Anmelders für eine Zeit, die länger als sechs Monate vor seine spätere Anmeldung zurückreichen würde, beabsichtigt war, sind nicht ersichtlich (...).
DE 2/98
* Amtlicher Leitsatz und Auszug aus den Gründen der Entscheidung, die vollständig veröffentlicht sind in GRUR 1996, 349 und Bl. f. PMZ 1996, 313.
** Gesetz über Internationale Patentübereinkommen v. 21. Juni 1976
3 Vgl. dazu auch Entscheidung T 436/92 referiert in Rechtsprechung der Beschwerdekammern des EPA, 2. Aufl. 1996, S. 95.