AUS DEN VERTRAGS- / ERSTRECKUNGSSTAATEN
NL Niederlande
Urteil des Hoge Raad (Kassationshof) vom 23. Juni 1995*
(Organon International BV et al. ./. Applied Research Systems ARS Holding BV)
Stichwort: Follikelstimulationshormon II
Artikel 30 (1), (3), (4) Reichspatentgesetz 1977 (ROW)
Schlagwort: "Neuheitsschonfrist - Berechnung - offensichtlicher Mißbrauch" - "Vorbenutzungsrecht" - "Versuchsprivileg"
Leitsätze
1. Offensichtlicher Mißbrauch im Sinne von Art. 55 (1) EPÜ liegt vor, wenn klar und unzweifelhaft feststeht, daß ein Dritter nicht dazu befugt war, die betreffende Information an andere Personen weiterzugeben.
2. Bei Bestehen eines Prioritätsrechts ist der Berechnung der Sechsmonatsfrist des Art. 55 (1) EPÜ, innerhalb derer eine mißbräuchliche Offenbarung nicht neuheitsschädlich ist, der Prioritäts- und nicht der Anmeldetag zugrundezulegen.
3. Das Vorbenutzungsrecht des Art. 30 (4) ROW bezieht sich nur auf die Verwendung im und für das Unternehmen.
4. Die Ausnahme zu Versuchszwecken gemäß Art. 30 (3) ROW deckt nicht eine Anwendung des patentierten Gegenstandes durch Forschung mit dem patentierten Gegenstand.
Aus den Gründen
3.1 (...)
ARS ist Inhaberin des europäischen Patents Nr. 211894 für "Follicle stimulating hormone" (FSH). (...) Prioritätsdatum ist der 30.1.1985. Die Anmeldung, die zur Patenterteilung führte, wurde am 4.3.1987 veröffentlicht. (...)
Diosynth BV (Revisionskl. zu 2) hat (...) FSH (...) hergestellt, woraus das unter der Bezeichnung Org 32489 bekannte pharmazeutische Präparat von Organon (u. a.) besteht. (...) Organon International BV (Revisionskl. zu 1) u. a. führen in bezug auf dieses (...) klinische Testversuche (...) durch.
3.2 ARS hat im einstweiligen Verfügungsverfahren ein Unterlassungsgebot (...) beantragt, mit der Behauptung, daß mit der Herstellung von Org 32489 und dessen Anwendung in klinischen Versuchen die Rechte aus dem europäischen Patent Nr. 211894 (...) verletzt würden.
Organon u. a. verteidigen sich (...) mit dem Argument, (...) daß die im Patent beschriebene Materie im Prioritätszeitpunkt nicht neu und nicht erfinderisch gewesen sei, und subsidiär damit, daß sie aufgrund der Versuchsausnahme gemäß Art. 30 (3) ROW bzw. des Vorbenutzungsrechts gemäß Art. 30 (4) ROW zu ihren Handlungen berechtigt seien.
Der Präsident (der Arrondissementsrechtbank Den Haag) hat die beantragten Maßnahmen in seinem Urteil abgelehnt. (...) Der Gerechtshof (Den Haag) hat (...) der Klage größtenteils stattgegeben. Die hierfür vom Gerechtshof angeführten Gründe können (...) wie folgt zusammengefaßt werden:
(a) Organon u. a. berufen sich ohne Erfolg auf die Veröffentlichung des Beck-abstract, da diese als Resultat eines offensichtlichen Mißbrauchs (...) zu betrachten ist und außerdem innerhalb der in Art. 55 (1) EPÜ bestimmten Frist von sechs Monaten erfolgte (...).
(b) Die Berufung von Organon u. a. auf das Vorbenutzungsrecht ist nicht möglich, weil die Zurverfügungstellung von FSH an Krankenhäuser und Forschungszentren für klinische Versuche nicht als Benutzung "für Bedürfnisse des Unternehmens" im Sinne von Art. 30 (4) Satz 2 ROW betrachtet werden kann. (...)
(c) Auch die Berufung von Organon u. a. auf die Ausnahme zu Versuchszwecken scheitert angesichts des großen Umfangs der Forschung und der Tatsache, daß die Forschung in überwiegendem Maße auf die Anmeldung des von Organon entwickelten Heilmittels abzielt (...).
3.3.1 Die Revisionsrüge 2 (...) greift an, daß die Erwägungen des Gerechtshof, in denen er das Beck-abstract als die Folge eines offensichtlichen Mißbrauchs ("an evident abuse") im Sinne von Art. 55 (1) a) EPÜ betrachtet, unrichtig (...) seien.
Diese Rüge bleibt ohne Erfolg. Der Gerechtshof hat sich zu Recht der (...) von einer Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in einer Entscheidung vom 1.7.19851 vertretenen Auffassung angeschlossen, daß ein offensichtlicher Mißbrauch im Sinne des Artikels 55 (1) a) EPÜ nur dann vorläge, wenn klar und unzweifelhaft feststünde, daß ein Dritter nicht zur Weitergabe der empfangenen Informationen an andere Personen berechtigt war.
3.3.2 Die Revisionsrüge 2.b macht die Unrichtigkeit der Erwägung des Gerechtshof geltend, daß im Falle der Existenz eines Prioritätsrechts die in Art. 55 (1) EPÜ erwähnte Frist von sechs Monaten nicht vom Anmeldezeitpunkt, sondern vom Prioritätszeitpunkt an zu berechnen ist.
Diese Rüge ist unbegründet. Wie sich aus Art. 89 EPÜ ergibt, bewirkt das Prioritätsrecht, daß unter anderem für die Anwendung von Art. 54 (2) EPÜ - einer Bestimmung, die den relevanten Stand der Technik zeitlich festlegt und also eng mit Art. 55 (1) EPÜ zusammenhängt - der Prioritätstag als der Anmeldetag der europäischen Patentanmeldung gilt. Der Zweck von Art. 55 (1) EPÜ - Schutz der Anmelder - würde nicht zur Geltung gebracht, würde man diese Bestimmung in den Fällen, in denen ein Prioritätsrecht existiert, wörtlich auslegen. Das System des Übereinkommens rechtfertigt somit eine Auslegung, bei der das Prioritätsdatum, auch bei der Berechnung der in Art. 55 (1) EPÜ bestimmten Frist, an die Stelle des Anmeldetages tritt.
3.4.1 Die Revisionsrüge 3 greift die Erwägungen an, mit denen der Gerechtshof die Berufung von Organon u. a. auf das in Art. 30 (4) Satz 2 ROW geregelte Vorbenutzungsrecht als unbegründet abgelehnt hat. (...)
Dieser Rüge kann nicht gefolgt werden. Wie der Gerechtshof richtig erwogen hat, enthält diese Bestimmung eine Ausnahme von Art. 30 (1) ROW, in dem das ausschließliche Recht der Patentinhaber geregelt ist, und muß daher ihrer Art nach einschränkend ausgelegt werden. Aus der (...) Begründung zum Entwurf des Reichspatentgesetzes vom 12.1.1977 (Stb. 160) (...) ergibt sich, daß die Freistellung sich nur auf die Verwendung im oder für das Unternehmen (im Sinne von Art. 30 (1) ROW) bezieht, und nicht auf die übrigen dem Patentinhaber nach diesem Absatz vorbehaltenen Handlungen. (...)
3.5.1 Die Revisionsrüge 4 richtet sich gegen die Erwägung (...), daß sich Organon u. a. vergeblich auf die Ausnahme zu Versuchszwecken gemäß Art. 30 (3) ROW berufen. Die Rüge enthält unter anderem eine Rechtsbeschwerde, die offenbar den Hoge Raad dazu bewegen soll, seine in der Entscheidung vom 18.12.1992 (NJ 1993, 735) vertretene Auffassung zur beschränkten Reichweite dieser Ausnahme aufzugeben. Der Hoge Raad sieht dazu keinen Anlaß, so daß die Beschwerde erfolglos bleibt.
NL 2/98
* Gekürzte Fassung der in GRUR Int. 1997, 838 veröffentlichten Übersetzung der Entscheidung, die in NJ 1996, 463 und im Bijblad 1997, 235 im Original wiedergegeben ist.