BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 19. Februar 2010 - G 2/08
(Übersetzung)
ZUSAMMENSETZUNG DER KAMMER:
Vorsitzender:
P. Messerli
Mitglieder:
J.-P. Seitz, P. Alting van Geusau, B. Günzel, U. Kinkeldey, S. Nathanael, B. Schachenmann
Beschwerdeführer/Anmelder:
Abbott Respiratory LLC
Stichwort:
Dosierungsanleitung/ABBOTT RESPIRATORY
Relevante Rechtsnormen:
Artikel 53 c), 54 (4), 54 (5) EPÜ
Relevante Rechtsnormen (EPÜ 1973):
Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge:
Artikel 31, 32
Schlagwort:
"Zulässigkeit der Vorlage (bejaht)" - "anwendbares Recht" - "Regeln zur Auslegung des EPÜ als internationaler Vertrag" - "Bereich des nach Artikel 53 c) EPÜ Verbotenen und des nach Artikel 54 (4) und (5) EPÜ Erlaubten" - "Absicht des Gesetzgebers" - "Konzept der fiktiven Neuheit nach Artikel 54 (4) und (5) EPÜ" - "Bedeutung von "spezifische Anwendung" nach Artikel 54 (5) EPÜ" - "technische Wirkung einer spezifischen Anwendung" - "Abschaffung der sogenannten schweizerischen Anspruchsform" - "Festlegung einer Frist, damit die Anmelder sich umstellen können"
Leitsatz:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen werden wie folgt beantwortet:
Frage 1:Wenn die Verwendung eines Arzneimittels bei der Behandlung einer Krankheit bereits bekannt ist, schließt Artikel 54 (5) EPÜ nicht aus, dass dieses Arzneimittel zur Verwendung bei einer anderen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert wird.
Frage 2:Die Patentierbarkeit ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn das einzige nicht im Stand der Technik enthaltene Anspruchsmerkmal eine Dosierungsanleitung ist.
Frage 3: Wird dem Gegenstand eines Anspruchs nur durch eine neue therapeutische Verwendung eines Arzneimittels Neuheit verliehen, so darf der Anspruch nicht mehr in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst werden, wie sie mit der Entscheidung G 1/83 geschaffen wurde.
Es wird eine Frist von drei Monaten nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung im Amtsblatt des Europäischen Patentamts festgesetzt, damit künftige Anmelder dieser neuen Situation gerecht werden können.
Sachverhalt und Anträge
I. Die ursprünglich von Kos Life Sciences, Inc. eingereichte europäische Patentanmeldung Nr. 94 306 847.8 (jetzige Anmelderin Abbott Respiratory LLC) wurde durch Entscheidung der Prüfungsabteilung vom 25. September 2003 wegen mangelnder Neuheit gemäß Artikel 54 (1) und (2) EPÜ 1973 und Nichterfüllung der Erfordernisse des Artikels 52 (4) EPÜ 1973 zurückgewiesen.
Dieser Entscheidung lag der wie folgt lautende Anspruch 1 zugrunde:
"1. Verwendung von Nicotinsäure oder einer aus der Gruppe d-Glucitolhexanicotinat,
Aluminiumnicotinat, Niceritrol, d-1-alpha- Tocopherylnicotinat und Nicotinylalkoholtartrat ausgewählten Verbindung, die vom Körper zu Nicotinsäure umgewandelt wird, zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung einmal täglich vor dem Schlafengehen, dadurch gekennzeichnet, dass das Arzneimittel nicht folgende Mischung umfasst: 5 - 30 % Hydroxypropylmethylcellulose, 2 - 15 % eines wasserlöslichen pharmazeutischen Bindemittels, 2 - 20 % einer hydrophoben Komponente und 30 - 90 % Nicotinsäure" (Hervorhebung durch die Kammer).
Wie in der angefochtenen Entscheidung dargelegt, wurde nach Auffassung der Prüfungsabteilung der Gegenstand des Anspruchs 1 durch die Offenbarung in früheren Dokumenten vorweggenommen, in denen die Verwendung von Nicotinsäure zur Herstellung eines Retardarzneimittels zur Verwendung bei der Behandlung von Hyperlipidämie durch orale Verabreichung vorgeschlagen wurde.
Diesbezüglich befand die erste Instanz, insbesondere unter Verweis auf die Entscheidungen T 317/95 und T 584/97, dass dem Merkmal in Anspruch 1, das sich auf eine spezielle Dosierungsanleitung eines Medikaments bezog, nämlich einmal täglich vor dem Schlafengehen, eine medizinische Tätigkeit zugrunde liege, die nach Artikel 52 (4) EPÜ 1973 von der Patentierung ausgeschlossen sei und somit nicht als neuheitsbegründende weitere medizinische Indikation betrachtet werden könne (Nrn. 27 und 28 der Entscheidungsgründe).
I.1 Die Anmelderin legte gegen diese Entscheidung Beschwerde ein und hielt auf der Basis desselben Anspruchs 1 vor der Beschwerdekammer an ihrer Anmeldung fest.
I.1.1 Da diese Anmeldung am 13. Dezember 2007, dem Tag des Inkrafttretens des EPÜ 2000, anhängig war und noch keine Entscheidung über die Erteilung des Patents ergangen war, befand die Beschwerdekammer in der Entscheidung vom 22. April 2008, dass kraft des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des EPÜ vom 29. November 2000, Artikel 1 Nummern 1 und 3, die Artikel 53 c), 54 (4) und 54 (5) EPÜ 2000 auf die strittige Anmeldung anzuwenden seien und nicht mehr - wie zu dem Zeitpunkt, da die Prüfungsabteilung zu ihrer Entscheidung gelangt war - die Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ 1973.
I.1.2 Die Beschwerdekammer gelangte zu dem Schluss, dass die Frage, ob Arzneimittel zur Verwendung bei Verfahren zur therapeutischen Behandlung, deren einziges möglicherweise Neuheit verleihendes Merkmal eine Dosierungsanleitung ist, nach den Artikeln 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 patentierbar sind, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung sei (Entscheidung T 1319/04, ABl. EPA 2009, 36). Der Großen Beschwerdekammer wurden folgende Rechtsfragen zur Entscheidung vorgelegt:
(1) Wenn die Verwendung eines bestimmten Arzneimittels bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit bereits bekannt ist, kann dieses bekannte Arzneimittel dann gemäß den Bestimmungen der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 zur Verwendung bei einer anderen, neuen und erfinderischen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert werden?
(2) Wenn Frage 1 bejaht wird, kann auch dann ein Patent erteilt werden, wenn das einzige neue Merkmal der Behandlung eine neue und erfinderische Dosierungsanleitung ist?
(3) Müssen bei der Auslegung und Anwendung der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 besondere Erwägungen angestellt werden?
I.2 In Mitteilungen vom 20. bzw. 23. Mai 2008 forderte die Große Beschwerdekammer die Präsidentin des EPA und die Beschwerdeführerin auf, sich schriftlich zu den Rechtsfragen zu äußern, die ihr von der Technischen Beschwerdekammer vorgelegt worden waren. Ferner beschloss die Große Beschwerdekammer gemäß Artikel 10 (2) ihrer Verfahrensordnung, im Amtsblatt des EPA nähere Bestimmungen betreffend Stellungnahmen von Dritten zu den ihr von der Technischen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen bekannt zu machen.
II. Die Ausführungen der Beschwerdeführerin lassen sich wie folgt zusammenfassen:
II.1 Die Bestimmungen des Artikels 53 c) EPÜ 2000, die Verfahren zur therapeutischen Behandlung von der Patentierbarkeit ausschlössen, stellten eine Ausnahme von dem allgemeinen Grundsatz dar, dem zufolge Patente auf allen Gebieten der Technik erteilt würden; diese Ausnahme sei folglich eng auszulegen. Dieser Grundsatz sei in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern befolgt worden.
II.2 Das Übereinkommen über handelsbezogene Aspekte der Rechte des geistigen Eigentums (TRIPS-Übereinkommen), dem auch fast alle Vertragsstaaten des Europäischen Patentübereinkommens angehörten, sehe in Artikel 27 (1) ebenfalls vor, dass Patente für Erfindungen auf allen Gebieten der Technik erhältlich seien, und in Artikel 27 (3), dass die Mitgliedstaaten diagnostische, therapeutische und chirurgische Verfahren für die Behandlung von Menschen oder Tieren auch von der Patentierbarkeit ausschließen könnten.
Im Interesse der Konsistenz mit dem Wortlaut des Artikels 27 (1) TRIPS-Übereinkommen, mit dem das revidierte EPÜ habe in Einklang gebracht werden müssen, seien deshalb die in Artikel 53 c) EPÜ 2000 enthaltenen Ausnahmen von der Patentierbarkeit eng auszulegen.
II.3 Dies entspreche auch den Bestimmungen des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge, dessen Anwendbarkeit die Große Beschwerdekammer bereits in der Sache G 1/83 bestätigt habe und dem zufolge ein Vertrag in erster Linie nach Treu und Glauben auszulegen sei.
II.4 Was die neuen Artikel 54 (4) und 54 (5) EPÜ 2000 angehe, hätten die Verfasser des revidierten EPÜ beabsichtigt, dass "die von der Großen Beschwerdekammer des EPA entwickelte Rechtsprechung im Übereinkommen verankert werden [soll] ... der Basisvorschlag [verfolgt] das Ziel, die gegenwärtig für medizinische Indikationen geltende Rechtslage unverändert beizubehalten" (siehe Travaux préparatoires MR/24/00, Nr. 139). Und indem die Große Beschwerdekammer in G 1/83 ausdrücklich Ansprüche gewährt habe, die auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung gerichtet seien, habe sie in dieser Entscheidung die zweite und jede weitere therapeutische Verwendung eines bekannten Arzneimittels im weitesten Sinne für patentierbar erklärt.
II.5 Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern sei diesem Grundsatz gefolgt, indem sie nicht nur Ansprüche gewährt habe, die auf die Behandlung einer anderen Krankheit gerichtet gewesen seien, sondern auch solche, deren Neuheit auf einem Verabreichungsverfahren, einer neuen Patientengruppe sowie neuen Dosierungsanleitungen beruhte (u. a. T 51/93, T 19/86, T 143/94, T 1020/03).
Insbesondere die Entscheidung T 1020/03 enthalte eine umfassende und überzeugende Analyse der Entscheidung G 1/83 und komme zu dem Schluss, dass die "bestimmte Verwendung", die die Große Beschwerdekammer für notwendig erachte, damit ein Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung gewährbar ist, "lediglich in Abgrenzung zu der in einem Anspruch für eine erste medizinische Verwendung zulässigen unbestimmten Therapie" zu verstehen sei "und nicht im Sinne der Auferlegung bestimmter Bedingungen, die eine weitere medizinische Verwendung erfüllen müsste".
Diese Argumentation in T 1020/03 entspreche auch den Feststellungen der Großen Beschwerdekammer in G 2/88, insbesondere Nummer 10.3 der Entscheidungsgründe, wonach "bei einem Anspruch auf eine neue Verwendung eines bekannten Stoffes diese neue Verwendung eine neu entdeckte und im Patent beschriebene technische Wirkung wiedergeben" könne, deren "Erzielung [...] als funktionelles technisches Merkmal des Anspruchs zu betrachten" sei.
II.6 Zusammenfassend brachte die Beschwerdeführerin in ihrer Argumentation zu den ersten beiden Fragen Folgendes vor:
- laut der Entscheidung G 1/83 seien bestimmte, neue und erfinderische therapeutische Behandlungen derselben Krankheit nach dem EPÜ 1973 patentierbar, selbst wenn das neue Merkmal in einer neuen Dosierungsanleitung bestehe,
- gemäß dem Wortlaut des EPÜ 2000 seien andere neue und erfinderische therapeutische Behandlungen derselben Krankheit patentierbar, selbst wenn das einzige neue Merkmal der Behandlung eine neue Dosierungsanleitung sei,
- die Absicht der Verfasser des revidierten EPÜ 2000 sei es gewesen, die Entscheidung G 1/83 im EPÜ zu verankern,
- den Travaux préparatoires zum EPÜ 2000 sei nicht zu entnehmen, dass solche Behandlungen ausgeschlossen werden sollten, selbst wenn das einzige neue Merkmal der therapeutischen Behandlung eine neue Dosierungsanleitung sei,
- solche Verwendungen seien sowohl im Hinblick auf das Wiener Übereinkommen als das TRIPS-Übereinkommen als patentierbar zugelassen,
- bestimmte, neue und erfinderische therapeutische Behandlungen derselben Krankheit seien nach Maßgabe der Entscheidung T 1020/03 patentierbar, und das gelte auch für das EPÜ 2000,
- das Gemeinwohl erfordere, dass solche Verwendungen patentierbar seien, und es gebe keine Gründe, die dagegen sprächen.
II.7 In Anbetracht des Vorstehenden kam die Beschwerdeführerin dann zu dem Schluss, dass die ersten beiden Vorlagefragen zu bejahen seien.
II.8 Zu Frage 3 brachte die Beschwerdeführerin vor, dass es - wie in der Entscheidung G 1/83 ausgeführt - "Zweck von Artikel 52 (4) EPÜ (jetzt 53 c) EPÜ 2000) ist, die nicht kommerziellen und nicht industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der Human- und Veterinärmedizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten," und dass sich diese Ausnahmeregel "nicht über ihren Zweck hinaus auswirken" solle.
Obwohl das EPA nicht für die Durchsetzung von Patentrechten zuständig ist, forderte sie die Große Beschwerdekammer auf, zu bedenken, dass es nach Artikel 30 TRIPS-Übereinkommen die Aufgabe der Vertragsstaaten sei, Ausnahmen von den ausschließlichen Rechten aus einem Patent vorzusehen. Die Beschwerdeführerin sah es nicht als notwendig an, die Frage 3 zu beantworten.
II.9 Auf eine Mitteilung der Großen Beschwerdekammer hin reichte die Beschwerdeführerin außerdem mit Schreiben vom 22. Oktober 2009 einen neuen Haupt- und zwei Hilfsanträge ein.
III. Die Präsidentin des EPA brachte in ihrer Stellungnahme im Wesentlichen die folgenden Argumente vor:
III.1 Nach Artikel 53 c) EPÜ 2000 könnten europäische Patente nicht erteilt werden für Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers und für Diagnostizierverfahren, die daran vorgenommen würden. Erteilt werden könnten sie aber für medizinische Erzeugnisse zur Anwendung in solchen Verfahren.
Bereits nach dem EPÜ 1973 sei dieser Patentierungsausschluss insofern gemildert worden, als bekannte Stoffe und Stoffgemische für eine erste neue und erfinderische Verwendung in einem solchen Verfahren dennoch patentiert werden konnten.
Nicht ausdrücklich erlaubt gewesen seien im EPÜ 1973 hingegen zweckgebundene Stoffansprüche für die zweite oder jede weitere medizinische Anwendung von Stoffen oder Stoffgemischen, die als Arzneimittel schon bekannt waren.
III.2 Der neue Artikel 54 (5) EPÜ lasse zweckgebundene Stoffansprüche ausdrücklich zu, sofern die neue und erfinderische Verwendung des bereits als Arzneimittel bekannten Stoffes oder Stoffgemisches eine spezifische Anwendung sei. Allerdings werde im EPÜ die genaue Bedeutung dieses Erfordernisses nicht definiert, das eine neue zu behandelnde Krankheit ebenso umfassen könne wie eine Krankheit, die bereits Gegenstand einer früheren Anmeldung war; in letzterem Fall könne die Neuheit der Verwendung auch aus einem anderen Unterscheidungsmerkmal hergeleitet werden (z. B. andere zu heilende Individuen oder andere Verabreichungsarten des Stoffes).
III.3 Gemäß den Travaux préparatoires zum revidierten Übereinkommen, die man laut dem Wiener Übereinkommen über das Recht der Verträge hinzuziehen dürfe, sei es die klare Absicht des Gesetzgebers gewesen, jegliche Rechtsunsicherheit in Bezug auf die Patentierbarkeit weiterer medizinischer Indikationen eines bekannten Arzneimittels auszuräumen und deshalb deren Schutz in Form von zweckgebundenen Stoffansprüchen eindeutig zu erlauben.
Dazu sollte die von der Großen Beschwerdekammer des EPA entwickelte Rechtsprechung im Übereinkommen verankert werden mit dem Ziel, die für medizinische Indikationen geltende Rechtslage unverändert beizubehalten. Es gebe somit keinen Anhaltspunkt dafür, dass der Gesetzgeber beabsichtigt habe, die bislang in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern entwickelte Praxis des EPA im Hinblick auf patentierbare zweite medizinische Indikationen zu ändern.
III.4 In der Entscheidung G 1/83, in der es sowohl um diese Frage als auch um die geeignete Anspruchsform ging, habe die Große Beschwerdekammer die Patentierbarkeit weiterer spezifischer medizinischer Indikationen von bekannten Stoffen oder Stoffgemischen ausdrücklich anerkannt, sofern die Formulierung des Anspruchs - im Gegensatz zum zweckgebundenen Stoffanspruch, der laut Artikel 54 (5) EPÜ 1973 für die erste medizinische Indikation desselben Stoffes zugelassen war - auf die Verwendung zur Herstellung eines Arzneimittels zur Behandlung der neuen Indikation gerichtet sei. Während die Neuheit der ersten medizinischen Indikation eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches aus ebendieser ersten medizinischen Verwendung herzuleiten sei, müsse sich die Neuheit eines Anspruchs, der auf das Verfahren gerichtet sei, das den Gegenstand eines sogenannten schweizerischen Anspruchs bilde, analog dazu aus der neuen therapeutischen Anwendung ergeben und nicht aus dem Verfahren zur Herstellung des Arzneimittels für die neue therapeutische Behandlung.
Dieses Konzept der fiktiven Neuheit sei nicht übertragbar und könne nur auf Ansprüche angewandt werden, die auf die Verwendung von Stoffen oder Stoffgemischen für die Anwendung in einem Verfahren nach Artikel 52 (4) EPÜ 1973 gerichtet seien.
III.5 Die Große Beschwerdekammer habe damals nicht genau definiert, was unter die Formulierung "bestimmte neue, erfinderische therapeutische Anwendung" falle. De facto sei es in allen Fällen, die seinerzeit zu den Vorlagen geführt hätten, um die Behandlung unterschiedlicher Krankheiten mit Stoffen oder Stoffgemischen gegangen, die bereits für eine erste medizinische Indikation bekannt gewesen seien.
III.6 Bei der Umsetzung dieser Prinzipien hätten die Beschwerdekammern den Standpunkt eingenommen, dass die Entscheidung G 1/83 nicht ausschließe, dass eine zweite medizinische Verwendung auch von einem anderen Unterscheidungsmerkmal hergeleitet werden könne als von der Behandlung einer anderen Krankheit. Dadurch hätten sie das von der Großen Beschwerdekammer entwickelte Konzept auf Fälle ausgedehnt, in denen ein bekanntes Arzneimittel zur Behandlung derselben Krankheit verwendet wird.
Hierzu wurden etliche Entscheidungen zitiert, die hauptsächlich neue Gruppen von behandelten Individuen, neue Arten oder Wege der Verabreichung eines bekannten Stoffes oder neue technische Wirkungen im Körper des Patienten betrafen.
III.7 Zusammenfassend sei festzustellen, dass die Kammern nach dem alten Recht nicht angezweifelt hätten, dass das fiktive Neuheitskonzept der Entscheidung G 1/83 auch auf Fälle Anwendung finden könne, bei denen die neue und erfinderische Verwendung eines bekannten Stoffes auf die Heilung derselben Krankheit abziele; dieser Ansatz werde bislang von den anderen Instanzen des EPA verfolgt.
III.8 Nach dem Wortlaut von Artikel 54 (5) EPÜ 2000 könne an dieser gängigen Praxis festgehalten werden.
Lege man den Willen des Gesetzgebers, die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer im EPÜ zu verankern, eng aus, so ließe sich die erste Frage durchaus verneinen, wenn man bedenke, dass es bei all den Vorlagen um Ansprüche gegangen sei, die sich auf eine andere Krankheit bezogen hätten. Tatsache sei aber auch, dass die Verfasser des revidierten Übereinkommens erklärt hätten, den Status quo für medizinische Verwendungen beibehalten zu wollen, wobei ihnen bei der Abfassung des neuen Wortlauts die Rechtsprechung der Beschwerdekammern bekannt gewesen sein dürfte.
Was die Kammern nach dem EPÜ 1973 unter der erforderlichen "bestimmten, neuen und erfinderischen therapeutischen Anwendung" verstanden hätten, lasse sich auf die nunmehr in Artikel 54 (5) EPÜ 2000 geforderte "spezifische Anwendung" übertragen. Mithin könne geltend gemacht werden, dass beide Formulierungen den Gegensatz zur unspezifischen Anwendung hervorhöben, die in einem auf eine erste medizinische Verwendung gerichteten Anspruch zulässig sei.
In Anbetracht dieser Erwägungen vertrat die Präsidentin die Auffassung, dass die erste Frage bejaht werden könne. Des Weiteren äußerte sie den Wunsch, dass die Große Beschwerdekammer die aktuelle Vorlage zum Anlass nehmen solle, um die in Artikel 53 c) EPÜ 2000 dargelegte Ausnahme gegenüber der Patentierbarkeit auf diesem Gebiet der Technik abzugrenzen.
III.9 In Bezug auf die zweite Frage argumentierte die Präsidentin, dass unabhängig davon, wie der Begriff "Dosierungsanleitung" im Einzelfall ausgelegt werde, seine Ausklammerung aus der Definition der "spezifischen Anwendung" darauf hinauslaufe, dass Letztere eine restriktive Bedeutung erhalte.
Offenbar gebe es nach dem EPÜ 1973 jedoch keine ständige Rechtsprechung zur Patentierbarkeit von Ansprüchen in der schweizerischen Anspruchsform, die auf eine zweite medizinische Indikation gerichtet seien und deren einziges Unterscheidungsmerkmal eine andere Dosierungsanleitung sei.
III.9.1 Einige Kammern seien der Auffassung, dass solch ein Merkmal ausschließlich vom Können des Arztes abhänge, dessen Tätigkeit frei von Beschränkungen bleiben müsse. In anderen Entscheidungen heiße es, dass eine bloße Dosierungsanleitung kein Unterscheidungsmerkmal darstellen könne, das einem Anspruch Neuheit verleihe, bei dem sowohl das anzuwendende Arzneimittel als auch die Art der Anwendung und die dieser Anwendung unterzogene Patientengruppe im Stand der Technik offenbart seien.
III.9.2 Verwiesen wurde auch auf die positive Ansicht in T 1020/03 und auf die Begründung für die Feststellung, dass ein in der schweizerischen Anspruchsform abgefasster Anspruch "unabhängig davon [gewährbar sein könne], wie ausführlich diese therapeutische Verwendung beschrieben wird".
Des Weiteren merkte die Präsidentin an, dass die Kammer in der Entscheidung T 1020/03 auch folgende Auffassung geäußert habe: "Damit eine Verwendung als neu gilt, muss sie auf das beschränkt sein, was neu ist, und darf nicht lediglich auf die Nutzung einer physiologischen/pharmakologischen Wirkung oder Wirkungsweise gerichtet sein, die einer früheren therapeutischen Verwendung zugrunde lag, dort aber nicht als solche benannt war."
III.9.3 Anschließend verwies die Präsidentin auch auf die Rechtsprechung nationaler Gerichte an, insbesondere:
1. das Urteil des England and Wales Court of Appeal vom 21. Mai 2008 in der Sache Actavis UK Limited gegen Merck & Co. Inc. [EWCA Civ 444, Entscheidungsgründe 28 ff.],
2. das Urteil des Bundesgerichtshofs vom 19. Dezember 2006, X ZR 236/01 "Carvedilol II".
III.9.4 Nach dem EPÜ 2000 könne man den Entscheidungsgründen in T 1020/03 folgen; ein als zweckgebundener Stoffanspruch abgefasster Anspruch sei mit der schweizerischen Anspruchsform vergleichbar und könne daher einen Verstoß gegen das Patentierungsverbot in Artikel 53 c) EPÜ 2000 vermeiden.
Was das Erfordernis der "spezifischen Anwendung" angehe, könne dieser Wortlaut (genau wie die in G 1/83 verwendete Formulierung "bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung") auch medizinische Indikationen einschließen, die sich nur durch die Dosierungsanleitung vom Stand der Technik unterschieden, wie der Argumentation in T 1020/03 zu entnehmen sei.
III.10 Mit Bezug auf die dritte Frage gibt die Präsidentin unter anderem zu bedenken, dass jegliche Auslegung des EPÜ, die Artikel 53 c) EPÜ ganz oder auch nur teilweise überflüssig machen würde, nicht nur der Absicht des Gesetzgebers zuwiderlaufen würde, sondern auch den politischen Erwägungen, die zu der Entscheidung geführt hätten, diese Vorschrift inhaltlich beizubehalten.
IV. Auf die Aufforderung der Großen Beschwerdekammer hin wurden von Dritten zahlreiche Vorbringen in Form von Amicus-curiae-Schriftsätzen eingereicht. Darin wurde im Wesentlichen Folgendes geltend gemacht:
IV.1 Zu Frage 1:
- Eine Mehrheit meinte, diese Frage sollte bejaht werden, weil der Wortlaut des Artikels 54 (5) EPÜ klar sei und nicht darauf schließen lasse, dass bestimmte spezifische Anwendungen anders behandelt werden sollten als andere, zumal erstens Artikel 53 c) EPÜ eine Ausnahme von der Patentierbarkeit sei, die es eng auszulegen gelte, und zweitens der Gesetzgeber offenkundig die von der Großen Beschwerdekammer in G 1/83 entwickelte Rechtsprechung bestätigen wollte, der zufolge eine zweite Indikation eines bekannten Arzneimittels eindeutig nicht auf die Behandlung einer anderen Krankheit beschränkt sein sollte.
- Einige andere waren der Auffassung, dass die Entscheidung G 1/83 eng ausgelegt werden sollte und eine neue Indikation eines bekannten Arzneimittels deshalb zwingend in der Behandlung einer anderen als derjenigen Krankheit bestehen müsste, die zuvor mit dem bekannten Erzeugnis behandelt wurde, sodass Frage 1 zu verneinen sei.
IV.2 Zu Frage 2:
- Eine Mehrheit war der Ansicht, dass eine neue Dosierungsanleitung eines bekannten Arzneimittels als "spezifische Anwendung" angesehen werden könne, und berief sich dabei insbesondere auf die Rechtsprechung in Anlehnung an G 1/83 (z. B. Entscheidung T 1020/03).
- Einige andere fanden, dass die Festlegung der richtigen Dosierung eines Arzneimittels ausschließlich Aufgabe des Arztes sei, dessen Freiheit Vorrang vor jedem anderen Eigentumsrecht haben müsse, und dies gelte umso mehr, wenn man davon ausgehe, dass Artikel 53 c) EPÜ genau diese Freiheit gewährleisten solle.
- Ein Dritter wies die Große Beschwerdekammer auch darauf hin, dass der Schutzumfang, den ein - nach dem EPÜ 2000 nun ausdrücklich zulässiger - zweckgebundener Stoffanspruch verleihe, wahrscheinlich breiter sei als der eines sogenannten schweizerischen Anspruchs und dass dies die ärztliche Freiheit durchaus beeinträchtigen könnte, wenn neue Dosierungsanleitungen nicht auch weiterhin in der schweizerischen Anspruchsform beansprucht werden müssten, weswegen diese Anspruchskategorie erhalten bleiben müsse.
V. In einer Mitteilung informierte die Große Beschwerdekammer die Beschwerdeführerin - die einzige Verfahrensbeteiligte - darüber, welche Punkte sie in der mündlichen Verhandlung zu erörtern gedenke.
Die mündliche Verhandlung fand am 5. November 2009 statt. Zum Abschluss und vor Beendigung der sachlichen Debatte beantragte die Beschwerdeführerin, dass die Große Beschwerdekammer die ersten beiden ihr vorgelegten Fragen bejahen und die dritte Frage verneinen solle. Ferner beantragte sie, dass ihre am 22. Oktober 2009 eingereichten Haupt- und Hilfsanträge zum Verfahren zugelassen werden.
Der Vorsitzende beendete daraufhin die sachliche Debatte und kündigte an, dass die Entscheidung schriftlich ergehen werde.
Entscheidungsgründe
1. Zulässigkeit der Vorlage
Die Große Beschwerdekammer ist der Auffassung, dass die Fragen Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung aufwerfen.
1.1 Auch wenn die vorlegende Beschwerdekammer bereits entschieden hat, dass der strittige Anspruch 1 erfinderisch ist, was normalerweise impliziert, dass sein Gegenstand auch neu ist, ist die Vorlage dennoch zulässig. Da die Zuerkennung der Neuheit letztlich davon abhängen kann, wie die Vorlagefragen beantwortet werden, versteht die Große Beschwerdekammer diese Feststellung lediglich dahin gehend, dass die in dem Anspruch enthaltene Dosierungsanleitung faktisch nicht vorweggenommen wurde.
Die Beantwortung der Vorlagefragen wird somit als entscheidend für den Ausgang der Beschwerdesache betrachtet, sodass die Vorlage die Erfordernisse des Artikels 112 (1) a) EPÜ erfüllt.
1.2 Die Vorlage ist zulässig.
2. Anzuwendendes Recht
Die strittige Anmeldung wurde am 19. September 1994 eingereicht und ist immer noch anhängig. Gemäß Artikel 1 Nummern 1 und 3 des Beschlusses des Verwaltungsrats vom 28. Juni 2001 über die Übergangsbestimmungen nach Artikel 7 der Akte zur Revision des Europäischen Patentübereinkommens vom 29. November 2000 (Sonderausgabe 1 zum ABl. EPA 2007, 197) sind auf diese Anmeldung, weil sie bei Inkrafttreten des EPÜ 2000 am 13. Dezember 2007 anhängig war, die revidierten Artikel 53 c), 54 (4) und 54 (5) EPÜ anzuwenden.
3. Auslegung der ersten Vorlagefrage
3.1 Die Frage lautet: "Wenn die Verwendung eines bestimmten Arzneimittels bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit bereits bekannt ist, kann dieses bekannte Arzneimittel dann gemäß den Bestimmungen der Artikel 53 c) und 54 (5) EPÜ 2000 zur Verwendung bei einer anderen, neuen und erfinderischen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert werden?" (Hervorhebung durch die Kammer).
Artikel 53 c) EPÜ besagt aber unter der Überschrift "Ausnahmen von der Patentierbarkeit" unter anderem, dass europäische Patente nicht erteilt werden für "Verfahren zur ... therapeutischen Behandlung des menschlichen ... Körpers" (Hervorhebung durch die Kammer), was jedoch nicht gilt "für Erzeugnisse, insbesondere Stoffe oder Stoffgemische, zur Anwendung in einem dieser Verfahren" (also für Erzeugnisse, die an sich neu sind).
Folgerichtig wird in Artikel 54 (4) und (5) EPÜ unter der Überschrift "Neuheit" genau dieselbe explizite Ausnahme gemacht, und zwar zugunsten von Stoffen oder Stoffgemischen, die an sich bereits bekannt sind (d. h. zum Stand der Technik gehören), allerdings mit der Einschränkung, dass die zweite oder jede weitere Anwendung in einem solchen Verfahren spezifisch sein muss.
3.2 Wie vorstehend in Nummer 1.1 erwähnt, geht es also um die Auslegung der Bestimmungen des Artikels 53 c) EPÜ in Verbindung mit denjenigen des Artikels 54 (4) und (5) EPÜ sowie um die Frage, ob die Notwendigkeit besteht, sie miteinander in Einklang zu bringen.
4. Auslegungsregeln für internationales Recht
4.1 Was diese Notwendigkeit betrifft, so muss das EPÜ, obwohl die Europäische Patentorganisation nicht Vertragspartei des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge vom 23. Mai 1969 (nachstehend Wiener Übereinkommen) ist, gemäß den darin aufgestellten Grundsätzen ausgelegt werden. Tatsächlich hat die Große Beschwerdekammer deren Anwendbarkeit in der Entscheidung G 1/83 (Nrn. 1 - 6 der Entscheidungsgründe) bereits bestätigt.
Die einschlägigen Artikel 31 und 32 des Wiener Übereinkommens lauten wie folgt:
Artikel 31 - Allgemeine Auslegungsregel
1. Ein Vertrag ist nach Treu und Glauben in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen.
2. Für die Auslegung eines Vertrags bedeutet der Zusammenhang außer dem Vertragswortlaut samt Präambel und Anlagen
a) jede sich auf den Vertrag beziehende Übereinkunft, die zwischen allen Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses getroffen wurde;
b) jede Urkunde, die von einer oder mehreren Vertragsparteien anlässlich des Vertragsabschlusses abgefasst und von den anderen Vertragsparteien als eine sich auf den Vertrag beziehende Urkunde angenommen wurde.
3. Außer dem Zusammenhang sind in gleicher Weise zu berücksichtigen
a) jede spätere Übereinkunft zwischen den Vertragsparteien über die Auslegung des Vertrags oder die Anwendung seiner Bestimmungen;
b) jede spätere Übung bei der Anwendung des Vertrags, aus der die Übereinstimmung der Vertragsparteien über seine Auslegung hervorgeht;
c) jeder in den Beziehungen zwischen den Vertragsparteien anwendbare einschlägige Völkerrechtssatz.
4. Eine besondere Bedeutung ist einem Ausdruck beizulegen, wenn feststeht, dass die Vertragsparteien dies beabsichtigt haben.
Artikel 32 - Ergänzende Auslegungsmittel
Ergänzende Auslegungsmittel, insbesondere die vorbereitenden Arbeiten und die Umstände des Vertragsabschlusses, können herangezogen werden, um die sich unter Anwendung des Artikels 31 ergebende Bedeutung zu bestätigen oder die Bedeutung zu bestimmen, wenn die Auslegung nach Artikel 31
a) die Bedeutung mehrdeutig oder dunkel lässt oder
b) zu einem offensichtlich sinnwidrigen oder unvernünftigen Ergebnis führt.
4.2 Aus beiden Artikeln zusammen ergibt sich, dass ein Vertrag (hier das EPÜ) zuerst in Übereinstimmung mit der gewöhnlichen, seinen Bestimmungen in ihrem Zusammenhang zukommenden Bedeutung und im Lichte seines Zieles und Zweckes auszulegen ist, was bedeutet, dass der Richter von klaren Rechtsbestimmungen nicht abweichen darf; dieser Grundsatz betrifft das Erfordernis des guten Glaubens.
Aus Artikel 32 des Wiener Übereinkommens geht ferner hervor, dass vorbereitende Dokumente primär heranzuziehen sind, um eine Bedeutung zu bestätigen oder eine Bedeutung zu bestimmen, wenn die ersten, gewöhnlichen Auslegungsmittel zu einem mehrdeutigen oder sinnwidrigen Ergebnis führen würden.
4.3 In diesem Zusammenhang sei hier auf die Entscheidung G 1/07 vom 15. Februar 2010, Nummer 3.1 der Entscheidungsgründe verwiesen, in der die Große Beschwerdekammer ausführlich auf diese Punkte eingegangen ist.
5. Feststellung der Änderungen in den Bestimmungen des EPÜ
5.1 Artikel 52 (4) EPÜ 1973 sah unter der Überschrift "Patentfähige Erfindungen" unter anderem Folgendes vor:
"Verfahren zur ... therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers ... gelten nicht als gewerblich anwendbare Erfindungen ...".
5.2 In einer Stellungnahme vom 16. Dezember 2005 in der Sache G 1/04 (ABl. EPA 2006, 334) betreffend eine vom Präsidenten des EPA vorgelegte Rechtsfrage befasste sich die Große Beschwerdekammer unter den Nummern 3 und 4 der Entscheidungsgründe mit der ratio legis dieses Artikels.
Die Große Beschwerdekammer kam zu dem Schluss, dass nach Artikel 52 EPÜ 1973 - im Kontext betrachtet - die in Artikel 52 (4) EPÜ 1973 genannten, am menschlichen oder tierischen Körper vorgenommenen Diagnostizierverfahren (und analog dazu auch die therapeutischen Verfahren) Erfindungen im Sinne von Artikel 52 (1) EPÜ 1973 und somit auch von Artikel 57 EPÜ 1973 sind, jedoch aufgrund einer gesetzlichen Fiktion nicht als gewerblich anwendbar gelten. Wie die Große Beschwerdekammer weiter ausführte, wird dies durch die Materialien zum EPÜ 1973 gestützt (Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz, Sitzungsbericht des Hauptausschusses I, Dok. M/PR/I, Rdn. 24).
Der Zweck des Artikels 52 (4) EPÜ 1973 bestehe darin, den Begriff der gewerblichen Anwendbarkeit im Bereich der human- und veterinärmedizinischen Behandlungen zu beschränken, deshalb sei der Artikel als lex specialis zu betrachten und habe Vorrang vor Artikel 57 EPÜ 1973; dabei verwies die Große Beschwerdekammer auf T 116/85, ABl. EPA 1989, 13, Nummer 3.5 der Entscheidungsgründe.
5.3 Gleichwohl war der Großen Beschwerdekammer damals bewusst, dass in Kürze das revidierte EPÜ in Kraft treten würde, und so stellte sie weiter fest, dass der Gesetzgeber zwar die Rechtsfiktion der mangelnden gewerblichen Anwendbarkeit gewählt habe, der Patentierungsausschluss der oben genannten Verfahren gemäß Artikel 52 (4) EPÜ 1973 aber eher auf sozialethischen Überlegungen und auf Erwägungen im Zusammenhang mit der öffentlichen Gesundheit zu beruhen scheine.
Ärzten sollte es nämlich freistehen, alle ihnen geeignet erscheinenden Maßnahmen anzuwenden, um eine Krankheit zu verhindern oder zu heilen, und darin sollten sie nicht durch Patente behindert werden.
Die Große Beschwerdekammer hat diesbezüglich in der Stellungnahme G 1/04 nicht ausdrücklich auf die Entscheidung G 1/83 verwiesen, obwohl dort unter Nummer 22 der Entscheidungsgründe die ratio decidendi dieser Vorschrift bereits behandelt worden war: "Zweck von Artikel 52 (4) EPÜ [1973] ist es, wie auch der [deutsche] Bundesgerichtshof festgestellt hat, die nicht kommerziellen und nicht industriellen Tätigkeiten auf dem Gebiet der ... Medizin von patentrechtlichen Beschränkungen freizuhalten."
5.4 Aus Artikel 1, Nummern 17 und 18 der Akte zur Revision des EPÜ (Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2001, 3) ist ersichtlich, dass der neue Artikel 53 c) EPÜ unter der Überschrift "Ausnahmen von der Patentierbarkeit" unter anderem vorsieht, dass für Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers keine europäischen Patente erteilt werden, während der frühere Artikel 52 (4) EPÜ 1973 ersatzlos gestrichen wurde.
Laut Nummer 6 der Erläuterungen zu den "Übergangsbestimmungen" (ebenfalls Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2001, 134) ist die Überführung des früheren Artikels 52 (4) EPÜ 1973 in den neuen Artikel 53 c) EPÜ 2000 "rein redaktioneller Natur" und bewirkt keine "sachliche Änderung der bestehenden Rechtslage".
5.5 In der Stellungnahme G 1/04 hielt die Große Beschwerdekammer am Ende von Nummer 10 fest, dass der Grund für diese Änderung die Erkenntnis gewesen sei, dass der Ausschluss dieser Verfahren von der Patentierbarkeit auf Erwägungen im Zusammenhang mit der öffentlichen Gesundheit beruhte und es nicht mehr gerechtfertigt war, ihn mit mangelnder gewerblicher Anwendbarkeit zu begründen.
Die vorbereitenden Dokumente CA/PL 8/99, CA/PL PV 9, Nummern 32 - 34, CA/PL PV 14, Nummern 152 und 157 - 158, CA/100/00, Seiten 41 - 42, MR/2/00, Seiten 45 - 46 und MR/24/00, Seite 71 legen Zeugnis dafür ab, aus welchen Beweggründen heraus der Gesetzgeber die Änderungen vorgenommen hat. Zusammenfassend heißt es in der Sonderausgabe Nr. 4 zum ABl. EPA 2007, 58:
"2. Zusätzlich zu den beiden in Artikel 53 a) und b) EPÜ genannten Ausnahmen von der Patentierbarkeit wurde auch der in Artikel 52 (4) EPÜ 1973 verankerte Ausschluss von Behandlungs- und Diagnostizierverfahren aufgenommen. Verfahren zur chirurgischen oder therapeutischen Behandlung waren - obgleich es sich um Erfindungen handelt - vom Patentschutz ausgeschlossen, weil ihnen die gewerbliche Anwendbarkeit abgesprochen wurde. Da Behandlungs- und Diagnostizierverfahren jedoch in erster Linie aus Gründen des öffentlichen Gesundheitswesens von der Patentierbarkeit ausgenommen sind, sollte nicht mehr mit der fehlenden gewerblichen Anwendbarkeit argumentiert werden. Es erschien daher angebracht, auch diese Erfindungen unter den Ausnahmen von der Patentierbarkeit aufzuführen und damit die drei vom Patentschutz ausgeschlossenen Kategorien in Artikel 53 a), b) und c) EPÜ zusammenzuführen.
Im Übrigen sieht Artikel 27 (3) a) des TRIPS-Übereinkommens vor, dass "diagnostische, therapeutische und chirurgische Verfahren für die Behandlung von Menschen oder Tieren" von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden können. Deshalb war es im Interesse einer Angleichung an das TRIPS-Übereinkommen sinnvoll, den Artikel 52 (4) EPÜ 1973 in einen neuen Artikel 53 c) EPÜ zu überführen."
5.6 Auch wenn der allgemeine Grundsatz gilt, dass der menschliche Körper nicht dem kommerziellen Bereich zuzurechnen ist, folgt daraus nicht zwingend, dass Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers als solche nicht gewerblich anwendbar sind.
Dennoch bleiben diese Verfahren vom Patentschutz ausgeschlossen, was zur Folge hat, dass ein Verfahrensanspruch nicht gewährbar ist, wenn er auch nur einen einzigen Verfahrensschritt enthält, der seiner Natur nach zu einer therapeutischen Behandlung gehört. Dies entspricht der ständigen Rechtsprechung, siehe z. B. die Entscheidungen T 82/93, ABl. EPA 1996, 274; T 820/92, ABl. EPA 1995, 113; T 182/90, ABl. EPA 1994, 641.
Diesbezüglich wird erneut auf die Entscheidung G 1/07 der Großen Beschwerdekammer verwiesen (a. a. O., Nrn. 3.2 ff. der Entscheidungsgründe), die sich auch mit diesem Thema ausführlich befasst.
5.7 Die Bestimmungen des Artikels 53 c) EPÜ sind klar und eindeutig und unterscheiden zwischen nicht gewährbaren Verfahrensansprüchen, die auf eine therapeutische Behandlung gerichtet sind, und gewährbaren Ansprüchen, die auf Erzeugnisse zur Anwendung in solchen Verfahren gerichtet sind.
Den Bereich des Verbotenen bzw. des ausdrücklich Erlaubten zu erweitern, scheint über das hinauszugehen, was der Großen Beschwerdekammer im Wege der Auslegung gestattet ist. Konzeptuell liegen ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung und ein Erzeugnis zur Anwendung in einem solchen Verfahren nämlich so nahe beieinander, dass man große Gefahr läuft, sie zu vermengen, wenn nicht jedes Konzept auf den ihm rechtlich zugewiesenen Bereich begrenzt wird. So gesehen wäre es unangebracht, Artikel 53 c) Satz 2 EPÜ als eng auszulegende lex specialis aufzufassen, vielmehr empfiehlt es sich, beiden Bestimmungen dasselbe Gewicht zu verleihen und den allgemeinen Schluss zu ziehen, dass im Falle von Ansprüchen auf eine therapeutische Behandlung Verfahrensansprüche absolut verboten sind, damit der Arzt uneingeschränkt seiner Tätigkeit nachgehen kann, während Erzeugnisansprüche gewährbar sind, sofern ihr Gegenstand neu und erfinderisch ist.
5.8 Mit dem neuen Artikel 54 (4) EPÜ, der dem früheren Artikel 54 (5) EPÜ 1973 entspricht, war keine grundlegende Änderung beabsichtigt. Beide Bestimmungen beziehen sich auf die sogenannte erste medizinische Indikation eines an sich bereits bekannten Stoffes oder Stoffgemisches.
In anderen Worten: ein Erzeugnis zur Anwendung in einem Verfahren nach Artikel 53 c) EPÜ ist entweder an sich neu und kann nach Artikel 53 c) Satz 2 EPÜ Gegenstand eines Erzeugnisanspruchs sein, oder ein Erzeugnis (Stoff oder Stoffgemisch) ist an sich bereits bekannt, kann aber dennoch nach Artikel 54 (4) EPÜ patentiert werden, sofern es noch nicht in einem Verfahren nach Artikel 53 c) Satz 1 EPÜ angewendet wurde.
Diese erste medizinische Indikation eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches ist in der Regel Gegenstand breiter allgemeiner Ansprüche in Form von zweckgebundenen Stoffansprüchen (use-related product claims, revendications de produit pour application ou mise en œuvre).
Diese Grundsätze haben unverändert Bestand, weshalb der Anwendungsbereich des früheren Artikels 54 (5) EPÜ 1973 oder des geltenden Artikels 54 (4) EPÜ, die (abgesehen von redaktionellen Änderungen) im Wortlaut identisch sind, völlig unstrittig ist.
5.9 Anders als das EPÜ 1973, das keine diesbezügliche Vorschrift enthielt, erlaubt Artikel 54 (5) EPÜ nun ausdrücklich weiteren Patentschutz für Stoffe oder Stoffgemische, die bereits als Arzneimittel bekannt sind, wenn ihre Anwendung in einem Verfahren nach Artikel 53 c) EPÜ spezifisch ist und nicht zum Stand der Technik gehört.
Die frühere Gesetzeslücke, die von der Großen Beschwerdekammer mit G 1/83 und der darauf gestützten Rechtsprechung im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung gefüllt wurde, existiert somit nicht mehr.
5.9.1 Darüber, wie die weitere therapeutische Anwendung eines bereits als Arzneimittel bekannten Stoffes oder Stoffgemisches beschaffen sein muss, um nach Artikel 54 (5) EPÜ schutzwürdig zu sein, sagt der Artikel allerdings nicht mehr, als dass sie spezifisch sein muss. Insbesondere definiert er keinen Grad der Unterscheidbarkeit, die die neue Anwendung haben muss, um als spezifische Anwendung im Sinne dieses Artikels zu gelten. Sein Wortlaut besagt im Gegenteil, dass Stoffe oder Stoffgemische zur spezifischen Anwendung (englische Fassung: "any specific use") patentierbar sind, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört.
Dies kann auf zweierlei Art ausgelegt werden:
- entweder nur im Kontrast zum allgemeinen breiten Schutz, den Artikel 54 (4) EPÜ für die erste therapeutische Anwendung eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches gewährt, der dann grundsätzlich nicht auf eine bestimmte Indikation beschränkt ist; in diesem Fall müsste die zweite und jede weitere beanspruchte Verwendung nicht unbedingt in der Behandlung einer anderen Krankheit bestehen,
- oder indem man Artikel 53 c) EPÜ als generelles Verbot betrachtet und den Bestimmungen des Artikels 54 (5) EPÜ nur den Status einer lex specialis zuerkennt, die dahin gehend eng auszulegen ist, dass nur eine noch nicht mit dem bekannten Stoff oder Stoffgemisch behandelte Krankheit eine spezifische Anwendung im Sinne des Artikels darstellen kann.
5.9.1.1 Gegen eine enge Auslegung dieser einschlägigen Vorschriften spricht als Erstes, dass diese Kammer - wie jedes Gerichtsorgan - nicht befugt ist, unter dem Vorwand der Rechtsauslegung von sich aus eine Unterscheidung vorzunehmen, wo der Wortlaut des Gesetzes, ordnungsgemäß in seinem Kontext gelesen, dies nicht tut (ubi lex non distinguit, nec nos distinguere debemus). Unter diesem Gesichtspunkt würde man - wenn man die Formulierung "zur spezifischen Anwendung" so versteht, dass damit zwingend die Behandlung einer anderen Krankheit gemeint ist - willkürlich eine Unterscheidung einführen, die das Gesetz in Artikel 54 (5) EPÜ gar nicht vornimmt, denn dort heißt es lediglich "zur spezifischen Anwendung" (englische Fassung: "any specific use", Hervorhebung durch die Kammer) in einem therapeutischen Verfahren.
Es würde dem in Artikel 31 (1) des Wiener Übereinkommens verankerten Grundsatz von Treu und Glauben zuwiderlaufen, wenn man der Formulierung "zur spezifischen Anwendung" entgegen ihrer gewöhnlichen Bedeutung eine einschränkende Bedeutung verleihen würde.
5.9.1.2 Ein zweiter Grund, der gegen eine sogenannte enge Auslegung des Artikels 54 (5) EPÜ spricht, ist der, dass das Wiener Übereinkommen nirgendwo den Rückgriff auf ein solches Prinzip vorschreibt.
Im Übrigen ergäbe es überhaupt keinen Sinn, in dieser Vorlagesache darauf zurückzugreifen, denn die betreffenden Bestimmungen am Ende von Artikel 53 c) sowie in Artikel 54 (4) und (5) EPÜ sind keine Ausnahmen vom absoluten Patentierungsverbot für therapeutische Verfahren, sondern vielmehr gleichrangige Gesetzesvorschriften, die darauf abzielen, Patentschutz für Erzeugnisse, Stoffe und Stoffgemische zur Anwendung in therapeutischen Verfahren grundsätzlich zuzulassen. Im Hinblick auf Artikel 54 (5) EPÜ nun etwas Gegenteiliges zu beschließen, würde den Anwendungsbereich des neuen Artikels 54 (5) EPÜ über Gebühr einschränken und würde insofern die Absicht des Gesetzgebers nicht wirklich wiedergeben und im Widerspruch zum bisherigen Verständnis der Artikel 52 (4) Satz 2 und 54 (5) EPÜ 1973 stehen.
5.9.2 In einem frühen Stadium der vorbereitenden Arbeiten zur Revision des EPÜ (siehe insbesondere CA/PL 7/99, Nrn. 19 und 24 - 26) wurde sogar erwogen, die Artikel 52 (4) und 54 (5) EPÜ 1973, die jetzigen Artikel 53 c) bzw. 54 (4) EPÜ, zu streichen. Das beabsichtigte Ergebnis wäre Patentschutz für die in Artikel 52 (4) EPÜ 1973 genannten medizinischen Verfahren gewesen, sofern die Erfindung eine technische Aufgabe gelöst hätte. Andererseits hätten, wenn Artikel 54 (5) EPÜ 1973 gestrichen worden wäre, Stoffe und Stoffgemische als solche auch bei einer ersten medizinischen Indikation die üblichen Neuheitserfordernisse der Absätze 1 bis 3 dieser Vorschrift erfüllen müssen, wobei die erste und jede weitere medizinische Verwendung desselben Stoffes oder Stoffgemisches in Form von Verwendungsansprüchen patentierbar gewesen wäre.
Dieser Vorschlag wurde jedoch alsbald abgelehnt (siehe CA/110/99, Seite 1, Rdn. 1, Nr. 5). Stattdessen wurde ein verbesserter Schutz für die in Artikel 53 c) Satz 1 EPÜ definierte erste und zweite medizinische Indikation bekannter Stoffe oder Stoffgemische in Betracht gezogen (siehe ebenfalls CA/110/99, Seite 2, Rdn. 2, Nr. 19).
5.9.2.1 Dieser Teil der Entstehungsgeschichte macht die Absicht des Gesetzgebers deutlich, der eindeutig davon ausging, dass der Ausschluss therapeutischer Verfahren auf der einen und der Schutz von Erzeugnissen zur Verwendung in solchen Verfahren auf der anderen Seite Konzepte darstellen, die miteinander verbunden und gleichwertig sind und sich deshalb weder trennen noch mischen lassen.
Gerade weil diese Bestimmungen komplementär sind, folgt daraus, dass keine davon als Ausnahme behandelt werden muss.
5.9.2.2 Letztendlich wurde bei der Revision des EPÜ an der Unterscheidung zwischen einer ersten medizinischen Indikation und weiteren medizinischen Indikationen eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches festgehalten, die im unterschiedlichen Wortlaut der Artikel 54 (4) und 54 (5) EPÜ zum Ausdruck kommt.
Dies zeigt zweifelsfrei, dass die Verfasser der Revision nicht vorhatten, sowohl für die erste als auch für jede weitere therapeutische Verwendung eines bekannten Stoffes oder Stoffgemisches nur einen gleichwertigen anwendungsbeschränkten Schutzbereich vorzusehen.
5.10 Die erste Vorlagefrage lässt sich de facto auch wie folgt formulieren:
Ist eine neue, patentwürdige Verwendung eines an sich bekannten Arzneimittels zwingend auf eine noch nicht mit diesem Stoffgemisch behandelte Krankheit beschränkt?
5.10.1 Diese Frage wurde von den Beschwerdekammern nach altem Recht (EPÜ 1973) überwiegend, aber nicht einhellig verneint, wenn die Erfindung in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform beansprucht wurde, die die Große Beschwerdekammer in G 1/83 erlaubt hatte. Mit dieser Entscheidung hatte die Große Beschwerdekammer eine Gesetzeslücke geschlossen und Ansprüche auf eine zweite medizinische Indikation eines bekannten Erzeugnisses zugelassen, allerdings ohne zu präzisieren, ob eine solche zweite Anwendung etwas anderes sein könnte als die Behandlung einer anderen Krankheit.
5.10.2 Im neuen Recht (EPÜ 2000) gibt es die Gesetzeslücke nicht mehr, die im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung mit der Entscheidung G 1/83 und der nachfolgenden Rechtsprechung der Beschwerdekammern geschlossen worden war. Artikel 54 (5) EPÜ sieht nun Patentschutz für bekannte Stoffe oder Stoffgemische "zur spezifischen Anwendung" dieser Erzeugnisse in einem therapeutischen Verfahren vor, wenn die Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört und erfinderisch ist.
5.10.3 Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Schluss, dass es nur einen vernünftigen Weg gibt, das der spezifischen Anwendung zugrunde liegende Erfordernis zu verstehen, nämlich lediglich als Kontrast zum allgemeinen breiten Schutz, den die erste beanspruchte medizinische Anwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches verleiht und der grundsätzlich nicht auf eine bestimmte Indikation beschränkt ist. Mithin muss die neue Anwendung im Sinne des Artikels 54 (5) EPÜ nicht in der Behandlung einer anderen Krankheit bestehen.
5.10.4 Dies wird durch die vorbereitenden Dokumente bestätigt, die üblicherweise den Willen des Gesetzgebers belegen und eine Interpretationshilfe für Rechtsvorschriften darstellen, zumindest im Hinblick auf die ratio legis.
Im Basisvorschlag des revidierten Wortlauts von Artikel 54 EPÜ, genauer gesagt in den Erläuterungen der schweizerischen Delegation (MR/18/00, Nr. 2), heißt es unter Bezugnahme auf die Entscheidung G 1/83 wie folgt: "Die Große Beschwerdekammer wurde angefragt zu entscheiden, ob trotz dem Wortlaut von Artikel 54 (5) EPÜ (1973), der die Patentierung auf die erste medizinische Anwendung zu begrenzen schien, ein Patentschutz für jede weitere medizinische Anwendung erteilt werden könne. Die Große Beschwerdekammer erweiterte den Begriff der Neuheit gemäß Artikel 54 (5) EPÜ [1973] auf jede weitere medizinische Indikation mit der sogenannten "schweizerischen Anspruchsform", das heißt auf einen Anspruch auf die "Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte neue therapeutische Anwendung."
In CA/PV 81, Nummer 86, hatte die schweizerische Delegation bereits die Begründung für den vorgeschlagenen Wortlaut gegeben (der letztlich von der Diplomatischen Konferenz gebilligt wurde und nun Artikel 54 (5) EPÜ bildet):
"... Es gehe der schweizerischen Delegation allein darum, die geltende Rechtsprechung zur ersten sowie zweiten und jeder weiteren medizinischen Indikation der Klarheit und Rechtssicherheit halber im EPÜ zu verankern: ein breiter Schutz für die erste medizinische Indikation und ein Schutz für "spezifische Anwendungen", wenn sie nicht dem Stand der Technik entsprächen, für die zweite und jede weitere medizinische Indikation. Im Moment fehle es zu Letzterem überhaupt an einer Rechtsgrundlage im EPÜ. Problematisch am Vorschlag des EPA sei, dass nichts über den Schutzbereich ausgesagt werde. Es komme daher zu einer Vermengung der ersten und zweiten und jeder weiteren medizinischen Indikation. Dies wiederum bedeute eine Änderung der Rechtsprechung. Um zu verhindern, dass Gerichte der ersten medizinischen Indikation einen engen bzw. einer zweiten einen breiten Schutzbereich zukommen ließen, brauche es eine klare Kodifizierung. Entscheidend in Absatz 5 des schweizerischen Vorschlags sei, dass Schutz für die "spezifische Anwendung" nur gewährt werde, wenn sie noch nicht zum Stand der Technik gehöre. Ziel sei somit ein enger Schutzbereich der zweiten und ein breiter Schutzbereich der ersten medizinischen Indikation. Zwar beziehe sich der Wortlaut der "Patentfähigkeit" auf Artikel 52 und derjenige der "spezifischen Anwendung" auf Artikel 69 des EPÜ und stünde deshalb in keinem direkten Zusammenhang mit der Neuheit. Die beiden Artikel sollten jedoch nicht auch noch mit dem Konstrukt der zweiten medizinischen Indikation belastet werden."
Bestätigt wird diese eindeutige Absicht in den Erläuterungen von MR/18/00, Nummer 4:
"Der neue Artikel 54 (5) EPÜ beseitigt jegliche Rechtsunsicherheit betreffend die Patentierbarkeit von weiteren medizinischen Indikationen. Zweckgebundener Produkteschutz wird so unzweifelhaft für jede weitere medizinische Anwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches gewährt, der oder das als Arzneimittel schon bekannt ist. Der Schutzumfang der weiteren Anwendung entspricht demjenigen der "schweizerischen Anspruchsform". Im Gegensatz zum bisherigen Artikel 54 (5) EPÜ, jetzt Artikel 54 (4) EPÜ, der einen breiten (generellen) Schutz betreffend die Anwendung in medizinischen Verfahren für den Erfinder einer solchen erstmaligen Anwendung gewährt, wird dieser Schutz im neuen Artikel 54 (5) EPÜ explizit auf bestimmte Anwendungen beschränkt. Diese Beschränkung hat das Ziel, dass der Schutzbereich so weit möglich demjenigen entspricht, wie er durch die "schweizerische Anspruchsform" definiert wird."
Aus den Konferenzberichten, insbesondere aus MR/24/00, Seite 71, Nummer 139, geht auch eindeutig hervor, dass es tatsächlich die Absicht des Gesetzgebers war, "hinsichtlich der sog. zweiten und jeder weiteren medizinischen Indikation ... die von der Großen Beschwerdekammer des EPA entwickelte Rechtsprechung im Übereinkommen [zu verankern]. Aus Gründen der Transparenz und der Rechtssicherheit verfolge der Basisvorschlag [in Form des schweizerischen Vorschlags] das Ziel, die gegenwärtig für medizinische Indikationen geltende Rechtslage unverändert beizubehalten." Weiter heißt es dort: "Die angestrebte Neuregelung [sprich: der genehmigte Wortlaut] entspreche der seit Langem von den Nutzern erhobenen Forderung, die bestehende Gesetzeslücke bezüglich der Patentierung der zweiten und weiterer medizinischer Indikationen zu schließen."
5.10.5 Aus dem Wortlaut der Entscheidung G 1/83, Nummer 21 der Entscheidungsgründe, kann die Große Beschwerdekammer nicht herleiten, dass diese Regelung auf eine neue Indikation im Sinne einer neuen Krankheit beschränkt sein sollte.
Dasselbe gilt für Nummer 23 der Entscheidungsgründe, die sich in Nummer 2 der Entscheidungsformel von G 1/83 widerspiegelt. An beiden Stellen wird eine "bestimmte neue und erfinderische therapeutische Anwendung" erwähnt, was nicht zwingend bedeutet, dass eine neue Indikation auf eine "neue Krankheit" beschränkt ist.
5.10.6 Veranschaulicht wird dies durch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern nach der Entscheidung G 1/83. So gibt es nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer keinen Grund, die Absicht des Gesetzgebers, "die von der Großen Beschwerdekammer des EPA entwickelte Rechtsprechung im Übereinkommen zu verankern" (siehe vorstehend Nr. 5.10.4), ausschließlich auf die Lehre der G 1/83 zu beschränken. Vielmehr darf mit gutem Grund davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber auch die spätere Rechtsprechung kannte und mit aufnehmen wollte; in dieser Hinsicht ergibt auch die Formulierung "entwickelte Rechtsprechung" mehr Sinn.
5.10.7 Bereits unter dem EPÜ 1973 gab es eine ständige Rechtsprechung, die bekannte Stoffe und Stoffgemische zur Verwendung in der therapeutischen Behandlung einer bestimmten Krankheit für patentierbar erklärte, selbst wenn sie auf die Behandlung derselben Krankheit gerichtet waren, sofern die Behandlung neu und erfinderisch war.
Um nur einige zu nennen, siehe beispielsweise:
A) T 19/86, ABl. EPA 1989, 24,
T 893/90 vom 22. Juli 1993,
T 233/96 vom 4. Mai 2000,
die alle eine neue Gruppe von behandelten Subjekten betrafen;
B) T 51/93 vom 8. Juni 1994,
T 138/95 vom 12. Oktober 1999,
die beide einen neuen Verabreichungsweg bzw. eine neue Verabreichungsart betrafen;
C) T 290/86, ABl. EPA 1992, 414,
die eine andere technische Wirkung betrafen und zu einer wirklich neuen Anwendung geführt haben, wie in T 1020/03, ABl. EPA 2007, 204 dargelegt.
5.10.8 Die Große Beschwerdekammer kommt zu dem Ergebnis, dass - da der Gesetzgeber den Status quo in Sachen Patentschutz für weitere therapeutische Anwendungen beibehalten wollte und insofern mit der Einführung der geltenden Bestimmungen des Artikels 54 (5) EPÜ keine Änderung bezweckte - die aus dieser Rechtsprechung hervorgegangenen Grundsätze immer noch gelten.
5.10.9 Deshalb ist Artikel 53 c) Satz 1 EPÜ, wonach Verfahren zur therapeutischen Behandlung vom Patentschutz ausgeschlossen sind, im Zusammenhang mit den Bestimmungen von Satz 2 dieses Buchstabens sowie den Bestimmungen von Artikel 54 (4) und (5) EPÜ auszulegen, die einander nicht ausschließen, sondern sich vielmehr ergänzen.
Aufgrund einer Rechtsfiktion können nach Artikel 54 (4) und (5) EPÜ Stoffe oder Stoffgemische als neu betrachtet werden, auch wenn sie als solche bereits zum Stand der Technik gehören, sofern sie für eine neue Verwendung in einem Verfahren beansprucht werden, das nach Artikel 53 c) EPÜ vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
In diesen Fällen leitet sich die fiktive Neuheit und damit gegebenenfalls auch die erfinderische Tätigkeit nicht vom Stoff oder Stoffgemisch als solchem ab, sondern von dem Zweck, für den der beanspruchte Stoff bzw. das beanspruchte Stoffgemisch bestimmt ist, also von seiner beabsichtigten therapeutischen Verwendung.
Eine solche Verwendung kann entweder eine neue Indikation im strengen Sinne sein (d. h. eine Krankheit, die noch nicht mit dem beanspruchten Stoff oder Stoffgemisch behandelt wurde) oder ein oder mehrere Schritte, die ihrer Natur nach zu einem therapeutischen Verfahren gehören, das als solches nicht beansprucht werden darf.
Artikel 54 (5) EPÜ enthält jedoch die Formulierung "zur spezifischen Anwendung" (englische Fassung: "any specific use", Hervorhebung durch die Kammer). Dieser Wortlaut in Verbindung mit der erklärten Absicht des Gesetzgebers, den Status quo des Patentschutzes beizubehalten, der sich aus der Rechtsprechung der Beschwerdekammern mit der Entscheidung G 1/83 entwickelt hat, bedeutet nach Ansicht der Großen Beschwerdekammer, dass diese Anwendung nicht von Amts wegen auf eine neue Indikation im strengen Sinne begrenzt werden kann.
Somit wurde in der Entscheidung T 1020/03 (ABl. EPA 2007, 204, Nr. 36 der Entscheidungsgründe) korrekt festgestellt, dass "... es hier keine Grauzone [gibt]: Entweder ist ein Verfahren zur Verwendung eines Stoffgemisches keine therapeutische Behandlung, fällt somit nicht unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ [1973] und ist daher patentierbar, sofern es den übrigen Bestimmungen des EPÜ genügt, oder ein Verfahren ist eine therapeutische Behandlung, fällt damit unter Artikel 52 (4) Satz 1 EPÜ [1973] und ist also nicht an sich patentierbar; patentiert werden kann jedoch die Verwendung eines Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels, das im Rahmen einer solchen therapeutischen Behandlung angewandt wird, und zwar für eine unbestimmte Therapie als erste medizinische Indikation oder für eine bestimmte Therapie als weitere medizinische Indikation, sofern wiederum die übrigen Erfordernisse des EPÜ erfüllt sind, insbesondere Neuheit und erfinderische Tätigkeit."
6. Beantwortung der zweiten Frage
6.1 Der Begriff "Dosierungsanleitung" kann verschiedene Bedeutungen haben, die in der Regel durch entsprechende Merkmale im Wortlaut des Anspruchs wiedergegeben werden. Die Große Beschwerdekammer hält es aber nicht für notwendig, den Begriff hier genauer zu definieren. Angesichts ihrer Feststellungen bezüglich der ersten Frage und insbesondere weil Artikel 54 (5) EPÜ auch im Falle der Behandlung derselben Krankheit herangezogen werden kann und die "spezifische Anwendung" im Sinne dieser Bestimmung somit auch etwas anderes sein kann als die Behandlung einer anderen Krankheit, sieht die Große Beschwerdekammer keinen Grund, ein Merkmal, das in einer neuen Dosierungsanleitung eines bekannten Arzneimittels besteht, anders zu behandeln als andere in der Rechtsprechung anerkannte spezifische Anwendungen (siehe Nr. 5.10.7).
6.2 Deshalb muss auch die zweite Frage bejaht werden.
6.3 Die Große Beschwerdekammer hat Verständnis für die Bedenken, dass Schutzrechte möglicherweise ungebührlich verlängert werden könnten, wenn es potenziell Patentschutz für Ansprüche gibt, deren Neuheit und erfinderische Tätigkeit lediglich mit einer bis dahin so nicht definierten Dosierungsanleitung zur therapeutischen Behandlung einer bereits mit demselben Arzneimittel behandelten Krankheit begründet wird. Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass bei der Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit eines Anspruchs, dessen einziges neues Merkmal die Dosierungsanleitung wäre, unabhängig von der Rechtsfiktion des Artikels 54 (5) EPÜ auch die gesamte Rechtsprechung zur Beurteilung der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit generell anwendbar ist.
Insbesondere muss die Definition der Dosierungsanleitung im Anspruch sich nicht nur dem Wortlaut nach vom Stand der Technik unterscheiden, sondern auch eine andere technische Lehre widerspiegeln.
Gesetzt den Fall, die beanspruchten Modalitäten der Dosierungsanleitung bestünden lediglich in einer Auswahl aus der Lehre einer breiteren Vorveröffentlichung im Stand der Technik, so könnte Neuheit nur dann zuerkannt werden, wenn die in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern im Hinblick auf Auswahlerfindungen entwickelten Kriterien erfüllt wären. Eine typische Frage in solchen Fällen wäre, ob die in dem Anspruch definierte Dosierungsanleitung gegenüber dem bekannten Stand der Technik nachweislich eine besondere technische Wirkung hervorgebracht hat.
In der Vergangenheit wurde eine umfassende Rechtsprechung zu der Frage entwickelt, wann eine technische Wirkung einer beanspruchten und im Stand der Technik noch nicht beschriebenen therapeutischen Anwendung ebendieser Anwendung Neuheit verleihen kann, und diese Rechtsprechung ist noch immer auf die Beurteilung der jeweils zu prüfenden Einzelfälle anwendbar (siehe insbesondere T 290/86, ABl. EPA 1992, 414; T 1020/03, ABl. EPA 2007, 204; T 836/01 vom 7. Oktober 2003; T 1074/06 vom 9. August 2007).
Ist das Unterscheidungsmerkmal eines Anspruchs, mit dem ein bekanntes Arzneimittel zur Verwendung bei einer anderen Behandlung derselben Krankheit geschützt werden soll, eine Dosierungsanleitung und mehr als eine bloße Auswahl aus einer früheren breiteren Offenbarung, so wird eine neue, durch dieses Merkmal hervorgerufene technische Wirkung außerdem bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit nach Artikel 56 EPÜ berücksichtigt.
6.4 Die Frage der Dosierungsanleitungen wurde auch vor Gerichten in den EPÜ-Vertragsstaaten verhandelt. Im Vereinigten Königreich ist der England and Wales Court of Appeal zu demselben Ergebnis gelangt wie die hiesige Kammer (Urteil vom 21. Mai 2008 in Sachen Actavis UK Limited gegen Merck & Co. Inc., (2008) EWCA Civ 444). In der Schweiz hat das Handelsgericht des Kantons Zürich anderslautend entschieden (Urteile vom 14. April 2009, AA 090075 und AA 090077). Der deutsche Bundesgerichtshof hatte Bedenken in Bezug auf einen Anspruch, der ähnlich abgefasst war wie der hier vorliegende Streitanspruch, nicht jedoch in Bezug auf einen Anspruch, in dem die verwendete Substanz zur Verabreichung in bestimmten Dosierungen hergerichtet wurde (Urteil vom 19. Dezember 2006, X ZR 236/01 "Carvedilol II", Entscheidungsgründe II.1 und III.1).
Die Patente, auf die sich diese Entscheidungen beziehen, unterlagen noch dem alten Recht, welches nicht die Neuheitsfiktion für einen Anspruch enthielt, der auf ein bekanntes Erzeugnis gerichtet ist und sich auf ein Merkmal stützt, das auf eine beabsichtigte weitere - therapeutische - Verwendung dieses Erzeugnisses abstellt. Genau diese Gesetzeslücke sollten die neuen Bestimmungen des Artikels 54 (5) EPÜ schließen.
6.5 In Bezug auf zweite und weitere medizinische Indikationen sind nach dem EPÜ jetzt auch zweckgebundene Stoffansprüche gewährbar, die auf den Stoff selbst gerichtet sind, während nach dem EPÜ 1973 mit G 1/83 Ansprüche zugelassen wurden, die auf die Verwendung eines Stoffes zur Herstellung eines Arzneimittels für eine therapeutische Anwendung gerichtet waren ("schweizerische Anspruchsform"). Wahrscheinlich werden den Patentinhabern aus der Anspruchskategorie gemäß Artikel 54 (5) EPÜ breitere Rechte erwachsen als bisher, was insbesondere dazu führen könnte, dass die Freiheit der Ärzte eingeschränkt wird, Generika zu verschreiben oder zu verabreichen. In Anbetracht der eindeutigen Bestimmungen von Artikel 53 c) Satz 2 und 54 (5) EPÜ sowie der Intention des Gesetzgebers darf die Große Beschwerdekammer jedoch den Geltungsbereich dieser Bestimmungen nicht im Wege der richterlichen Rechtsfortbildung erweitern oder beschränken. Die ärztliche Freiheit lässt sich erforderlichenfalls auf der nationalen Ebene auch auf anderem Wege schützen (siehe G 1/04, Nrn. 6.1 und 6.3 der Entscheidungsgründe).
7. Beantwortung der dritten Frage
7.1 Konsequenz des neuen Rechts in Bezug auf die sogenannte schweizerische Anspruchsform
7.1.1 Anspruch 1, wie er der vorlegenden Beschwerdekammer unterbreitet wurde, ist in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst. Es entsprach der gängigen Praxis nach dem EPÜ 1973, dass ein Patent für eine weitere medizinische Indikation eines bekannten Arzneimittels nur mit einem Anspruch gewährt werden konnte, der auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches zur Herstellung eines Arzneimittels für eine bestimmte therapeutische Anwendung gerichtet war (siehe G 1/83, Nr. 2 der Entscheidungsformel).
Da das Arzneimittel an sich nicht neu war, wurde dem Gegenstand eines solchen Anspruchs durch seine neue therapeutische Anwendung Neuheit verliehen (siehe G 1/83, Nrn. 20 und 21 der Entscheidungsgründe). Diese richterliche Rechtsfortbildung war ein eigens "festgelegter Grundsatz der Beurteilung der Neuheit" (siehe Nr. 21 der Entscheidungsgründe von G 1/83) und bildete deshalb eine eng begrenzte Ausnahme von den für die Neuheitserfordernisse geltenden Prinzipien, die in anderen Gebieten der Technik keine Anwendung finden sollte.
Ursache für diese richterliche Rechtsfortbildung war die Tatsache, dass ein Patentanspruch, der auf die Verwendung eines Stoffes oder Stoffgemisches bei der therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers abstellt, wie ein auf die Behandlung gerichteter Anspruch zu beurteilen war (siehe Nr. 18 am Ende in G 1/83). Ansprüche dieser Art waren verboten. Auf der anderen Seite durfte nach Artikel 54 (5) EPÜ 1973 (Artikel 54 (4) EPÜ 2000) nur die erste medizinische Indikation eines bekannten Stoffgemisches als Arzneimittel in Form eines zweckgebundenen Stoffanspruchs formuliert werden. Und da die gesetzgeberische Absicht eindeutig nicht darin bestand, zweite therapeutische Indikationen eines bekannten Arzneimittels von der Patentierbarkeit auszuschließen, stellte die sogenannte schweizerische Anspruchsform eine angemessene Lösung, aber eben eine Ausnahme dar.
7.1.2 Nach Artikel 54 (5) EPÜ kann nun zweckgebundener Stoffschutz für jede weitere spezifische Anwendung eines bekannten Arzneimittels in einem therapeutischen Verfahren gewährt werden. Damit wurde - wie im vorbereitenden Dokument (MR/24/00, Nr. 139) erwähnt - die Lücke im EPÜ 1973 geschlossen.
Mit anderen Worten "cessante ratione legis, cessat et ipsa lex" - fällt der Sinn eines Gesetzes weg, so fällt das Gesetz selbst weg.
Nachdem die Ursache für die richterliche Rechtsfortbildung weggefallen ist, muss auch die Wirkung wegfallen. In der Entscheidung T 406/06 vom 16. Januar 2008 heißt es unter Nummer 5 der Entscheidungsgründe:
"Es stellt sich die Frage, ob die in der Entscheidung G 1/83 unter der Geltung des EPÜ 1973 zugelassene Ausnahme vom allgemeinen Erfordernis der Neuheit immer noch gerechtfertigt ist, nachdem der neue rechtliche Rahmen es Anmeldern gestattet, ihre Ansprüche gemäß Artikel 54 (5) EPÜ 2000 abzufassen, um Patentschutz für eine neue therapeutische Anwendung eines bekannten Arzneimittels zu erlangen."
7.1.3 Im Übrigen könnten gegen die schweizerische Anspruchsform Bedenken dahin gehend geäußert werden (und dies ist auch geschehen), ob sie überhaupt die Patentierbarkeitserfordernisse erfüllt, denn es gibt keine funktionelle Beziehung zwischen den gegebenenfalls Neuheit und erfinderische Tätigkeit verleihenden Merkmalen (der Therapie) und dem beanspruchten Herstellungsverfahren. Wird dem Gegenstand eines Anspruchs also nur durch eine neue therapeutische Verwendung eines Arzneimittels Neuheit verliehen, so darf er nicht mehr in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst werden, wie sie mit G 1/83 geschaffen wurde.
7.1.4 Der Großen Beschwerdekammer ist bewusst, dass Patente mit Ansprüchen dieser Art erteilt wurden und dass viele Anmeldungen anhängig sind, die Patentschutz für solche Ansprüche anstreben. Zur Wahrung der Rechtssicherheit und zum Schutz der berechtigten Interessen der Anmelder soll die Abschaffung dieser Möglichkeit durch die von der Großen Beschwerdekammer in dieser Entscheidung vorgenommene Auslegung des neuen Gesetzes deshalb keine Rückwirkung haben; es wird eine angemessene Frist von drei Monaten nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung im Amtsblatt des EPA vorgesehen, damit künftige Anmeldungen dieser neuen Situation gerecht werden können. Maßgeblicher Zeitpunkt in dieser Hinsicht ist der Anmeldetag bzw., wenn eine Priorität in Anspruch genommen wurde, der Prioritätstag.
8. Sonstige Verfahrensfragen
Die Beschwerdeführerin hat im Laufe des Verfahrens neue Anträge eingereicht. Da die Große Beschwerdekammer jedoch nicht befugt ist, über den der Vorlage zugrunde liegenden Beschwerdegegenstand zu entscheiden, ist es Sache der vorlegenden Kammer, über ihre Zulässigkeit oder Begründetheit zu entscheiden.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Fragen werden wie folgt beantwortet:
Frage 1:
Wenn die Verwendung eines Arzneimittels bei der Behandlung einer Krankheit bereits bekannt ist, schließt Artikel 54 (5) EPÜ nicht aus, dass dieses Arzneimittel zur Verwendung bei einer anderen therapeutischen Behandlung derselben Krankheit patentiert wird.
Frage 2:
Die Patentierbarkeit ist auch dann nicht ausgeschlossen, wenn das einzige nicht im Stand der Technik enthaltene Anspruchsmerkmal eine Dosierungsanleitung ist.
Frage 3:
Wird dem Gegenstand eines Anspruchs nur durch eine neue therapeutische Verwendung eines Arzneimittels Neuheit verliehen, darf der Anspruch nicht mehr in der sogenannten schweizerischen Anspruchsform abgefasst werden, wie sie mit der Entscheidung G 1/83 geschaffen wurde.
Es wird eine Frist von drei Monaten nach der Veröffentlichung dieser Entscheidung im Amtsblatt des Europäischen Patentamts gesetzt, damit künftige Anmelder dieser neuen Situation gerecht werden können.