BESCHWERDEKAMMERN
Entscheidungen der Großen Beschwerdekammer
Entscheidung der Großen Beschwerdekammer vom 8. April 2004 G 1/031
(Übersetzung)
Zusammensetzung der Kammer:
Vorsitzender: | P. Messerli |
Mitglieder: | R. Teschemacher |
| C. Andries |
| G. Davies |
| B. Jestaedt |
| A. Nuss |
| J.-C. Saisset |
Patentinhaber/Beschwerdegegner: PPG Industries Ohio, Inc.
Einsprechender/Beschwerdeführer: SAINT-GOBAIN GLASS FRANCE
Stichwort: Disclaimer/PPG
Artikel: 52, 53, 54 (2), 54 (3) und (4), 56, 57, 60 (2), 84, 87 (1), 112 (1), 123 (2) und 123 (3), 139 (2) EPÜ
Regel: 27 (1) b), 29 (1) EPÜ
Schlagwort: "Zulässigkeit von Disclaimern - Abgrenzung gegenüber dem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) bzw. (3) und (4) - zufällige Vorwegnahme - Ausschluß nicht patentfähiger Gegenstände" "Abfassung von Disclaimern - Erfordernisse der Klarheit und Knappheit"
Leitsätze:
I. Die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers kann nicht schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ abgelehnt werden, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist.
II. Die Zulässigkeit eines in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbarten Disclaimers ist nach folgenden Kriterien zu beurteilen:
II.1 Ein Disclaimer kann zulässig sein, wenn er dazu dient:
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ abgrenzt;
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme nach Artikel 54 (2) EPÜ abgrenzt; eine Vorwegnahme ist zufällig, wenn sie so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, daß der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte; und
- einen Gegenstand auszuklammern, der nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
II.2 Ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder einen Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
II.3 Ein Disclaimer, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant ist oder wird, stellt eine nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar.
II.4 Ein Anspruch, der einen Disclaimer enthält, muß die Erfordernisse der Klarheit und Knappheit nach Artikel 84 EPÜ erfüllen.
Sachverhalt und Anträge
I. Die Technischen Beschwerdekammern 3.3.4 und 3.3.5 haben die Große Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) a) EPÜ mit ähnlichen Rechtsfragen befaßt.
II. Mit der Entscheidung T 507/99 (ABl. EPA 2003, 225 - Disclaimer/PPG) hat die Technische Beschwerdekammer 3.3.5 der Großen Beschwerdekammer folgende Fragen vorgelegt (Aktenzeichen G 1/03):
1. Ist die Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässig, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem Schutzumfang des Anspruchs ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist?
2. Falls Frage 1 zu verneinen ist, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit eines Disclaimers zu beurteilen?
a) Ist es insbesondere von Bedeutung, ob der Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ oder gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ abgegrenzt werden soll?
b) Muß der durch den Disclaimer ausgeschlossene Gegenstand strikt auf den in einem bestimmten Dokument des Stands der Technik offenbarten Gegenstand begrenzt sein?
c) Ist es von Bedeutung, ob der Disclaimer erforderlich ist, um dem beanspruchten Gegenstand Neuheit gegenüber dem Stand der Technik zu verleihen?
d) Ist das in der bisherigen Rechtsprechung entwickelte Kriterium anzuwenden, daß es sich um eine zufällige Offenbarung handeln muß, und wenn ja, wann ist eine Offenbarung als zufällig anzusehen, oder
e) ist ein auf die Ausklammerung des Stands der Technik begrenzter und in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarter Disclaimer zwar nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig, aber bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands außer acht zu lassen?
In dem Verfahren, das zu der Vorlage führte, sah sich der Patentinhaber mit Neuheitseinwänden konfrontiert, wobei dem ersten ein Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ und dem zweiten ein Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ zugrunde lag. Um diese auszuräumen, fügte er in einigen unabhängigen Ansprüchen zwei Disclaimer ein. Nach Auffassung der vorlegenden Kammer waren beide nicht in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart. Da die Kammer in einer der Vorlage vorausgegangenen Zwischenentscheidung (T 507/99 vom 28. August 2002) zu dem Schluß gelangt war, daß die streitigen Ansprüche die Erfordernisse der Neuheit und der erfinderischen Tätigkeit erfüllten, und keine sonstigen Einwände gegen die Änderungen hatte, erachtete sie die Frage der Zulässigkeit der Disclaimer nach Artikel 123 (2) EPÜ als maßgeblich für den Ausgang der Beschwerde.
Die Kammer 3.3.5 hat die ständige Rechtsprechung untersucht, die aus der ursprünglichen Anmeldung nicht herleitbare Disclaimer unter bestimmten Bedingungen zuläßt. Diese Rechtsprechung war in der Entscheidung T 323/97 (ABl. EPA 2002, 476) grundsätzlich in Frage gestellt worden, der zufolge das Einfügen eines negativen technischen Merkmals in einen Anspruch, womit bestimmte Ausführungsformen ausgeschlossen würden, trotz der Bezeichnung "Disclaimer" doch eine dem Artikel 123 (2) und (3) EPÜ unterliegende Änderung sei. In der Entscheidung hieß es, daß die Beibehaltung der Praxis früherer Entscheidungen, aus der ursprünglichen Anmeldung nicht herleitbare Disclaimer zuzulassen, nicht zu rechtfertigen sei. Zwar ging es in T 323/97 um einen Fall, in dem der Disclaimer den Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ abgrenzen sollte, doch war die Aussage nicht auf diesen Sachverhalt begrenzt, sondern schloß auch Situationen ein, in denen der Disclaimer den Anspruch gegenüber einer früheren Anmeldung nach Artikel 54 (3) EPÜ abgrenzen soll. In Anbetracht der daraus resultierenden Unsicherheit über die Zulässigkeit von Disclaimern hielt die Kammer 3.3.5 eine Klärung der Frage für erforderlich. Zudem fand sie Widersprüche in der Rechtsprechungspraxis zu Disclaimern. So herrschten bei der Formulierung von Disclaimern unterschiedliche Auffassungen darüber, ob ein Disclaimer strikt auf den im Stand der Technik offenbarten Gegenstand begrenzt sein muß. Im Falle sogenannter zufälliger Vorwegnahmen wurden bei der Beurteilung, wann eine Vorwegnahme als zufällig anzusehen ist, unterschiedliche Kriterien angelegt.
III. Die Technische Beschwerdekammer 3.3.4 legte der Großen Beschwerdekammer mit der Entscheidung T 451/99 (ABl. EPA 2003, 334 - Synthetische Antigene/GENETIC SYSTEMS) folgende Rechtsfrage vor (Aktenzeichen G 2/03):
Ist die Aufnahme eines von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht gestützten Disclaimers in einen Anspruch zulässig und dementsprechend der Anspruch nach Artikel 123 (2) EPÜ gewährbar, wenn der Disclaimer dazu dient, einen Neuheitseinwand nach Artikel 54 (3) EPÜ auszuräumen?
Wenn ja, nach welchen Kriterien ist dann die Zulässigkeit des Disclaimers zu beurteilen?
Im Verfahren, das zu dieser Vorlage führte, sah sich die Patentinhaberin mit einem Neuheitseinwand nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ konfrontiert. Um diesen auszuräumen, fügte sie in Anspruch 1 des Hauptantrags einen Disclaimer ein, durch den bestimmte Ausführungsformen aus einer generisch definierten Gruppe ausgeklammert wurden. Weder die ausgeklammerten bestimmten Ausführungsformen noch die übrigen Mitglieder der Gruppe waren in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausdrücklich genannt. Da die Kammer zu dem Schluß gelangt war, daß der Anspruch einschließlich des Disclaimers den Erfordernissen der Klarheit und der Neuheit genügte, und keine weiteren Einwände gegen die Änderungen hatte, hielt sie in diesem Fall die Frage für entscheidend, ob der Disclaimer nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig sei oder nicht.
Auch in T 451/99 wurde aus einer Analyse der Entscheidung T 323/97 (siehe oben) und einer Übersicht über die Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu Disclaimern abgeleitet, daß eine Befassung der Großen Beschwerdekammer nach Artikel 112 (1) EPÜ erforderlich sei. Die folgenden Punkte wurden als hilfreich für die sachgerechte Abklärung der Frage erachtet:
i) Der Begriff "Disclaimer" sollte in der in T 323/97 definierten Weise verstanden werden, d. h. als eine Änderung eines bestehenden Anspruchs, die in der Aufnahme eines "negativen" technischen Merkmals in den Anspruch resultiert.
ii) Gemäß den in der Entscheidung G 1/93 (ABl. EPA 1994, 541) aufgestellten Grundsätzen ist ein hinzugefügtes Merkmal dann nicht als Gegenstand zu betrachten, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht, wenn es lediglich den Schutz für einen Teil des Gegenstands der beanspruchten Erfindung gemäß der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausschließt, ohne einen technischen Beitrag zum Erfindungsgegenstand zu leisten.
iii) Sollte die Entscheidung T 323/97 bestätigt werden, so würde dies gemäß Artikel 123 (2) EPÜ zur Ungültigkeit von erteilten Ansprüchen führen, die einen Disclaimer entsprechend der früheren Rechtsprechung enthalten. Infolge der sogenannten "unentrinnbaren Falle" ließe sich dies nicht durch einfache Streichung des Disclaimers bereinigen. Da der Gebrauch von Disclaimern eine verbreitete Praxis sei, habe die Beantwortung der vorgelegten Fragen erhebliche Auswirkungen auf eine ganze Reihe bereits erteilter Patente.
iv) Im Hinblick auf Artikel 54 (3) EPÜ ist der besonderen Lage eines Anmelders Rechnung zu tragen, der seine Anmeldung nicht so formulieren kann, daß eine Überschneidung mit einem Stand der Technik vermieden wird, von dem er keine Kenntnis hat.
IV. Standpunkte der Verfahrensbeteiligten
Die Beteiligten argumentierten in ihrem schriftlichen Vorbringen und in der mündlichen Verhandlung vor dieser Kammer am 8. Dezember 2003 im wesentlichen wie folgt:
1) Die Patentinhaberin in der Sache G 1/03 beantragte, die Vorlagefragen in diesem Verfahren wie folgt zu beantworten:
Frage 1: nein
Frage 2 a): nein
Frage 2 b): ja, aber ohne Klarheit und Knappheit der Ansprüche zu beeinträchtigen
Frage 2 c): ja
Frage 2 d): nein
Frage 2 e): ja
Zusammenfassend sollte ein Anspruch ihrer Auffassung nach zulässig sein, wenn er folgende Erfordernisse erfülle:
i) Es wird eine neuheitsschädliche Offenbarung eines Dokuments des Stands der Technik ausgeklammert, um die Neuheit gegenüber diesem Stand der Technik herzustellen, oder aus dem beanspruchten Gegenstand wird ein Bereich ausgeschlossen, in dem die Erfindung nicht ausführbar ist.
ii) Die Formulierung des Disclaimers sollte sich so strikt wie möglich auf die Offenbarung des zum Stand der Technik gehörenden Dokuments beschränken, das es auszuschließen gilt, ohne gegen das Erfordernis der Klarheit und Knappheit der Ansprüche zu verstoßen.
iii) Bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit des beanspruchten Gegenstands ist der Disclaimer außer acht zu lassen.
Nach Ansicht der Patentinhaberin würde das sicherstellen, daß es einem Anmelder (nachfolgend wird nicht zwischen Anmelder und Patentinhaber unterschieden) nicht gestattet sein darf, seine Position durch Hinzufügung von in der ursprünglichen Anmeldung nicht offenbarten Gegenständen zu verbessern, weil ihm dies zu einem ungerechtfertigten Vorteil verhülfe und der Rechtssicherheit für Dritte, die sich auf die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung verlassen, abträglich sein könnte.
2) Die Patentinhaberin in der Sache G 2/03 definierte ihren Standpunkt auf der Grundlage der detaillierteren Fragen in G 1/03. Die von ihr beantragten Antworten entsprechen außer bei Frage 2 d) den Anträgen der Patentinhaberin in G 1/03. Ohne eine konkrete Antwort auf diese Frage nahezulegen, brachte sie vor, daß bei einem Disclaimer nicht als erstes zu fragen sei, ob er dem beanspruchten Gegenstand zur Neuheit verhelfe, sondern ob er lediglich darauf abziele, einen Teil des beanspruchten Gegenstands auszuschließen, und keinen technischen Beitrag leiste, was nach Artikel 123 (2) EPÜ in Einklang mit der Entscheidung G 1/93 (siehe oben) formal zu prüfen sei.
3) Die Einsprechende in der Sache G 1/03 beantragte, die Fragen in diesem Fall wie folgt zu beantworten:
Frage 1: nein
Frage 2 a): ja für Ansprüche, die gegen einen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ abgegrenzt werden müssen;
nein bei einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ
Frage 2 b): ja
Frage 2 c): ja
Frage 2 d): nein
Frage 2 e): gilt nicht für einen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ
Sie brachte vor, daß Dritte aus Gründen der Rechtssicherheit von der Veröffentlichung der Anmeldung an Kenntnis von allen Elementen haben müßten, die sie bräuchten, um den Schutzumfang des auf sie zukommenden Patents abzuschätzen. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung sei die Grundlage für jeden den Schutzumfang definierenden Anspruch. Die Aufnahme eines Disclaimers führe zu einer Änderung auf einer Grundlage, die nicht mehr die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung sei, und verstoße somit gegen Artikel 123 (2) EPÜ. Daher sollten keine Disclaimer zur Abgrenzung gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ zugelassen werden. Auch für zufällige Vorwegnahmen dürfe keine Ausnahme gemacht werden, da der gesamte Stand der Technik relevant sei. Mangels präziser Kriterien sei es für Dritte zudem nicht abschätzbar, wann eine Vorwegnahme zufällig sei. Im übrigen würde eine liberale Praxis bei der Zulassung von Disclaimern die Harmonisierung des Patentrechts in Europa beeinträchtigen. In Anbetracht des nur unscharf abgegrenzten Konzepts für nicht offenbarte Disclaimer sei zu erwarten, daß sich nicht alle nationalen Gerichtsbarkeiten dem EPA anschließen würden, was eine gewisse zusätzliche Rechtsunsicherheit schaffe. Ausnahmen seien nur bei einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ gerechtfertigt, damit der Anmelder Gelegenheit erhalte, einen Stand der Technik auszuklammern, von dem er bei Einreichung der Anmeldung keine Kenntnis haben konnte. Der Disclaimer dürfe nur die Offenbarung der früheren Anmeldung und sonst nichts ausklammern. Ein Verbot von Disclaimern in allen anderen Fällen könnte die Anmelder dazu veranlassen, mehr auf die Qualität ihrer Patentanmeldungen zu achten, und somit das Erteilungsverfahren erleichtern.
(4) Die Einsprechende 1 in der Sache G 2/03 beantragte, die Frage 1 in diesem Verfahren zu verneinen. Bezüglich Frage 2 verwies sie auf die Vorlagefragen in der Sache G 1/03 und beantragte, sie wie folgt zu beantworten:
Frage 1: nein
Frage 2 a): nein
Frage 2 b): der durch einen Disclaimer ausgeklammerte Teil eines Anspruchs muß zumindest die neuheitsschädliche Offenbarung im Stand der Technik abdecken
Frage 2 c): ein Disclaimer sollte unter folgenden Bedingungen zulässig sein:
- zur Wiederherstellung der Neuheit gegenüber einem Dokument des Stands der Technik,
- zur Ausräumung von Einwänden nach Artikel 52 (4) und 53 EPÜ,
- zur Ausklammerung einzelner Ausführungsformen, die die erfindungsgemäße Aufgabe nicht lösen,
- wenn er nichts zur Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit beiträgt
Frage 2 d): das Kriterium der zufälligen Vorwegnahme sollte so angewendet werden, wie es in der bisherigen Rechtsprechung, d. h. in T 608/96, definiert war, und
Frage 2 e): bei der Beurteilung, ob ein Anspruch erfinderisch ist, ist der Disclaimer außer acht zu lassen.
5) Die Einsprechende 2 in der Sache G 2/03 faßte ihren Standpunkt wie folgt zusammen:
i) Nach Möglichkeit sollte der beanspruchte Gegenstand gemäß den Vorschriften des EPÜ, insbesondere Artikel 84 und Regel 29 (1) EPÜ, durch positive technische Merkmale gegenüber dem angezogenen Stand der Technik abgegrenzt werden.
ii) Disclaimer sollten nur in Ausnahmefällen und nach eingehender Prüfung des Einzelfalls zugelassen werden, wenn sich Klarheit und Knappheit ohne einen Disclaimer nicht zufriedenstellend erzielen lassen und sichergestellt ist, daß der Anmelder keinen ungerechtfertigten Vorteil erlangt.
iii) Ein Disclaimer sollte nicht zugelassen werden, wenn er eine Lehre aus der Patentschrift ausklammert, die für den Fachmann nicht unmittelbar und eindeutig aus dem Stand der Technik herleitbar ist. Ferner sollte es aus Gründen der Rechtssicherheit in der Regel nicht zulässig sein, mehrere Disclaimer einzufügen.
V. Äußerungen des Präsidenten des Europäischen Patentamts
Der Präsident des EPA wurde gemäß Artikel 11a der Verfahrensordnung der Großen Beschwerdekammer aufgefordert, sich zu äußern. Unter Berufung auf die Richtlinien für die Prüfung im EPA, Abschnitte C-III, 4.12 und C-VI, 5.8b erklärte er, daß die Praxis der erstinstanzlichen Organe mit der ständigen Rechtsprechung in Einklang stehe. In Anbetracht der von den Kammern 3.3.4 und 3.3.5 vorgelegten Rechtsfragen würden erstinstanzliche Verfahren in Fällen, deren Ausgang voll und ganz von der Beantwortung durch die Große Beschwerdekammer abhänge, bis zum Ergehen dieser Entscheidung ausgesetzt. Mit Bezug auf die in T 323/97 gegen diese Rechtsprechung erhobenen Einwände meinte er, daß der richtige Ansatz für die Beurteilung der Zulässigkeit von aus der ursprünglichen Offenbarung nicht herleitbaren Disclaimern den in G 1/93 (siehe oben) formulierten Grundsätzen zu entnehmen sei. Die in T 323/97 vertretene kategorische Auffassung, wonach Artikel 123 (2) EPÜ jeglichen nicht gestützten Disclaimer ausschließe, sei nicht gerechtfertigt. Unter bestimmten Bedingungen sollte die Abgrenzung eines Anspruchs durch einen solchen Disclaimer nach Artikel 123 (2) EPÜ zulässig sein, sofern der Disclaimer lediglich den Schutz für einen Teil des beanspruchten Gegenstands ausschließe und nicht erfinderisch mache, was naheliegend sei. Die Zulassung nicht gestützter Disclaimer in Ausnahmefällen bewahre die bestehende Ausgewogenheit zwischen den praktischen Bedürfnissen der Anmelder und der Rechtssicherheit für Dritte. Die Aufnahme eines Disclaimers sei legitim, wenn der Anmelder in eine Situation gerate, die er beim Abfassen seiner ursprünglichen Anmeldung nicht habe vorhersehen können, z. B. im Falle eines Stands der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ oder einer zufälligen Vorwegnahme. Ferner sollte es möglich sein, durch das Einfügen eines Disclaimers auf Patentierungsverbote zu reagieren, wie es in den Richtlinien für die Prüfung im EPA, Abschnitte C-II, 4.12 und 6 sowie insbesondere C-IV, 2a, 3 und 4.6 vorgesehen sei.
VI. Stellungnahmen Dritter
1) Organisationen der interessierten Kreise
Folgende Organisationen reichten Stellungnahmen ein: Institut der vor dem EPA zugelassenen Vertreter (epi), Fédération Internationale des Conseils en Propriété Industrielle (FICPI), Chartered Institute of Patent Agents (CIPA, UK), Chemical Industries Association (CIA, UK) und Intellectual Property Advisory Committee of the BioIndustry Association (BIA, UK).
In allen Stellungnahmen wurde die Zulassung von Disclaimern zur Ausräumung von Neuheitseinwänden sowohl nach Artikel 54 (2) EPÜ als auch nach Artikel 54 (3) EPÜ befürwortet. Dabei wurde im großen und ganzen davon ausgegangen, daß ein Disclaimer ein Teilverzicht auf das Recht auf ein Patent sei, daß er im Sinne der Entscheidung G 1/93 (siehe oben, Nr. 16 der Entscheidungsgründe) keinen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leiste und daß er nicht als ein technisches Merkmal anzusehen sei. In einigen Stellungnahmen wurde argumentiert, daß eine Würdigung des Stands der Technik, da sie nicht Teil des Erfindungsgegenstands sei, keinen hinzugefügten Gegenstand im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ darstelle, und folglich eine Änderung, die den Anspruch entsprechend abgrenze, zwar auf der Beschreibung basiere, aber nicht auf einem neuen Gegenstand. Mit einer weiteren Komplikation sei zu rechnen, wenn die Priorität im Einspruchsverfahren nicht anerkannt und der Disclaimer aus diesem Grund unzulässig werde. Das wurde als äußerst hart für den Patentinhaber empfunden.
Alle Organisationen vertraten die Auffassung, daß ein Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ nicht notwendigerweise eine zufällige Vorwegnahme sein müsse, um ausgeklammert werden zu können. Sie machten geltend, daß sich eine solche Unterscheidung nicht aus dem EPÜ herleiten lasse und die Rechtsprechung nach unterschiedlichen Kriterien beurteilt habe, ob ein bestimmter Stand der Technik eine "zufällige Vorwegnahme" sei oder nicht.
Da alle Organisationen von der Prämisse ausgingen, daß ein Disclaimer keinen technischen Beitrag leisten könne, stimmten sie darin überein, daß der Disclaimer bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außer acht gelassen werden sollte und nicht zur Begründung der erfinderischen Tätigkeit herangezogen werden könne.
In den Stellungnahmen wurde hervorgehoben, daß Disclaimer notwendig seien, damit die Anmelder Situationen bewältigen könnten, die beim Abfassen der Anmeldung nicht vorhersehbar waren. Gäbe es keine Möglichkeit, einen Anspruch zu beschränken, so müßten sämtliche theoretisch möglichen Auffangpositionen in die Beschreibung aufgenommen werden. Dies würde die Abfassung und Übersetzung von Patentschriften erheblich verteuern.
2) Stellungnahmen von Einzelpersonen
Es gingen mehrere Stellungnahmen von zugelassenen Vertretern und aus der Industrie ein. Die meisten deckten sich im wesentlichen mit denen der Organisationen. Eine Ausnahme bildete eine aus der Industrie stammende Stellungnahme, die den restriktivsten Standpunkt bezüglich der Zulässigkeit von Disclaimern enthielt. Darin wurde postuliert, daß ein Disclaimer Informationen umfasse, die in der ursprünglichen Anmeldung nicht enthalten seien, und damit gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoße, selbst wenn er den Schutzumfang des Patents beschränke. Die Rechtsgrundlage für die Zulassung von Disclaimern beruhe eher auf Billigkeitsgrundsätzen als auf einer Vorschrift im EPÜ. Daher seien für jeden Einzelfall alle relevanten Fakten und Umstände zu prüfen. In T 351/98 vom 15. Januar 2002 (nicht im ABl. EPA veröffentlicht) sei der Disclaimer als gerechtfertigt angesehen worden, weil der auszuschließende Stand der Technik eine frühere Anmeldung eines Dritten war, weswegen der spätere Anmelder ihren Inhalt nicht kennen und seine ursprünglichen Ansprüche nicht so formulieren konnte, daß es keine Überschneidung damit gab. Diese Begründung impliziere zwei Voraussetzungen für die Zulässigkeit von Disclaimern bei einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ, nämlich daß keine andere Änderung möglich sein dürfe, damit eine unangemessene Einschränkung vermieden werde, und daß der Anmelder keine Kenntnis von dem relevanten Dokument haben konnte. Was die zweite Voraussetzung angehe, so sollte ein Disclaimer weder zugelassen werden, wenn die frühere Anmeldung zwischen dem Prioritäts- und dem Anmeldetag der fraglichen Anmeldung veröffentlicht wurde, noch wenn die frühere Anmeldung vom Anmelder selbst stamme (Selbstkollision).
3) Nicht berücksichtigte Stellungnahmen
Eine Stellungnahme wurde anonym eingereicht, eine weitere ging nach der mündlichen Verhandlung ein, in der die sachliche Debatte beendet wurde. Beide blieben unberücksichtigt.
VII. Die zwei Vorlageentscheidungen gehen ausführlich auf die frühere Rechtsprechung und auf T 323/97 ein, die zur Befassung der Großen Beschwerdekammer geführt hat. Näheres findet sich in der Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 4. Aufl. 2001, Abschnitte I.D.6.15, II.B.1.2.1 und insbesondere III.A.1.6.3. In Anbetracht dieser umfassenden und leicht zugänglichen Informationen verzichtet die Große Beschwerdekammer auf eine weitere Darstellung der bisherigen Rechtsprechung.
Erwähnenswert scheint jedoch, daß es zwischen der am 17. September 2001 ergangenen Entscheidung T 323/97, in der die Kammer von der ständigen Praxis abwich, und der ersten Vorlageentscheidung T 507/99 vom 20. Dezember 2002 keine weitere Entscheidung gab, die dem in T 323/97 eingeschlagenen Weg folgte.
Entscheidungsgründe
1. Beide Vorlagen sind zulässig.
1.1 Völlig offensichtlich ist dies im Fall G 1/03, in dem die endgültige Entscheidung der vorlegenden Kammer unmittelbar von der Zulässigkeit des Disclaimers abhängt (siehe Nr. II).
1.2 Im Fall G 2/03 hat die vorlegende Kammer noch nicht alle materiellrechtlichen Erfordernisse geprüft. Die Zulässigkeit des Disclaimers kann sich letztlich als irrelevant erweisen, wenn das Erfordernis der erfinderischen Tätigkeit nicht erfüllt ist. Nichtsdestoweniger ergibt sich die Rechtsfrage aus der Sachlage in dem bei der vorlegenden Kammer anhängigen Fall, und in der Regel wird die formale Zulässigkeit des beanspruchten Gegenstands vor den materiellrechtlichen Erfordernissen geprüft. Die Vorlage war somit gerechtfertigt.
1.3 Der Präsident des EPA hat in seinen Äußerungen ein Problem angesprochen, das in den Vorlageentscheidungen nicht thematisiert wird, wenngleich es in dem eher allgemeinen einleitenden Teil der Frage 2 in T 507/99 enthalten ist. Er brachte vor, daß neben Überschneidungen zwischen der beanspruchten Erfindung und dem Stand der Technik auch Konflikte mit Artikel 52 (4) EPÜ und Artikel 53 a) und b) EPÜ für den Anmelder unvorhersehbar sein könnten, von dem lediglich erwartet werden könne, daß er die geltenden Vorschriften des EPÜ und die Rechtsprechung und Praxis der Beschwerdekammern des EPA zu Ausnahmen von der Patentierbarkeit beachte. Obwohl sich dieses Problem bei den hier zu behandelnden Vorlagen nicht stellt, hält es die Kammer für angebracht, in ihrer Antwort darauf einzugehen. Das Problem ist von beträchtlicher praktischer Relevanz, und die weiteren Fragen, die sich unmittelbar aus den Fällen ergeben, die zu den Vorlagen geführt haben, erfordern eine allgemeine Aussage zu den Grundsätzen, die für die Zulässigkeit von Disclaimern gelten.
2. Zulässigkeit von Disclaimern
Gemäß ständiger Praxis wird der Begriff "Disclaimer" nachstehend im Sinne einer Änderung eines Anspruchs verwendet, die in der Aufnahme eines "negativen" technischen Merkmals in den Anspruch resultiert, womit bestimmte Ausführungsformen oder Bereiche eines allgemeinen Merkmals ausgeschlossen werden. Insbesondere muß sich die Große Beschwerdekammer mit der Zulässigkeit von Disclaimern befassen, die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbart waren. In diesem Zusammenhang wird in T 451/99, den Äußerungen des Präsidenten und den Stellungnahmen von Dritten die Formulierung "nicht gestützter" Disclaimer verwendet. Der Ausdruck "nicht gestützt" wird in der nachfolgenden Entscheidungsbegründung vermieden, weil "gestützt" in Artikel 84 EPÜ eine andere Bedeutung hat. Statt dessen wird die Formulierung "nicht offenbarter Disclaimer" verwendet.
Das am weitesten gehende Argument, das zugunsten von Disclaimern vorgebracht wurde, lautet, daß ein Disclaimer eine rein freiwillige Beschränkung ist, durch die der Anmelder auf einen Teil des beanspruchten Gegenstands verzichtet, daß ein Disclaimer somit per se kein technisches Merkmal des Anspruchs ist, nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ verstoßen kann und stets zugelassen werden sollte. Die Kammer kann sich dieser Schlußfolgerung nicht anschließen. Jeder Änderung eines Anspruchs ist eine technische Bedeutung zu unterstellen, sonst wäre sie in dem Anspruch nutzlos. Jedenfalls würde ein Merkmal ohne technische Bedeutung den Umfang des Anspruchs nicht beschränken.
Eine damit verwandte, aber engere Frage ist, ob ein Merkmal, das eine technische Bedeutung hat, einen Beitrag zur technischen Lehre der Anmeldung oder zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leistet; mit dieser Frage befaßten sich die Entscheidungen G 1/93 (siehe oben) und G 2/98 (ABl. EPA 2001, 413)2. In G 1/93, in der es um die Beziehung zwischen den Absätzen 2 und 3 des Artikels 123 EPÜ ging, wurde ein Unterschied gemacht zwischen Merkmalen, die einen technischen Beitrag zum Gegenstand der beanspruchten Erfindung leisten und solchen, die dies nicht tun. Nach dieser Entscheidung sind die letzteren Merkmale, die lediglich den Schutz einschränken, nicht als Gegenstand zu betrachten, der über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinausgeht (Nr. 2 der Entscheidungsformel). In der Entscheidung G 2/98, die das in Artikel 87 (1) EPÜ genannte Erfordernis "derselben Erfindung" betraf, kam die Kammer zu dem Ergebnis, daß kein Unterschied gemacht werden sollte zwischen technischen Merkmalen, die mit der Funktion und der Wirkung der Erfindung in Zusammenhang stehen, und technischen Merkmalen, bei denen dies nicht der Fall ist (Nr. 8.3 der Entscheidungsgründe). In der Sache T 323/97 gelangte die Kammer zu dem Schluß, daß die in G 2/98 angestellten Überlegungen auch auf die Einfügung eines Disclaimers anzuwenden seien, da es nicht möglich sei, mit Sicherheit festzustellen, ob die durch das negative Merkmal herbeigeführte Einschränkung einen technischen Beitrag zu der beanspruchten Erfindung beinhalte. So könne z. B. ein neu hinzutretender Stand der Technik eine Neuformulierung der technischen Aufgabe erforderlich machen, durch die ein Dokument für die Erfindung relevant werden könne, das ursprünglich als ein entfernter Stand der Technik erschien.
Die in T 323/97 verneinte Frage wird im folgenden mit Bezug auf die verschiedenen im vorliegenden Verfahren denkbaren Situationen untersucht.
2.1 Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ
Kollidierende Anmeldungen
In beiden Vorlageentscheidungen wird die Frage gestellt, ob ein nicht offenbarter Disclaimer zulässig sein kann, wenn er dazu dient, einen Neuheitseinwand nach Artikel 54 (3) EPÜ auszuräumen.
2.1.1 Zur korrekten Auslegung des Rechts ist der Zweck des Artikels 54 (3) EPÜ zu berücksichtigen. In allen Patentsystemen stellt sich das Problem, wie eine spätere Anmeldung durch eine frühere berührt werden soll, die am Anmelde- oder Prioritätstag der späteren Anmeldung noch nicht veröffentlicht war. Traditionell gab es hierfür in Europa zwei Lösungen: Nach dem "whole contents approach" galt die frühere Anmeldung als zum Stand der Technik gehörig. Für dem Patentamt bereits offenbarte Gegenstände sollte kein Patent erteilt werden. Vor der Harmonisierung des materiellen Patentrechts in Europa war dies die Rechtslage in Belgien und Frankreich, wo keine Sachprüfung stattfand. Nach dem "prior claim approach" waren die Ansprüche der späteren Anmeldung mit denen der früheren Anmeldung in der erteilten Fassung zu vergleichen. Diese Vorgehensweise zielte darauf ab, Doppelpatentierungen zu vermeiden. So war die Situation in Ländern mit prüfenden Ämtern wie z. B. in Deutschland, den Niederlanden, Österreich und im Vereinigten Königreich, und so ist sie in der Schweiz noch heute (Reimer, Europäisierung des Patentrechts, München 1955, S. 19 ff.; Banks, The British Patent System, London 1970, Kap. 10). Nach den Artikeln 4 (3) und 6 des Straßburger Übereinkommens zur Vereinheitlichung gewisser Begriffe des materiellen Rechts der Erfindungspatente von 1963 sind beide Ansätze zulässig. Die Tatsache, daß man sich nicht auf eine einzige Lösung einigen konnte, zeigt, daß dies einer der kontroversesten Punkte war, mit denen sich das Straßburger Übereinkommen befaßte (Näheres siehe Pfanner, Vereinheitlichung des materiellen Patentrechts im Rahmen des Europarats, GRUR Int. 1964, 247, S. 249 ff.).
Ähnliche Diskussionen gab es auch im Rahmen der vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ (siehe van Empel, The Granting of European Patents, Leyden 1975, Rdn. 98 ff.). Insbesondere die interessierten Kreise favorisierten nahezu einstimmig den "prior claim approach". Am Ende einigte man sich auf einen Kompromiß: Letztlich wurde - zumindest im Prinzip - der "whole contents approach" angenommen, in wichtigen Aspekten jedoch eingeschränkt. Unveröffentlichte Anmeldungen wurden nur für den Zweck der Neuheitsprüfung in den vom EPA zu berücksichtigenden Stand der Technik aufgenommen (Art. 54 (3) in Verbindung mit Art. 56 Satz 2 EPÜ). Nationale Anmeldungen, selbst für dasselbe Hoheitsgebiet, wurden dem Stand der Technik nicht zugerechnet (Art. 54 (3) in Verbindung mit Art. 139 (2) EPÜ), und die neuheitsschädliche Wirkung galt nur für die in beiden Anmeldungen benannten Staaten (Art. 54 (4) EPÜ). Der Unterschied zwischen den beiden Ansätzen mag seinen Ursprung in verschiedenen Patentphilosophien haben, bei denen die Interessen des früheren und des späteren Anmelders, ihrer Wettbewerber und der Öffentlichkeit unterschiedlich bewertet werden (van Empel, siehe oben, Rdn. 100), die abschließende Entscheidung zugunsten des oben beschriebenen "whole contents approach" beruhte jedoch auf zwei praktischen Überlegungen: Erstens verzögert der "prior claim approach" die Prüfung der späteren Anmeldung ganz erheblich, weil er erst angewendet werden kann, wenn über die endgültige Fassung der Ansprüche der früheren Anmeldung entschieden ist. Man war der Auffassung, daß dies eine unerträgliche Spanne der Ungewißheit mit sich brächte, insbesondere in einem System der aufgeschobenen Prüfung, wie es auf der Luxemburger Regierungskonferenz diskutiert wurde (Pfanner, siehe oben, S. 251). Zweitens war das EPA nicht dafür zuständig, den Schutzbereich des Patents zu beurteilen, denn dieser mußte nach dem "prior claim approach" zum Zwecke des Vergleichs mit der späteren Anmeldung gemäß dem jeweils geltenden nationalen Recht bestimmt werden. Aus diesen Gründen erachtete man den "prior claim approach" als ungeeignet für das europäische Patentsystem. Andererseits hielt man den "whole contents approach" in seiner traditionellen Form für zu strikt und schränkte ihn wie oben dargelegt ein. Insbesondere Artikel 56 Satz 2 EPÜ, dem zufolge kollidierende Anmeldungen lediglich bei der Neuheitsprüfung eine Rolle spielen, diente dazu, eine akzeptable Lösung für das Problem der Selbstkollision zu finden, da der Gesetzgeber keinen Unterschied zwischen der Kollision mit Anmeldungen Dritter und der Selbstkollision machen wollte (van Empel, siehe oben, Rdn. 105 f.).
Alles in allem kann man nicht behaupten, daß das Endergebnis die "Grundphilosophie" des "whole contents approach" verwirklicht, wonach nichts patentiert wird, was dem Patentamt bereits offenbart wurde. Ganz im Gegenteil geht aus Artikel 54 (4) EPÜ, der die Wirkung einer früheren Anmeldung auf die in beiden Anmeldungen benannten Staaten beschränkt, klar hervor, daß eine Doppelpatentierung vermieden werden soll. Das wird durch die erläuternden Bemerkungen zum EPÜ bestätigt, die von den Niederlanden als Musterbegründung für die Regierungen bei der Ratifizierung des EPÜ vorbereitet worden waren (Dokument des Rats der Europäischen Gemeinschaften R/1181/74 (ECO 146/BC 32)). Darin wird erläutert, daß die fiktive Erweiterung des Stands der Technik auf frühere Anmeldungen in Artikel 54 (3) EPÜ der Vermeidung eines Doppelschutzes dient. Dies ist bei der Frage, wie der Konflikt zwischen zwei gleichzeitig anhängigen Anmeldungen in der Praxis gelöst werden kann, zu berücksichtigen.
Artikel 54 (3) EPÜ bewirkt, daß bei Einreichung zweier dieselbe Erfindung betreffender Anmeldungen das Recht auf das Patent dem früheren Anmelder zusteht. Damit wird das in Artikel 60 (2) EPÜ verankerte Erstanmelderprinzip umgesetzt. Die Situation ist klar, wenn es sich um zwei identische Anmeldungen handelt. Gibt es jedoch eine Überlappung und umfaßt die spätere Anmeldung einen nicht unter die Offenbarung der früheren Anmeldung fallenden Gegenstand, so ist die frühere Anmeldung nicht für die gesamte spätere Anmeldung neuheitsschädlich. In diesem Fall stellt sich die Frage, ob es gerechtfertigt ist, der früheren Anmeldung eine Wirkung zuzuerkennen, die über die in Artikel 54 (3) und (4) und Artikel 56 Satz 2 EPÜ vorgesehene hinausgeht. Aus den vorstehenden rechtsgeschichtlichen Erläuterungen wird klar, daß der Gesetzgeber die Wirkung der früheren Anmeldung so weit wie möglich beschränken wollte, um Ungerechtigkeiten zu vermeiden, die sich aus dem Konzept einer fiktiven Veröffentlichung ergeben würden. Die Abgrenzung gegenüber einer früheren Anmeldung war unter dem "prior claim approach" eine traditionelle und gängige Praxis (Banks Report, siehe oben, Rdn. 308). Das Ergebnis der Prüfung der früheren Anmeldung war entscheidend dafür, was als Gegenstand der späteren Anmeldung übrigblieb, und zur Definition dieses Restteils war es zulässig, für den durch die frühere Anmeldung geschützten Gegenstand einen Disclaimer in die ursprünglichen Ansprüche der späteren Anmeldung aufzunehmen (DPA, 9. Beschwerdesenat, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 1956, 237, zur ständigen Praxis des Reichspatentamts). Es darf angenommen werden, daß der hochkontroverse "whole contents approach", wie oben dargelegt, in den vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ keine Zustimmung gefunden hätte, wenn vorgeschlagen worden wäre, nicht nur den bei der Neuheitsprüfung zu berücksichtigenden Stand der Technik durch eine Rechtsfiktion zu erweitern, sondern außerdem die Praxis der Abgrenzung gegenüber früheren Anmeldungen abzuschaffen. Die Tatsache, daß van Empel von der Abgrenzung zwischen kollidierenden Anmeldungen auf der Grundlage des Neuheitskriteriums spricht (siehe oben, Rdn. 108), dürfte das allgemeine Denken zur Zeit der Abfassung des EPÜ widerspiegeln.
2.1.2 In G 1/93 (siehe oben, Nr.16 der Entscheidungsgründe) wird unterschieden zwischen Merkmalen, die einen technischen Beitrag leisten, und solchen, die lediglich den Schutz durch das Patent einschränken, indem sie den Schutz für einen Teil des Gegenstands ausschließen. In T 323/97 (siehe oben, Nr. 2.3 der Entscheidungsgründe) versuchte die Kammer, aus G 2/98 herzuleiten, daß eine solche Unterscheidung nicht mehr möglich sei. Diese Schlußfolgerung steht jedoch eindeutig im Widerspruch zu dem, was die Große Beschwerdekammer in ihrer Entscheidung gesagt hat; es heißt dort ausdrücklich, daß der in G 1/93 behandelte bloße Ausschluß vom Erfindungsschutz ein völlig anderer rechtlicher Sachverhalt ist als die Frage, ob die spezifische Kombination aller technischen Merkmale in einem Anspruch zu berücksichtigen ist, um zu beurteilen, ob die frühere und die die Priorität beanspruchende Anmeldung ein und dieselbe Erfindung betreffen (siehe oben, Nr. 10 der Entscheidungsgründe). Somit kann G 2/98 nicht als Argument gegen die Zulassung von Disclaimern herangezogen werden, die den beanspruchten Gegenstand beschränken, ohne die technische Lehre in der Anmeldung zu ändern.
2.1.3 Für die Auslegung des Artikels 123 (2) EPÜ läßt sich aus dem Vorstehenden (Nr. 2.1.1) folgern, daß ein eine kollidierende Anmeldung ausschließender Disclaimer lediglich dazu dient, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß das Recht auf das Patent für verschiedene Aspekte eines erfinderischen Gegenstands verschiedenen Anmeldern zusteht, und nicht dazu, die gegebene technische Lehre zu ändern. Der Disclaimer spaltet die Gesamterfindung in zwei Teile: für den identischen Teil wahrt er die Rechte des früheren Anmelders, für den restlichen Teil, der in der späteren Anmeldung erstmals offenbart wird, sichert er dem späteren Anmelder das Schutzrecht. Dieser Ansatz beschränkt die Wirkung des Artikels 54 (3) EPÜ auf die Lösung des Problems der Doppelpatentierung.
Ein solcher Disclaimer, der einen Gegenstand lediglich aus rechtlichen Gründen ausschließt, ist erforderlich, um Artikel 54 (3) umzusetzen, und hat keine Auswirkung auf die in der Anmeldung enthaltenen technischen Informationen. Er verstößt somit nicht gegen Artikel 123 (2) EPÜ. In diesem Sinne angewandt, hat der Begriff des Disclaimers auch in der wörtlichen (englischen) Bedeutung seine Berechtigung. Die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung offenbart eine Erfindung mit mehreren spezifischen Ausführungsformen oder Gruppen solcher Ausführungsformen, von denen später ein Teil aus dem Schutzbegehren ausgeklammert, d. h. nicht mehr beansprucht wird. Der verbleibende Gegenstand wird durch den Disclaimer nicht verändert.
2.2 Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ
Zufällige Vorwegnahme
Frage 2 d) der Vorlageentscheidung T 507/99 betrifft das Problem, ob ein Disclaimer im Falle einer zufälligen Vorwegnahme zulässig ist.
2.2.1 Das Konzept der zufälligen Vorwegnahme ist - ausgehend von der Prämisse, daß es nur um die Neuheit geht - mit der bereits erörterten Sachlage bei kollidierenden Anmeldungen vergleichbar. Auch im Falle einer zufälligen Vorwegnahme dient der Ausschluß des unerheblichen Stands der Technik nicht dazu, zum erfinderischen Charakter der gegebenen technischen Lehre beizutragen. Zufällige Vorwegnahmen gibt es am häufigsten in den Bereichen der Chemie und der Biotechnologie, aber nicht nur dort. Eine typische Situation ist die folgende: Die beanspruchte Erfindung betrifft eine große Gruppe chemischer Verbindungen mit bestimmten Eigenschaften, die für einen konkreten Verwendungszweck vorteilhaft sind. Es stellt sich heraus, daß eine Einzelverbindung aus der Gruppe für einen völlig anderen Verwendungszweck bekannt ist und daher nur Eigenschaften bekannt sind, die für den neuen Verwendungszweck gänzlich irrelevant sind. In solchen Situationen wird es als ungerecht empfunden, wenn diese Einzelverbindung zum Patentierungshindernis für die gesamte Gruppe wird, weil sich in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keine Stütze für eine einschränkende Änderung findet, mit der die bekannte Verbindung ausgeschlossen werden kann. Recht häufig ist ein Verwendungsanspruch ein möglicher Ausweg. Verwendungsansprüche stellen jedoch eine gegenüber Erzeugnisansprüchen begrenztere Form des Schutzes dar und können auf dem Gebiet der Pharmazie nach Artikel 52 (4) EPÜ sogar ausgeschlossen sein.
2.2.2 In der Rechtsprechung finden sich unterschiedliche Definitionen für eine zufällige Vorwegnahme (siehe die Vorlageentscheidungen T 507/99, Nr. 7.3 der Entscheidungsgründe, und T 451/99, Nr. 11 ff. der Entscheidungsgründe). Häufig angeführt werden die Entscheidungen T 608/96 vom 11. Juli 2000 und T 1071/97 vom 17. August 2000 (beide in Rechtsprechung der Beschwerdekammern, siehe oben, I.C.2.11 und III.A.1.6.3). Diese besagen in ähnlicher Weise, daß eine Offenbarung dann "zufällig neuheitsschädlich" ist, wenn sie der Fachmann, der mit der der Anmeldung zugrundeliegenden Aufgabe konfrontiert ist, nicht in Betracht ziehen würde, weil diese Entgegenhaltung entweder einem weitab liegenden Fachgebiet zuzuordnen ist oder ihrem Gegenstand nach nicht zur Lösung der Aufgabe beitragen würde. Laut diesen Entscheidungen muß die Offenbarung also für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit ohne jede Bedeutung sein. Die einzelnen Elemente dieser wie auch anderer Versuche, eine angemessene Definition zu finden, können nicht isoliert betrachtet werden. Die Tatsache, daß das Fachgebiet weitab liegt oder nicht verwandt ist, kann zwar wichtig sein, ist aber nicht entscheidend, weil Fälle denkbar sind, in denen der Fachmann auch Dokumente aus einem weitab liegenden Fachgebiet konsultieren würde. Noch weniger entscheidend - als isoliertes Element - ist das Fehlen einer gemeinsamen Aufgabe, denn je fortgeschrittener eine Technologie ist, um so spezifischer kann die Aufgabe formuliert sein, die durch eine Erfindung auf diesem Gebiet zu lösen ist. Es kann nämlich sein, daß ein und dasselbe Erzeugnis zahlreiche Anforderungen erfüllen muß, um ausgewogene Eigenschaften aufzuweisen, die es für die Industrie interessant machen. Dementsprechend lassen sich für seine Weiterentwicklung viele Aufgaben definieren, die mit seinen verschiedenen Eigenschaften zusammenhängen. Der Fachmann, der gezielt versucht, eine Eigenschaft zu verbessern, kann andere bekannte Anforderungen nicht außer acht lassen. Eine "andere Aufgabe" muß also nicht zwangsläufig eine Aufgabe aus einem anderen Fachgebiet sein. Ausschlaggebend ist vielmehr, daß die fragliche Offenbarung aus technischer Sicht so unerheblich und weitab liegend sein muß, daß der Fachmann sie bei der Arbeit an der Erfindung nicht berücksichtigt hätte (in diesem Sinne: T 608/96, siehe oben, Nr. 6 der Entscheidungsgründe, zitiert in der Vorlageentscheidung T 507/99, Nr. 7.3.1 der Entscheidungsgründe). Dies ist ohne Berücksichtigung des sonstigen verfügbaren Stands der Technik zu ermitteln, denn ein Dokument, zu dem ein Bezug besteht, wird nicht schon dadurch zu einer zufälligen Vorwegnahme, daß es andere Offenbarungen mit noch engerem Bezug gibt. So reicht es zur Geltendmachung einer zufälligen Vorwegnahme insbesondere nicht aus, daß ein Dokument nicht als nächstliegender Stand der Technik angesehen wird (siehe jedoch T 170/87, ABl. EPA 1989, 441, Nr. 8.4.2 der Entscheidungsgründe).
Die zufällige Vorwegnahme im oben beschriebenen Sinn entspricht nicht nur der wörtlichen Bedeutung des Begriffs, sondern beschränkt Disclaimer zudem auf Situationen, in denen sie ebenso gerechtfertigt sind wie im Falle kollidierender Anmeldungen, für die die Zulässigkeit von Disclaimern oben bejaht wurde. Bei zufälligen Vorwegnahmen besteht für Disclaimer ein offenkundiges Bedürfnis; dieses hat in der Vergangenheit zu einer einheitlichen Praxis geführt, die vor T 323/97 nie in Frage gestellt wurde. Zudem enthält Artikel 52 (1) EPÜ den allgemeinen Grundsatz, daß Erfindungen, die die materiellen Patentierbarkeitserfordernisse erfüllen, zu patentieren sind (G 5/83, ABl. EPA 1985, 64, Nr. 21 der Entscheidungsgründe). Dies ist bei der Auslegung von Formalerfordernissen zu berücksichtigen, zumindest insoweit, als der Zweck des jeweiligen Erfordernisses nicht unterlaufen wird.
Probleme bei der Beurteilung der Frage, ob Beschränkungen in den Ansprüchen zulässig sind, ergeben sich aus der Anwendung der Regeln zur Bestimmung des Offenbarungsgehalts auf allgemeine Konzepte. Nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern offenbart die Beschreibung einer allgemeinen Idee keine in diesen allgemein beschriebenen Bereich fallenden spezifischen Ausführungsformen. Das ergibt sich grundsätzlich aus der Prämisse, daß eine spezifische Lehre nicht eindeutig und unmittelbar aus einer allgemeinen Lehre ableitbar ist. Gleiches gilt für chemische Formeln und die darunter fallenden Einzelverbindungen sowie für Wertebereiche und die einzelnen Werte innerhalb der definierten Grenzen. Dieser Ansatz ermöglicht den Schutz von Auswahlerfindungen auf der Grundlage wertvoller technischer Beiträge in einem bekannten Bereich. Dagegen erlaubt er es nicht, spezifische Ausführungsformen, die zwar unter die allgemeine Idee der Anmeldung in der ursprünglich offenbarten Fassung fallen, aber nicht offenbart sind, als Grundlage für eine einschränkende Änderung heranzuziehen.
Es trifft zu, daß das europäische Patentsystem in sich geschlossen sein muß und für die Zwecke der Artikel 54, 87 und 123 EPÜ dasselbe Offenbarungskonzept zugrundezulegen ist. Das beantwortet jedoch noch nicht die Frage, was als die Erfindung offenbarende technische Information anzusehen ist. Im Falle einer zufälligen Vorwegnahme geht aus deren Definition (siehe oben) klar hervor, daß sie nichts mit der Lehre der beanspruchten Erfindung zu tun hat, da sie für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit nicht relevant sein kann. Daher kann davon ausgegangen werden, daß ein Disclaimer, der lediglich den Gegenstand einer zufälligen Vorwegnahme ausschließt, nicht die in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung enthaltene technische Information und mithin auch nicht den Gegenstand der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ verändert.
2.3 Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ
Vorwegnahmen, die nicht zufällig sind
2.3.1 In den meisten Stellungnahmen Dritter wird vorgebracht, daß in bezug auf die Zulässigkeit eines Disclaimers nicht zwischen verschiedenen Arten des auszuklammernden Stands der Technik unterschieden werden sollte. Ein Disclaimer sollte nicht nur bei kollidierenden Anmeldungen und zufälligen Vorwegnahmen gerechtfertigt sein, sondern auch bei "normalen" Neuheitseinwänden nach Artikel 54 (2) EPÜ. Es wird für ausreichend erachtet, den Disclaimer bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit außer acht zu lassen, damit der Anmelder durch ihn keinen ungerechtfertigten Vorteil erlangt.
2.3.2 Nach diesem Ansatz wären zwei verschiedene Erfindungen zu prüfen, nämlich bei der Neuheitsprüfung die enger gefaßte unter Einschluß des Disclaimers und bei der Prüfung der erfinderischen Tätigkeit die breiter gefaßte ohne den Disclaimer. Ein solcher Ansatz ist im EPÜ nicht vorgesehen. Zu prüfen ist die Erfindung in der beanspruchten Form. Erfüllt der beanspruchte Gegenstand die Erfordernisse des EPÜ, so ist ein Patent zu erteilen.
2.3.3 Die uneingeschränkte Zulassung von Disclaimern könnte unerwünschte Auswirkungen auf das Anmelderverhalten haben und dazu führen, daß Anmeldungen anders abgefaßt werden als bisher üblich. Derzeit setzen sich die Anmelder mit dem ihnen bekannten Stand der Technik auseinander (siehe Regel 27 (1) b) EPÜ) und versuchen, ihre Erfindung davon abzugrenzen. Für jeden weiteren Stand der Technik, von dem sie keine Kenntnis haben, formulieren sie Auffangpositionen für bevorzugte (oder weiter bevorzugte) Ausführungsformen. In dieser Hinsicht ist die Beschreibung der Erfindung in der Patentschrift etwa einer Zwiebel mit mehreren Häuten vergleichbar, bei der ersichtlich wird, wo sich der Kern der Erfindung befindet. Funktion und Wechselwirkung der technischen Merkmale lassen sich ebenfalls anhand eines Vergleichs mit dem Stand der Technik erklären. Wäre es den Anmeldern erlaubt, solange zu warten, bis sich der Stand der Technik durch Recherche und Sachprüfung herauskristallisiert hat, und dann in der Prüfungsphase alle notwendigen Konsequenzen zu ziehen, so könnten sie das Patent genau auf den im Verfahren vor dem EPA ermittelten Stand der Technik zuschneiden. Dadurch würde die Forderung, daß von Anfang an vorsorglich eine detaillierte Beschreibung vorliegen muß, an Bedeutung verlieren und die Relevanz des Neuheitserfordernisses zur Begründung eines gewissen Unterschieds zwischen Bekanntem und Patentierbarem verblassen. Das letztere Argument wäre um so bedeutsamer, wenn eine durch eine neue chemische Verbindung erzielte vorteilhafte Wirkung nicht als Teil der Erfindung gelten würde, sondern nach dem Anmeldetag in einem beliebigen Verfahrensstadium offenbart werden könnte (BGH GRUR 1972, 541 - "Imidazoline"; Schulte, 6. Aufl. 2001, § 1 PatG, Rdn. 282 zur deutschen Praxis und Rdn. 283 zur abweichenden EPA-Praxis, nach der die technische Aufgabe aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ableitbar sein muß (T 13/84, ABl. EPA 1986, 253, Nr. 11 der Entscheidungsgründe)). In diesem Fall könnte der Anmelder eine breite Klasse von Verbindungen mit noch unbekannten Eigenschaften beanspruchen, diejenigen durch Disclaimer ausnehmen, die sich als bekannt erweisen, und die verbleibenden auf vorteilhafte Eigenschaften testen, um seine Begründung des erfinderischen Charakters darauf zu stützen.
2.3.4 Es mag stimmen, daß es im praktischen Ergebnis keinen großen Unterschied macht, ob man das Konzept der zufälligen Vorwegnahme anwendet oder bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit den Disclaimer außer acht läßt. Der Ausgangspunkt ist aber ein anderer. Gilt eine Vorwegnahme als zufällig, so heißt das, es ist von Anfang an offenkundig, daß sie nichts mit der Erfindung zu tun hat. Nur wenn das feststeht, kann der Disclaimer zulässig sein.
2.4 Ausnahmen von der Patentierbarkeit
2.4.1 Die Vorschriften über patentfähige Erfindungen enthalten mehrere Ausnahmen von der Patentierbarkeit. Beispiele dafür sind in Artikel 52 (4) EPÜ Verfahren zur medizinischen Behandlung und in Artikel 53 a) EPÜ Erfindungen, deren Verwendung gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde. In solchen Fällen kann es vorkommen, daß ein allgemeiner Anspruch Ausführungsformen beinhaltet, die vom Patentschutz ausgenommen sind, während der Rest patentierbar ist. Praktische Beispiele für Artikel 53 a) EPÜ ergeben sich aus der Tatsache, daß am Menschen nicht alles vorgenommen werden darf, was an anderen Lebewesen vorgenommen werden darf. So kann z. B. die wirtschaftlich motivierte Vermeidung von Nachkommenschaft, die aufgrund bestimmter Eigenschaften (Geschlecht, Farbe, Gesundheitszustand) unerwünscht ist, bei Haustieren durchaus legitim sein, während sie auf Menschen angewendet gegen die öffentliche Ordnung oder die guten Sitten verstoßen würde. Angenommen, die Anmeldung enthält eine breite, auf Säuger im allgemeinen anwendbare Lehre, wobei Rinder als besondere Ausführungsart genannt sind, und die Ansprüche sind auf die Behandlung von Säugern gerichtet, dann könnte sich ein Disclaimer, der erforderlich ist, um durch einen Ausschluß von Menschen dem Artikel 53 a) EPÜ Genüge zu tun, nicht auf den ursprünglichen Wortlaut der Anmeldung stützen, auf deren Grundlage nur eine weiterreichende Beschränkung auf Rinder möglich wäre. Der Disclaimer "nichtmenschlich" in bezug auf Lebewesen hat aber nichts mit der technischen Lehre der Anmeldung zu tun, sondern schließt lediglich Lebewesen aus, auf die diese Lehre, obwohl theoretisch möglich, ohnehin nie hätte angewendet werden sollen. Ähnliche Situationen ergeben sich bei Anmeldungen, die die Tötung von Tieren betreffen.
2.4.2 Gegenstände können nach Artikel 57 EPÜ auch aus nichttechnischen Gründen von der Patentierbarkeit ausgeschlossen werden. Wenn z. B. ein Verfahren zur Empfängnisverhütung beansprucht wird, kann es als nicht gewerblich anwendbar anzusehen sein, wenn es nur im privaten Bereich eines Menschen anzuwenden ist (T 74/93, ABl. EPA 1995, 712), wohingegen die Anwendung bei Haustieren, etwa zu Züchtungszwecken, patentierbar ist. Der Präsident des EPA verwies in seinen Äußerungen auch auf Artikel 53 b) EPÜ und die EU-Richtlinie 98/44/EG vom 6. Juli 1998 über den rechtlichen Schutz biotechnologischer Erfindungen (ABl. EPA 1999, 101) und betonte, daß ein Anmelder in der Lage sein müsse, angemessen zu reagieren, wenn sich das materielle Patentrecht während der Anhängigkeit seiner Anmeldung ändert.
2.4.3 Noch wichtiger ist die Tatsache, daß die Erfordernisse der ausreichenden Offenbarung nicht isoliert für ein einziges Patentsystem betrachtet werden können. Ein Anmelder, der im Ausland Patentschutz erlangen will, muß die Erfordernisse der ausreichenden Offenbarung schon bei der Abfassung der ersten Anmeldung erfüllen, die für spätere Anmeldungen in anderen Ländern prioritätsbegründend ist (siehe Nr. 4). In diesem Stadium kann er schwerlich wissen, welche Ausschlußbestimmungen in all den Staaten gelten, in denen er das Prioritätsrecht in Anspruch nehmen kann. Die gleiche Situation liegt vor, wenn eine internationale Anmeldung nach dem PCT eingereicht wird, die in den über 120 Vertragsstaaten dieselbe Wirkung hat wie eine nationale Anmeldung. In beiden Fällen kann vom Anmelder nicht erwartet werden, daß er sich vor der Einreichung einer Anmeldung mit dem materiellen Patentrecht aller in Frage kommenden Staaten vertraut macht und geeignete Beschränkungen in seine Anmeldung aufnimmt, um später allen in den jeweiligen Staaten geltenden Ausnahmen Rechnung tragen zu können. Eine Ausdehnung des Erfordernisses der ausreichenden Offenbarung auf Beschränkungen, die lediglich nicht patentfähige Gegenstände ausklammern, würde die seit langem bestehenden Systeme für die Erlangung von Patentschutz in einem internationalen Rahmen gravierend beeinträchtigen.
2.5 Nichtfunktionsfähige Ausführungsformen
2.5.1 Ausgehend von der Prämisse, daß ein Disclaimer immer lediglich ein Verzicht auf einen Teil der Erfindung ist, wurde in einigen Stellungnahmen folgerichtig der Standpunkt vertreten, daß ein Disclaimer für jeden beliebigen Zweck verwendet werden kann, also auch für den Ausschluß nichtfunktionsfähiger Ausführungsformen. Verwiesen wird dabei auf T 170/87 (siehe oben, Nr. 8.4 der Entscheidungsgründe mit Bezug auf T 313/86 vom 12. Januar 1988, nicht im ABl. EPA veröffentlicht).
2.5.2 In diesem Fall sind Disclaimer jedoch nicht zuzulassen. Umfaßt ein Anspruch nichtfunktionsfähige Ausführungsformen, so kann das je nach den Umständen unterschiedliche Folgen haben.
Gibt es eine Vielzahl denkbarer Alternativen und enthält die Patentschrift ausreichende Angaben zu den relevanten Kriterien, anhand deren mit vertretbarem Aufwand geeignete Alternativen aus dem beanspruchten Bereich ausgewählt werden können, so ist der Einschluß nichtfunktionsfähiger Ausführungsformen unschädlich (T 238/88, ABl. EPA 1992, 709; T 292/85, ABl. EPA 1989, 275; T 301/87, ABl. EPA 1990, 335). Ein Disclaimer ist daher weder notwendig noch angebracht.
Ist das nicht der Fall und ist die beanspruchte Erfindung nicht wiederholbar, so kann dies für die Erfordernisse der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant werden. Ist eine Wirkung im Anspruch definiert, so liegt eine unzureichende Offenbarung vor. Wird hingegen die Wirkung nicht im Anspruch definiert, ist aber Teil der zu lösenden Aufgabe, so besteht ein Problem bezüglich der erfinderischen Tätigkeit (T 939/92, ABl. EPA 1996, 309). In bezug auf letzteren Fall herrscht in den Stellungnahmen der Dritten Einigkeit darüber, daß der Disclaimer nicht zur Begründung des erfinderischen Charakters beitragen kann.
2.5.3 Dasselbe muß im Hinblick auf die ausreichende Offenbarung gelten. Bei der Einreichung einer Patentanmeldung muß der Erfindungsprozeß abgeschlossen sein. Das Erfordernis der ausreichenden Offenbarung stellt sicher, daß ein Patent nur erteilt wird, wenn die Erfindung einen entsprechenden Beitrag zum Stand der Technik leistet. Dieser liegt nicht vor, solange der Fachmann nicht in der Lage ist, die Erfindung auszuführen. Der maßgebliche Zeitpunkt für die Erfüllung dieses Erfordernisses muß daher der Anmelde- bzw. der Prioritätstag sein. Diesbezügliche Mängel können nicht im Laufe des Verfahrens vor dem EPA geheilt werden. Den isolierten Entscheidungen T 170/87 und T 313/86 (siehe oben) ist also nicht zu folgen.
2.6 Disclaimer, die einen technischen Beitrag leisten
Bei der Definition der Situationen, in denen ein Disclaimer, wie unter 2.1, 2.2 und 2.4 beschrieben, zur Ausräumung eines Einwands zugelassen werden kann, wurde sorgfältig darauf geachtet, daß die Rechtfertigung für den Disclaimer nicht mit der erfindungsgemäßen Lehre in Zusammenhang steht.
2.6.1 Das gilt insbesondere für die Definition der zufälligen Vorwegnahme. Dennoch ist nicht mit absoluter Sicherheit auszuschließen, daß sich eine Beschränkung durch einen Disclaimer später doch als technisch relevant erweist (T 323/97, siehe oben, Nr. 3 der Entscheidungsgründe). Für jede in einen Anspruch aufgenommene Beschränkung kann sich bei der praktischen Ausführung der Erfindung herausstellen, daß die Beschränkung entgegen dem, was der Fachmann aufgrund der Angaben in der Anmeldung erwartet hätte, für die angestrebte Wirkung entscheidend und für die Zuerkennung einer erfinderischen Tätigkeit oder für die ausreichende Offenbarung relevant ist. Ein solcher Zufall (von Gehring in Welche Zukunft hat der Disclaimer?, Mitteilungen der deutschen Patentanwälte 2003, 197, S. 202 als "eher theoretisch" bezeichnet) könnte zu dem Schluß führen, daß der Disclaimer kein reiner Disclaimer im Sinne der vorliegenden Entscheidung ist, sondern zur technischen Lehre beiträgt und die Erfindung im Sinne des Artikels 123 (2) EPÜ erweitert. Der Disclaimer müßte dann im nachhinein für unzulässig befunden werden.
Aus dem oben Gesagten ergibt sich, daß die in den Fragen 2 d) und e) der Vorlageentscheidung T 507/99 genannten Ansätze nicht, wie von der vorlegenden Kammer angedeutet, als Alternativen für die Beurteilung der Frage verstanden werden können, ob Disclaimer im Falle zufälliger Vorwegnahmen zulässig sind. Vielmehr ist als erstes der zufällige Charakter der Vorwegnahme festzustellen. Ist dieses Erfordernis erfüllt, so kann die Zulässigkeit des Disclaimers immer noch in Frage gestellt werden, wenn sich die Beschränkung als relevant für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder die ausreichende Offenbarung erweist. Würde man hingegen nicht zwischen zufälliger Vorwegnahme und sonstigen Neuheitseinwänden unterscheiden, wäre das Vorgehen umgekehrt: der Disclaimer gälte stets als zulässig, und nur wenn vom EPA oder von einem Wettbewerber im Einspruchs- oder Nichtigkeitsverfahren begründet würde, daß der ausgeklammerte Teil nicht erfinderisch ist, käme es zur Zurückweisung der Anmeldung bzw. zum Widerruf des Patents. Mit dem Übereinkommen in Einklang steht nur der Ansatz, dem zufolge Disclaimer ausschließlich Beschränkungen sein können, die keinen Beitrag zur Erfindung leisten, und dessen maßgebendes Kriterium mithin nicht aus Artikel 56 EPÜ, sondern aus Artikel 123 (2) EPÜ abgeleitet wird.
2.6.2 Der Grundsatz, wonach eine nicht offenbarte Beschränkung, um zulässig zu sein, ein reiner Disclaimer im oben beschriebenen Sinn sein muß, bietet auch eine Lösung für den Fall, daß es zwei Vorwegnahmen gibt, nämlich einen Stand der Technik nach Artikel 54 (3) EPÜ und einen weiteren nach Artikel 54 (2) EPÜ. Die besondere Beziehung zwischen kollidierenden Anmeldungen ist im Verhältnis zu einem vorveröffentlichten Stand der Technik nicht gegeben. Die beanspruchte Erfindung in der ursprünglich offenbarten Fassung muß die Erfordernisse des Artikels 54 (2) EPÜ erfüllen, und ein Disclaimer, der nur auf der Grundlage der kollidierenden Anmeldung zulässig wäre, kann die Erfindung nicht neu oder erfinderisch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ machen, außer wenn es sich um eine zufällige Vorwegnahme handelt und es lediglich um die Neuheit geht. Ebensowenig kann ein auf einer kollidierenden Anmeldung basierender Disclaimer zur Beseitigung eines Mangels nach Artikel 83 EPÜ genutzt werden, der ohne die Beschränkung bestünde.
2.6.3 Ähnliches gilt, wenn ein Neuheitseinwand nach Artikel 54 (3) EPÜ zu einer Vorwegnahme im Sinne von Artikel 54 (2) EPÜ wird, weil sich herausstellt, daß der streitigen Anmeldung das beanspruchte Prioritätsrecht gar nicht zukommt, weil es entweder von vornherein unwirksam war oder wegen einer zusätzlich zum Disclaimer vorgenommenen Änderung, die in der Prioritätsanmeldung nicht offenbart war, verloren ging. In dieser Situation ist der Disclaimer nicht mehr gerechtfertigt, wenn sich herausstellt, daß die Anmeldung das Prioritätsrecht nicht in Anspruch nehmen kann.
2.6.4 Zur Klarstellung ist zu betonen, daß auch ein Disclaimer, der einen nicht patentfähigen Gegenstand ausschließt, keinen Beitrag zur Erfindung leisten darf, wenngleich eine solche Situation kaum vorstellbar ist.
2.6.5 Aus dem Vorstehenden ergibt sich, daß ein Disclaimer nur zu dem jeweils beabsichtigten Zweck und zu nichts anderem eingesetzt werden darf. Bei kollidierenden Anmeldungen besteht sein Zweck darin, die Neuheit gegenüber einer früheren Anmeldung im Sinne von Artikel 54 (3) EPÜ herzustellen.
Bei einem Stand der Technik nach Artikel 54 (2) EPÜ dient er dem Zweck, die Neuheit gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme in dem in dieser Entscheidung definierten Sinn herzustellen. Ein Disclaimer, der einen nicht patentfähigen Gegenstand ausschließt, darf nur dazu dienen, das konkrete rechtliche Hindernis zu beseitigen. Hat ein Disclaimer Wirkungen, die über den hier genannten Zweck hinausgehen, so ist oder wird er unzulässig.
3. Formulierung von Disclaimern
Nachdem geklärt ist, in welchen Situationen ein Disclaimer zulässig sein kann, bleibt noch Frage 2 b) der Entscheidung T 507/99 zu beantworten, nämlich wie ein durch einen Stand der Technik bedingter Disclaimer formuliert werden soll. Dazu wurden in den Stellungnahmen unterschiedliche Standpunkte vertreten, die stark divergierten. Das eine Extrem bildete die Auffassung, daß es keine Beschränkungen für die Abfassung von Disclaimern geben sollte. Dies entspricht dem Argument, daß ein Disclaimer lediglich einen Verzicht auf einen Teil der Erfindung darstellt und somit nicht unter Artikel 123 (2) EPÜ fällt. Das andere Extrem bestand in der Auffassung, daß der Disclaimer eindeutig und unmittelbar aus der Vorwegnahme herleitbar sein müsse. Das entspricht wiederum dem Argument, daß ein Disclaimer eine Stütze braucht, die allerdings nicht in der ursprünglichen Offenbarung allein, sondern auch in der Würdigung des Stands der Technik zu finden sein kann.
Bei der Frage, wie ein nicht offenbarter Disclaimer, der eine Vorwegnahme ausschließt, richtig zu formulieren ist, gilt es zu beachten, daß solche Disclaimer nach den obigen Ausführungen auf Sachverhalte begrenzt sind, in denen sie keinen Beitrag zur technischen Lehre des beanspruchten Gegenstands leisten. Das bedeutet, daß ein zulässiger Disclaimer lediglich den beantragten Patentschutz einschränkt und nicht in den Geltungsbereich des Artikels 123 (2) EPÜ fällt, dem zufolge der Gegenstand einer Patentanmeldung nicht über den Inhalt der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung hinaus erweitert werden darf. Gerechtfertigt ist der Disclaimer jedoch nur, um eine neuheitsschädliche Offenbarung oder einen nicht patentfähigen Gegenstand auszuschließen. Die Tatsache, daß ein Disclaimer erforderlich ist, heißt nicht, daß der Anmelder seine Ansprüche willkürlich ändern darf. Der Disclaimer sollte daher nicht mehr ausklammern als notwendig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder den aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgenommenen Gegenstand auszuschließen.
Auf jeden Fall gelten die in Artikel 84 EPÜ verankerten die Erfordernisse der Klarheit und Knappheit auch für Ansprüche mit Disclaimern. Das bedeutet zum einen, daß ein Disclaimer nicht zulässig ist, wenn die erforderliche Beschränkung einfacher durch positive ursprünglich offenbarte Merkmale gemäß Regel 29 (1) Satz 1 EPÜ ausgedrückt werden kann. Die Aufnahme mehrerer Disclaimer kann zudem zu einer Anspruchsformulierung führen, die es der Öffentlichkeit unvertretbar schwer macht zu erfassen, was geschützt ist und was nicht. Wie bei anderen mit der Klarheit zusammenhängenden Problemen muß auch hier für Ausgewogenheit gesorgt werden zwischen dem Interesse des Anmelders, angemessenen Schutz zu erlangen, und dem der Öffentlichkeit, den Schutzumfang mit vertretbarem Aufwand bestimmen zu können. Wird ein Anspruch, der einen oder mehrere Disclaimer enthält, letzterem nicht gerecht, so ist er nicht gewährbar. Zum anderen kann das Verständnis eines Anspruchs dadurch erheblich erschwert werden, daß sich die strittige Anmeldung und die Vorwegnahme einer unterschiedlichen Terminologie bedienen und im Anspruch unterschiedliche, nicht vereinbare Begriffe verwendet werden. In diesem Fall kann Artikel 84 EPÜ es erforderlich machen, die Terminologie anzupassen, um das auszuschließen, was zur Wiederherstellung der Neuheit ausgeschlossen werden muß.
Im Interesse der Transparenz des Patents sollte aus der Patentschrift klar hervorgehen, daß und warum sie einen nicht offenbarten Disclaimer enthält. Der Disclaimer sollte nicht dadurch versteckt werden, daß man nicht offenbarte positive Merkmale verwendet, um den Unterschied zwischen dem ursprünglichen Anspruch und der Vorwegnahme zu definieren. Der ausgeklammerte Stand der Technik sollte in der Beschreibung gemäß Regel 27 (1) b) EPÜ angegeben und die Beziehung zwischen dem Stand der Technik und dem Disclaimer sollte aufgezeigt werden.
4. Disclaimer und Priorität
In der Stellungnahme G 2/98 (hinsichtlich ihrer Beziehung zu G 1/93 siehe Nrn. 2 und 2.1.2) heißt es, daß der Umfang des Prioritätsrechts sich danach bestimmt und zugleich auch darauf beschränkt, was in der früheren Anmeldung offenbart ist. Zur Vermeidung von Widersprüchen ist die Offenbarung als Grundlage für das Prioritätsrecht nach Artikel 87 (1) EPÜ genauso zu interpretieren wie als Grundlage für Änderungen in der Anmeldung nach Artikel 123 (2) EPÜ. Das bedeutet, daß ein Disclaimer, der - wie oben beschrieben - keinen technischen Beitrag leistet und während des europäischen Erteilungsverfahrens zugelassen wird, die Identität der Erfindung im Hinblick auf Artikel 87 (1) EPÜ nicht ändert. Daher ist seine Aufnahme auch bei der Abfassung und Einreichung einer europäischen Patentanmeldung zulässig, ohne daß dadurch das Prioritätsrecht aus der früheren Anmeldung berührt wird, die den Disclaimer nicht enthält.
5. Die Entscheidungsformel enthält die Antworten auf die mit T 507/99 und auch die mit T 451/99 vorgelegten Fragen.
Entscheidungsformel
Aus diesen Gründen wird entschieden:
Die der Großen Beschwerdekammer vorgelegten Rechtsfragen sind wie folgt zu beantworten:
1. Eine Änderung eines Anspruchs durch die Aufnahme eines Disclaimers kann nicht schon deshalb nach Artikel 123 (2) EPÜ zurückgewiesen werden, weil weder der Disclaimer noch der durch ihn aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossene Gegenstand aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung herleitbar ist.
2. Die Zulässigkeit eines in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht offenbarten Disclaimers ist nach folgenden Kriterien zu beurteilen:
2.1 Ein Disclaimer kann zulässig sein, wenn er dazu dient:
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einem Stand der Technik nach Artikel 54 (3) und (4) EPÜ abgrenzt;
- die Neuheit wiederherzustellen, indem er einen Anspruch gegenüber einer zufälligen Vorwegnahme nach Artikel 54 (2) EPÜ abgrenzt; eine Vorwegnahme ist zufällig, wenn sie so unerheblich für die beanspruchte Erfindung ist und so weitab von ihr liegt, daß der Fachmann sie bei der Erfindung nicht berücksichtigt hätte; und
- einen Gegenstand auszuklammern, der nach den Artikeln 52 bis 57 EPÜ aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
2.2 Ein Disclaimer sollte nicht mehr ausschließen, als nötig ist, um die Neuheit wiederherzustellen oder einen Gegenstand auszuklammern, der aus nichttechnischen Gründen vom Patentschutz ausgeschlossen ist.
2.3 Ein Disclaimer, der für die Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit oder der ausreichenden Offenbarung relevant ist oder wird, stellt eine nach Artikel 123 (2) EPÜ unzulässige Erweiterung dar.
2.4 Ein Anspruch, der einen Disclaimer enthält, muß die Erfordernisse der Klarheit und Knappheit nach Artikel 84 EPÜ erfüllen.
1 Die nachfolgend abgedruckte Entscheidung G 2/03 (ABl. EPA 2004, 448) entspricht in den Abschnitten "Leitsätze", "Sachverhalt und Anträge", "Entscheidungsgründe" und "Entscheidungsformel" der Entscheidung G 1/03.
2 Fundstelle in der Übersetzung hinzugefügt