4.3.8 Angeblich überraschende Entscheidungsbegründung
Unter "Gründe" im Sinne des Art. 113 (1) EPÜ werden die wesentlichen rechtlichen und tatsächlichen Gründe verstanden, auf denen eine Entscheidung beruht (s. Kapitel III.B.2.3.2 "Bedeutung von 'Gründe'").
Die Kammern sind zwar nicht verpflichtet, den Beteiligten im Voraus alle Entscheidungsgründe im Einzelnen darzulegen (s. dieses Kapitel V.B.4.3.5), doch verlangt Art. 113 (1) EPÜ, dass Entscheidungen nur auf Gründe gestützt werden, zu denen die Beteiligten sich äußern konnten. In R 3/13 stellte die Große Beschwerdekammer fest, dies impliziere, dass ein Beteiligter in der Entscheidungsbegründung nicht durch bisher unbekannte Gründe und Beweismittel überrascht werden darf (s. auch R 15/09, R 21/10).
In R 3/10, R 15/11 und R 16/13 wurde dem Überprüfungsantrag wegen einer überraschenden Begründung, zu der die Beteiligten sich nicht hatten äußern können, stattgegeben (s. dieses Kapitel V.B.4.3.19). Andererseits befand die Große Beschwerdekammer in R 19/11, dass keine Verletzung des rechtlichen Gehörs vorliegen kann, wenn eine Beschwerdekammer nach Anhörung aller Beteiligten im Inter-partes-Verfahren zu ihrer eigenen Schlussfolgerung gelangt, die dann in der schriftlichen Entscheidung festgehalten wird (s. auch R 15/12, R 16/13, R 10/17, R 7/18).
In R 6/18 befand die Große Beschwerdekammer, dass es nicht überraschend sei, wenn die Kammer bei der Entscheidung darüber, ob eine eindeutige Offenbarung der beanspruchten Erfindung vorliegt, nicht nur die vom Antragsteller genannte Passage im engeren Sinn betrachtet, sondern auch die direkt daran anschließenden Sätze. Die Beteiligten müssten sich darüber im Klaren sein, dass die Frage der unzulässigen Erweiterung generell nicht nur anhand isolierter Passagen der Beschreibung entschieden werden kann, sondern eine umfassendere Analyse der Anmeldungsunterlagen erfordert.
Mit Verweis auf R 8/13 vom 15. September 2015 date: 2015-09-15 erklärte die Große Beschwerdekammer in R 5/19, dass auch (lediglich) schriftliches Vorbringen welches eines Beteiligten berücksichtigt werden muss und dass das Beschwerdeverfahren hauptsächlich ein schriftliches Verfahren ist. Ein Antragsteller ist nicht verpflichtet, sein schriftliches Vorbringen in der mündlichen Verhandlung zu wiederholen, um dessen Berücksichtigung bei der Entscheidung sicherzustellen.