6.3. Heranziehen von Beschreibung und Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Viele Entscheidungen, die die Beschreibung und die Zeichnungen zur Auslegung der Ansprüche heranziehen, betreffen die Auslegung von relativen, mehrdeutigen oder unklaren Begriffen oder berufen sich auf die Beschreibung lediglich, um die nächstliegende Auslegung des Anspruchswortlauts zu bestätigen (z. B. T 23/86, ABl. 1987, 316; T 16/87, ABl. 1992, 212; T 50/90; T 952/90; T 439/92; T 458/96; T 717/98; T 556/02; T 1089/11; T 2145/13, T 694/20).
Die Kammern haben in mehreren Entscheidungen darauf hingewiesen, dass den in Patentdokumenten verwendeten Begriffen die im einschlägigen Stand der Technik übliche Bedeutung zu geben ist, sofern ihnen nicht in der Beschreibung ein besonderer Sinn zugewiesen wird (s. z. B. T 1321/04, T 25/15, T 1844/15). Nach ständiger Rechtsprechung kann ein Patentdokument nämlich sein eigenes Wörterbuch darstellen (s. z. B. T 311/93, T 523/00, T 1192/02, T 61/03, T 1321/04, T 620/08, T 2480/11, T 1817/14; s. auch dieses Kapitel II.A.6.3.5). Auf dieser Grundlage befand die Kammer in T 500/01, dass ein Anspruch, dessen Wortlaut mit einem Anspruch in der ursprünglich eingereichten Fassung im Wesentlichen identisch ist, trotzdem gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoßen kann, wenn er ein Merkmal enthält, dessen Definition in der Beschreibung in unzulässiger Weise geändert worden ist (s. auch II.E.1.14.4). Die Kammer in T 1360/13 entschied, dass jede Änderung in der Beschreibung oder in den Zeichnungen das Verständnis eines beanspruchten Merkmals beeinflussen kann, insbesondere wenn das Merkmal angesichts eines Dokuments des Stands der Technik oder eines angeblich verletzenden Erzeugnisses als mehrdeutig angesehen werden muss und somit zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen könnte. Jegliche in der Beschreibung und/oder den Zeichnungen eines Patents enthaltenen Informationen, die sich direkt auf ein Anspruchsmerkmal beziehen und dessen Auslegung potenziell einschränken, können nicht ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ aus der Patentschrift gestrichen werden. Ein Beispiel ist in T 953/22 zu finden, wo Änderungen in einer Zeichnung den beanspruchten Gegenstand änderten, obwohl der Wortlaut der Ansprüche unverändert blieb. (S. auch Kapitel II.E.2.4.2 und II.E.2.4.5).
In T 458/96 führte die Kammer Folgendes aus: Legen der technische Inhalt der Ansprüche und die Beschreibung eindeutig dar, wie eine Erfindung funktioniert, so dürfen diese Merkmale bei der Bewertung der Patentierbarkeit nicht außer Acht gelassen werden, indem sie so ausgelegt werden, als ob sie lediglich eine beabsichtigte Verwendung angeben.
Der Erfindung in T 1023/02 lag die Erkenntnis zugrunde, dass die Gene für ein bestimmtes, in infizierten Zellen exprimiertes virales Protein (ICP34.5) für die Fähigkeit von Herpes-simplex-Viren maßgeblich waren, Gewebe des zentralen Nervensystems zu zerstören. Der Beschwerdegegner machte geltend, dass ein nachträglich veröffentlichtes Dokument die Existenz eines mit dem ICP34.5-Gen übereinstimmenden, aber gegenläufigen (Antisense-)ORF-P-Gens offenbare. Daher müsse der Anspruch wegen des Begriffs "nur" dahin gehend ausgelegt werden, dass der erste Verfahrensschritt sich nicht auf die Expression dieses ORF-P-Gens auswirke. Nach Auffassung der Kammer ging jedoch aus der Beschreibung klar hervor, dass der Patentinhaber die Existenz dieses Gens nicht in Betracht gezogen hatte. Der Fachmann würde daher den Gegenstand von Anspruch 1 im Lichte der Beschreibung nicht in dem vom Beschwerdegegner befürworteten Sinn auslegen. Dementsprechend könnten nachträglich veröffentlichte Erkenntnisse über weitere technische Details und/oder Komplikationen diese Auslegung nicht stützen.
In T 1409/16 vertrat die Kammer die Auffassung, dass sowohl "ausschließende Disjunktionen" als auch "nicht ausschließende Disjunktionen" durch die Formulierung "entweder […] oder" ausgedrückt werden könnten. Die Tatsache, dass in einem anderen Anspruch des angefochtenen Patents eine andere Formulierung ("und/oder") verwendet wurde (im Sinne eines nicht ausschließenden "oder"), sei an sich kein zwingender Grund für die Schlussfolgerung, dass die im strittigen Anspruch verwendete Formulierung "entweder […] oder" eine andere Bedeutung haben müsse, d. h. dass damit ein ausschließendes "oder" ausgedrückt werde. Es gebe keine unbedingte Verpflichtung, für die Formulierung einzelner Merkmale eine völlig einheitliche Terminologie zu verwenden, wenn diese auf unterschiedliche Weise ausgedrückt werden könnten. Beim Lesen des Patents würde der Fachmann sicherlich nicht zu dem Schluss kommen, dass das "oder" in der Formulierung "entweder […] oder" in Anspruch 1 als ausschließliches "oder" zu verstehen sei, weil dies bedeuten würde, dass die beispielhaften (d. h. besonders bevorzugten) Ausführungsformen aus dem beanspruchten Bereich ausgeschlossen würden. Die Kammer befand, dass die Formulierung "entweder […] oder" nur in den Fällen als ausschließendes "oder" ausgelegt werden könne, in denen sich die zwei genannten Situationen schon ihrer Natur nach gegenseitig ausschlössen, d. h. miteinander nicht kompatibel seien.