1. Allgemeine Grundsätze
Overview
- R 12/22
Zusammenfassung
In R 12/22 machte die Antragstellerin in ihrem Antrag auf Überprüfung mehrere schwerwiegende Verfahrensmängel geltend, unter anderem, dass die kurzfristige Ersetzung des juristischen Mitglieds im vorliegenden Fall ihr Recht auf rechtliches Gehör unter folgenden Aspekten verletze: (a) mangels Möglichkeit, das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 24 EPÜ im Hinblick auf das neue Mitglied zu untersuchen, (b) wegen fehlender ausreichender Vorbereitungsmöglichkeit des umfangreichen Falles für das neue Mitglied, (c) wegen fehlender Möglichkeit der Stellungnahme der Antragstellerin zur kurzfristigen Ersetzung vor der mündlichen Verhandlung.
Zu (a) stellte die Große Beschwerdekammer (GBK) fest, dass der Anspruch auf rechtliches Gehör auch das Recht umfassen kann, Informationen zu erhalten, um das Recht zu wahren, das neue Kammermitglied gegebenenfalls nach Art. 24 EPÜ abzulehnen. Das Vorbringen der Antragstellerin, sie hätte das Vorliegen der Voraussetzungen von Art. 24 EPÜ wegen der Kürze der Zeit nicht überprüfen können, überzeugte die GBK jedoch nicht, da die Antragstellerin diese Überprüfung in der mündlichen Verhandlung durch Fragen zu der Thematik an das betroffene Kammermitglied hätte nachholen können. Zudem hatte die Antragstellerin in ihrem Überprüfungsantrag auf keinen denkbaren Verstoß gegen Art. 24 EPÜ hingewiesen, so dass die GBK auch keinen derartigen Sachvortrag auf einen denkbaren Gehörsverstoß überprüfen konnte. Die Antragstellerin hatte zudem argumentiert, dass – auch wenn auf freiwilliger Basis eine Auskunft über ein Kammermitglied erteilt worden wäre – diese in der Kürze der Zeit nicht objektiv nachprüfbar gewesen wäre. Die GBK war von diesem Vortrag nicht überzeugt. Ein Auskunftsrecht bestand nach ihrer Auffassung nur über Umstände, die geeignet sein könnten, eine Ablehnung zu begründen, nicht aber über die Vorbereitung eines Mitglieds auf die mündliche Verhandlung in einem konkreten Fall, da dies mit seiner Unabhängigkeit nicht vereinbar wäre. Ferner müsse es zur Vermeidung der Verzögerung von Verfahren möglich sein, auch kurzfristig eine Kammer im Einklang mit Art. 2 VOBK umzubesetzen. Es reiche aus, dass den Beteiligten die Möglichkeit der Ablehnung eines Mitglieds nach Art. 24 (3) EPÜ wegen eines Ausschließungsgrundes oder wegen Besorgnis der Befangenheit zustehe.
Zu (b), stellte die GBK fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folgt, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen. Insbesondere müsse das Mitglied seine Pflichten nach eigenem Gutdünken erledigen können. Die GBK stimmte der folgenden Passage aus R 5/19 zu: "bis zum Beweis des Gegenteils in einem konkreten Fall [kann] davon ausgegangen werden [...], dass Mitglieder von Beschwerdekammern generell ihre Amtspflichten korrekt ausüben [...]."
Auch hinsichtlich (c), d.h. der fehlenden Möglichkeit sich vor der mündlichen Verhandlung zur kurzfristigen Ersetzung zu äußern, sah die GBK keine Bedenken hinsichtlich der Wahrung des rechtlichen Gehörs in einer solchen Situation.
In der mündlichen Verhandlung vor der GBK, machte die Antragstellerin die kurzfristige Ersetzung des juristischen Mitglieds erstmals auch als Gehörsverstoß unter einem weiteren Gesichtspunkt, nämlich demjenigen eines Verstoßes gegen ein "Recht auf den gesetzlichen Richter" geltend. Die GBK stellte fest, dass ein solches Recht im EPÜ und den dieses ergänzenden Vorschriften, insbesondere denjenigen der VOBK, nicht geregelt ist. Art. 2 VOBK regelt Ausnahmen vom Geschäftsverteilungsplan, nämlich die Ersetzung von Mitgliedern bei Verhinderung an der Mitwirkung. Ähnlich wie im Fall des geltend gemachten Informationsrechts betreffend Art. 24 EPÜ hatte die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung vor der Beschwerdekammer ein Recht auf den gesetzlichen Richter nicht geltend gemacht. Sie hatte explizit lediglich die Kurzfristigkeit der Umbesetzung und die damit angeblich verbundene zu knappe Vorbereitungszeit für das neue Mitglied sowie das Fehlen einer Möglichkeit zur Stellungnahme zur Ersetzung vor der mündlichen Verhandlung beanstandet. Das Nichtvorliegen einer Ausnahme nach Art. 2 VOBK hatte die Antragstellerin in der mündlichen Verhandlung nicht geltend gemacht. Daher entschied die GBK, diesen neu geltend gemachten Gehörsverstoß durch Verletzung eines Rechts auf den gesetzlichen Richter als offensichtlich unbegründet zurückzuweisen.
- T 2274/22
Zusammenfassung
In T 2274/22 war ein Mitglied der Öffentlichkeit von Einsprechenden-Seite (Herr T.) vor Eröffnung der mündlichen Verhandlung unbeabsichtigt dem virtuellen Dolmetscher-Besprechungsraum zugeordnet worden, wo er mehr als 10 Minuten mithörte, bevor er die anderen Besprechungsteilnehmer darüber in Kenntnis setzte und ausgeschlossen wurde. Während dieser Zeit kommunizierte Herr T. dem zugelassenen Vertreter der Einsprechenden und seinem Kollegen Details aus dem mitgehörten Inhalt der Vorbesprechung. Kurz nach Eröffnung der mündlichen Verhandlung legte der Vertreter der Einsprechenden den obigen Vorfall offen. Die Patentinhaberin befürchtete eine Benachteiligung und sprach dabei eine Neubesetzung der Einspruchsabteilung an. Die Einsprechende stellte daraufhin mit einem Kurzprotokoll die erhaltenen Informationen schriftlich zur Verfügung. Die Patentinhaberin war der Auffassung, diese gingen entgegen der Aussage des Vorsitzenden über den Inhalt des Ladungszusatzes hinaus, und beantragte schriftlich die Ablehnung der Einspruchsabteilung wegen Besorgnis der Befangenheit.
Zur Frage, ob ein schwerwiegender Verfahrensfehler im Vorfeld der mündlichen Verhandlung begangen wurde, erläuterte die Kammer, die Anwesenheit einer Partei in einer Vorbesprechung zwischen einem oder mehreren Mitgliedern einer Einspruchsabteilung und den Dolmetschern stelle grundsätzlich einen Verfahrensfehler dar, unabhängig davon, ob dieser durch einen technischen oder menschlichen Fehler verursacht geworden sei. Ein solcher Verfahrensfehler müsse aber nicht zwangsläufig in einen schwerwiegenden münden. Vielmehr könne er dadurch geheilt werden, dass die abwesende Partei vor Eröffnung der sachlichen Debatte auf den gleichen Kenntnisstand wie die anwesende gebracht werde.
Nach Ansicht der Kammer konnte allein die Anwesenheit von Herrn T. beim Dolmetscher-Briefing auch keine Besorgnis der Befangenheit der Einspruchsabteilung begründen. Denn, da die Zuschaltung eines Parteivertreters in den virtuellen Besprechungsraum vorliegend unstreitig versehentlich erfolgt sei, und die Einspruchsabteilung sie umgehend beendet habe, sobald sie ihrer gewahr wurde, bestehe objektiv kein Verdacht, die Einspruchsabteilung habe hier willentlich für eine Bevorzugung der Einsprechenden gesorgt oder diese billigend in Kauf genommen. Jedoch sei die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung den Vorfall nicht von sich aus angesprochen und der Patentinhaberin mitgeteilt habe, dazu geeignet, bei der Patentinhaberin den Eindruck einer Parteilichkeit zu erwecken. Dass die Einspruchsabteilung sich zudem auch nach Intervention der Einsprechenden, die ausdrücklich auf einen möglichen Verfahrensfehler hingewiesen hatte, nicht aktiv an der Aufklärung des Vorfalls beteiligte, sondern den Vorschlag der Einsprechenden, eine schriftliche Zusammenfassung einzureichen, abwartete und diesem lediglich zustimmte, könne einen solchen Eindruck noch verstärken. Dass eine inhaltliche Auseinandersetzung der Einspruchsabteilung mit dem Kurzprotokoll ausgeblieben sei, stelle aus Sicht eines objektiven Beobachters einen weiteren Umstand dar, der zum Anschein ihrer Befangenheit beitrage.
Die Kammer rief in Erinnerung, dass Besorgnis der Befangenheit bereits dann gegeben ist, wenn objektive Anhaltspunkte dafür vorliegen, auch wenn andere Tatsachen dagegensprechen mögen. Vorliegend war nach Ansicht der Kammer eine Befangenheit der Einspruchsabteilung objektiv zu besorgen, da diese keine der aufgetretenen Gelegenheiten ergriffen hatte, die Patentinhaberin selbst über den Vorfall zu informieren und selbst zu dessen Aufklärung beizutragen. Daher hätte dem Antrag der Patentinhaberin auf Ablehnung ihrer Mitglieder analog zu Art. 24(3) EPÜ stattgegeben und die Einspruchsabteilung neu besetzt werden müssen.
Die Kammer kam zu dem Schluss, dass die angefochtene Entscheidung nicht von der Einspruchsabteilung in ihrer ursprünglichen Besetzung hätte getroffen werden dürfen. Dass dies dennoch geschah, stelle einen schwerwiegenden Verfahrensmangel dar, der zur Aufhebung der angefochtenen Entscheidung und zur Zurückverweisung des Falls an eine neu zu besetzende Einspruchsabteilung führe. Darauf wie groß der ursprüngliche Fehler war, komme es in der Regel nicht an, wenn er letztlich ursächlich für einen wesentlichen Verfahrensmangel gewesen sei. Entscheidend sei allein, dass der aus ihm resultierende Verfahrensmangel als so schwerwiegend eingestuft wird, dass er zu einer Zurückverweisung führt. Dies sei vorliegend der Fall. Die Kammer wies zuletzt darauf hin, dass wegen der räumlichen Distanz und nur mittelbaren Präsenz in einer Videokonferenz, hier ein "schlechter Eindruck" zudem schneller entstehen könne und somit auch die Schwelle sinke, ab der eine Befangenheit befürchtet werden könne. Daher seien an eine ordnungsgemäße Verhandlungsführung und insbesondere den Umgang mit technischen Pannen hohe Maßstäbe anzulegen.
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache