7.6. Hinterlegung biologischen Materials
Overview
Bezieht sich eine Erfindung auf biologisches Material, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und in der europäischen Patentanmeldung nicht so beschrieben werden kann, dass ein Fachmann die Erfindung danach ausführen kann, oder auf dessen Verwendung, so gilt die Erfindung nur dann als gemäß Art. 83 EPÜ offenbart, wenn eine Probe dieses biologischen Materials spätestens am Anmeldetag bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle hinterlegt worden ist (R. 31 (1) a) EPÜ) und wenn die Anmeldung den übrigen Erfordernissen der R. 31 EPÜ genügt (T 2068/11, s. auch G 2/93, ABl. 1995, 275). S. auch Prüfungsrichtlinien F‑III, 6 (März 2022) zu ausreichender Offenbarung und biologischem Material.
Die Offenbarung eines Mikroorganismus hängt nicht zwangsläufig von dessen Hinterlegung gemäß R. 28 EPÜ 1973 ab, wenn der Mikroorganismus auf andere Weise ausreichend offenbart wird (T 2068/11; s. diesbezüglich auch T 1338/12 im Detail und die jüngere Entscheidung T 1045/16 zu Pflanzenmaterial, T 1376/11).
Nach ständiger Rechtsprechung der Beschwerdekammern ist es zur Erfüllung der Erfordernisse des Art. 83 EPÜ nämlich nicht erforderlich, biologisches Material zu hinterlegen, wenn dieses Material für den Fachmann und die Öffentlichkeit ohne Vorbehalte oder Beschränkungen zugänglich ist, d. h. wenn das biologische Material auf andere Weise ausreichend offenbart wird (T 1338/12, Nr. 12 der Gründe).
Im Zuge der EPÜ-Revision im Jahr 2000 wurden die R. 27a, 28 und 28a EPÜ 1973 aus Gründen der Klarheit und Systematik in das Kapitel über biotechnologische Erfindungen überführt (jetzt R. 30 bis 34 EPÜ), umstrukturiert und teilweise gekürzt (s. ABl. SA 1/2003, 164, ABl. SA 5/2007, 46 und ABl. SA 5/2007, 56). Die neue R. 31 EPÜ behandelt die Hinterlegung von biologischem Material, die neue R. 32 EPÜ die Sachverständigenlösung für den Zugang und die neue R. 33 EPÜ den Zugang zu hinterlegtem biologischem Material ab dem Tag der Veröffentlichung der europäischen Patentanmeldung (ABl. SA 5/2007, 48; s. auch Mitteilung im ABl. 2017, A55 (CA/D 3/17), ABl. 2017, A60 und ABl. 2017, A61 (Mitteilung)). Der Begriff "Mikroorganismus" wurde 1996 durch den Begriff "biologisches Material" ersetzt (s. ABl. 1996, 390) – zur Definition von biologischem Material s. R. 26 (3) EPÜ.
In T 1045/16 erinnerte die Kammer daran, dass in R. 31 EPÜ zusammen mit Art. 83 EPÜ eine besondere Regelung für Erfindungen getroffen wird, bei denen biologisches Material verwendet wird oder die sich auf biologisches Material beziehen, das der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist und in der europäischen Patentanmeldung nicht beschrieben werden kann. Im vorliegenden Fall war unbestritten, dass es keine Hinterlegung dieses Materials bei einer anerkannten Hinterlegungsstelle gemäß R. 31 (1) a) EPÜ gibt. Die Kammer erklärte, dass eine Hinterlegung gemäß dem Budapester Vertrag nach R. 31 (1) a) EPÜ nur dann erforderlich ist, wenn das betreffende biologische Material der Öffentlichkeit nicht zugänglich ist. Es galt festzustellen, ob das betreffende biologische Material der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde oder nicht. Gemäß G 2/93 nimmt R. 28 (1) EPÜ 1973 (R. 31 (1) EPÜ 2000) Bezug auf Art. 83 EPÜ und dient dazu, die in diesem Artikel verankerten allgemeinen Erfordernisse für eine spezielle Gruppe von Erfindungen zu konkretisieren und zu ergänzen, bei denen eine bloße Beschreibung nicht ausreicht. Deshalb wies die Kammer darauf hin, dass die Bestimmungen der R. 28 (1) EPÜ 1973 den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ nachgeordnet sind. Die Erfordernisse des Art. 83 EPÜ sind nicht zeitlich begrenzt. Damit ein biologisches Material als "der Öffentlichkeit zugänglich" im Sinne der R. 31 (1) EPÜ angesehen werden kann, muss es daher soweit zugänglich sein, dass der Fachmann sicher sein kann, es zumindest über die Laufzeit des Patents erhalten zu können. Eine Hinterlegung bei einer Institution außerhalb des Budapester Vertrags kann die Zugänglichkeit für die Öffentlichkeit nicht gewährleisten. Im vorliegenden Fall war die Verfügbarkeit von Pflanzen der Akzession PI313970 aus dem nationalen Pflanzenkeimplasmasystem der USA nicht ausreichend. Außerdem belegte die Erwähnung des biologischen Materials in einer wissenschaftlichen Publikation per se nicht, dass dieses Material der Öffentlichkeit im Sinne der R. 31 (1) EPÜ zugänglich war. Die beanspruchte Erfindung entsprach nicht den Erfordernissen des Art. 83 EPÜ.
Die Kammer in T 1338/12 wandte anders als die Prüfungsabteilung das EPÜ 1973 auf die strittige Anmeldung an, und zwar die Regel 28 EPÜ 1973 betreffend die Hinterlegung biologischen Materials. Die Kammer ging auf die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern ein (s. T 2068/11). Im vorliegenden Fall musste festgestellt werden, ob die in R. 28 (3) EPÜ 1973 (bzw. R. 33 (1) EPÜ) vorgesehene Bedingung tatsächlich erfüllt war, d. h. ob der Stamm T. thermophilus, Variante GY1211 dem Fachmann oder der Öffentlichkeit zum maßgeblichen Zeitpunkt ohne Vorbehalte oder Beschränkungen zugänglich war. Nach Auffassung der Kammer war die Bedingung nicht schon dadurch erfüllt, dass der betreffende Stamm in zwei wissenschaftlichen Veröffentlichungen offenbart wurde. Selbst wenn die Herausgeber einer wissenschaftlichen Zeitschrift von den Verfassern eines wissenschaftlichen Artikels verlangen könnten, der Öffentlichkeit das biologische Material zugänglich zu machen, das Gegenstand der Veröffentlichung ist, könnten sie sich nicht vergewissern, dass dies immer der Fall ist. Ein Antrag auf Herausgabe einer Probe des biologischen Materials sei direkt an die Verfasser des wissenschaftlichen Artikels zu richten; somit liege die Weitergabe dieses biologischen Materials schlussendlich immer im Ermessen dieser Verfasser.