4.4.6 Ermessen nach Artikel 13 (1) VOBK 2020 – neue Tatsachen, Einwände, Argumente und Beweismittel
Wie in T 731/16 (mit Verweis auf Rechtsprechung der Beschwerdekammern, 9. Aufl. 2019, V.A.4.13.2) festgestellt, ist nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern neben eines die Änderung des Vorbringens objektiv rechtfertigenden Grundes ein entscheidendes Kriterium für die Zulassung von verspätet eingereichten Entgegenhaltungen deren prima facie-Relevanz. Derartige Unterlagen sollten prima facie insofern hoch relevant sein, als sie mit gutem Grund eine Änderung des Verfahrensausgangs erwarten lassen, also höchstwahrscheinlich der Aufrechterhaltung des europäischen Patents entgegenstehen. Im zu entscheidenden Fall war die Entgegenhaltung D12 erst in Reaktion auf die Mitteilung der Kammer nach Art. 15 (1) VOBK 2007 eingereicht worden. Nach Auffassung der Kammer konnte von einer für den Fachmann selbstverständlichen Kombination der Lehren der bereits im Verfahren befindlichen Entgegenhaltung D4 und der neu eingereichten D12 keine Rede sein. Daher war D12 kein hoch relevanter Stand der Technik und wurde nicht in das Verfahren zugelassen.
In T 2796/17 war prima facie Relevanz eines von mehreren Kriterien (neben dem Zeitpunkt des Vorbringens und der Komplexität des neuen Sachverhalts), das die Kammer bei ihrer Ermessensausübung nach Art. 13 (1) VOBK 2007, Art. 25 (1) VOBK 2020 und Art. 13 VOBK 2007, Art. 25 (3) VOBK 2020 heranzog. Das neue Vorbringen (ein Einwand gegen die erfinderische Tätigkeit des Gegenstands laut Anspruch 1 gestützt auf eine Kombination zweier mit der Einspruchsbegründung eingereichter Dokumente) erschien der Kammer nicht prima facie relevant, da der Beschwerdeführer (Einsprechende) weder substantiiert dargelegt hatte, warum der Fachmann ausgehend vom behaupteten nächsten Stand der Technik das zweite angeführte Dokument (ohne Rückschau) zu Rate ziehen würde, noch dass letzteres dann die hinzugefügten Merkmale des neuen Hauptantrags offenbaren würde. Der vom Beschwerdeführer ohne Rechtfertigung erstmals in der mündlichen Verhandlung erhobene Einwand, der außerdem einen komplexen neuen Sachverhalt beinhaltete, wurde nicht zugelassen.
Für weitere Fälle, bei denen die (Prima-facie-)Relevanz geprüft und nicht bejaht wurde, siehe z. B. T 102/16 (betreffend D26), T 1877/16 (betreffend D20 und D21).