3.1.7 Ausnahmen vom Verbot der reformatio in peius
Es gibt begrenzte Ausnahmen vom Verbot der reformatio in peius. In G 1/99 (ABl. 2001, 381) beantwortete die Große Beschwerdekammer folgende Rechtsfrage, die in der Vorlageentscheidung T 315/97 date: 1998-12-17 (ABl. 1999, 554) gestellt worden ist: "Muss ein – z. B. durch Streichung eines einschränkenden Anspruchsmerkmals – geänderter Anspruch zurückgewiesen werden, durch den der Einsprechende und alleinige Beschwerdeführer schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde?"
Die Große Beschwerdekammer vertrat die Auffassung, dass ein solcher Anspruch grundsätzlich zurückgewiesen werden müsse. Allerdings könne eine Ausnahme gemacht werden, wenn die Einspruchsabteilung eine unzulässige Änderung gutgeheißen habe. Eben dies hatte die Einspruchsabteilung in der betreffenden Sache im Einvernehmen mit dem Patentinhaber getan, der folglich durch die Entscheidung nicht beschwert war und selbst keine Beschwerde einlegen konnte. Der Patentinhaber (Beschwerdegegner) hatte im Beschwerdeverfahren einen Hauptantrag eingereicht, der das hinzugefügte (und nicht zulässige) beschränkende Merkmal enthielt, sowie einen Hilfsantrag, in dem dieses Merkmal gestrichen war (wodurch der Anspruch erweitert wurde). Die Große Beschwerdekammer entschied, dass der Hauptantrag zurückgewiesen werden müsse, weil er die Erfordernisse des EPÜ nicht erfülle. Zudem müsste – wenn ungeachtet der besonderen Umstände des Falls der Grundsatz des Verschlechterungsverbots (reformatio in peius) anzuwenden wäre – auch der Hilfsantrag zurückgewiesen werden, weil der Einsprechende (Beschwerdeführer) durch diesen schlechtergestellt würde als ohne die Beschwerde. Der Kammer bleibe dann nichts anderes übrig, als das Patent zu widerrufen, wobei es für den Patentinhaber keinen Rechtsbehelf mehr gäbe. Somit hätte die Tatsache, dass die Einspruchsabteilung eine unzulässige Änderung gutgeheißen habe, für den Patentinhaber die unmittelbare Folge, dass er endgültig jeglichen Schutz verlöre. Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer wäre es unbillig, wenn dem Patentinhaber nicht eine faire Gelegenheit gegeben würde, die Folgen einer Fehleinschätzung der Einspruchsabteilung zu mildern. Zur Beseitigung dieses Mangels sollte der Patentinhaber Folgendes beantragen dürfen:
- in erster Linie eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung beschränken;
- falls eine solche Beschränkung nicht möglich ist, eine Änderung, durch die ein oder mehrere ursprünglich offenbarte Merkmale aufgenommen werden, die den Schutzbereich des Patents in der aufrechterhaltenen Fassung ohne Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ 1973 erweitern;
- erst wenn solche Änderungen nicht möglich sind und selbst wenn der Einsprechende dadurch schlechtergestellt wird, die Streichung der unzulässigen Änderung, sofern sie nicht gegen Art. 123 (3) EPÜ 1973 verstößt.
Weitere Beispiele für die Anwendung der Grundsätze von G 1/99 finden sich in T 594/97, T 994/97, T 590/98, T 76/99 und T 724/99.