4.3.3 Nachveröffentlichte Beweismittel und Stützung auf eine behauptete technische Wirkung zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit ("Plausibilität")
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
i) Nachveröffentlichte Beweismittel berücksichtigt
In T 116/18 vom 28. Juli 2023 enthielt die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen Nachweis oder ähnlichen Beleg für die behauptete, in einem nachveröffentlichten Beweismittel gezeigte technische Wirkung. Nach Auffassung der Kammer musste, umdas in Nummer 2 der Entscheidungsformel von G 2/21 aufgestellte zweite Erfordernis zu erfüllen - die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht notwendigerweise einen experimentellen Nachweis für die behauptete technische Wirkung oder eine entsprechende positive Aussage enthalten. Die Kammer wandte ihre Auslegung der in Nummer 2 der Entscheidungsformel von G 2/21 enthaltenen Rechtsgrundsätze (s. I.D.4.1.2) auf den vorliegenden Fall an und kam zu dem Schluss, dass der Fachmann keinen berechtigten Grund gehabt hätte zu bezweifeln, dass sich die behauptete technische Wirkung durch den Gegenstand des Anspruchs 1 in der erteilten Fassung erzielen ließ. Folglich wurde die behauptete technische Wirkung von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert, und der Beschwerdegegner konnte sich ausgehend von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung auf die behauptete technische Wirkung berufen.
Sobald das Kriterium der Ableitbarkeit einer technischen Wirkung im Sinne von Nummer 2 der Entscheidungsformel von G 2/21 erfüllt ist, gilt dies nach Ansicht der Kammer in T 1989/19 gleichermaßen auch für eine Verbesserung dieser Wirkung. Wie die Kammer erläuterte, würde der Fachmann, auch wenn er über keine erfinderischen Fähigkeiten verfügt, in jedem Bereich der Technologie nach Weiterentwicklungen oder technischen Verbesserungen streben. Wenn also für den Fachmann eine bestimmte technische Wirkung (im vorliegenden Fall die Lagerstabilität) im Sinne von Nummer 2 der Entscheidungsformel aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung ableitbar ist (vorliegend aus der beschriebenen Anwendung als Inhalationsprodukt), ist auch deren Verbesserung als implizit ableitbar zu betrachten.
In T 2716/19 wies die Kammer – in Anwendung von Nummer 1 der Entscheidungsformel von G 2/21 – das Argument des Beschwerdeführers (Einsprechenden) zurück, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung keinen Nachweis dafür enthalte, dass die beanspruchten Basen zu einer höheren PMPA-Ausbeute führten, und die Einspruchsabteilung es dem Beschwerdegegner somit zu Unrecht gestattet habe, sich auf nachveröffentlichte Beweismittel zu berufen. Seiner Auffassung nach hätte der Fachmann sofort erkannt, dass das grundlegende Ziel des beanspruchten Verfahrens in einer Steigerung der Ausbeute des gewünschten Erzeugnisses (hier: PMPA) bestand. Im Einklang mit G 2/21 konnte sich der Beschwerdegegner also auf diese technische Wirkung berufen und durften die nachveröffentlichten Beweismittel nicht unberücksichtigt bleiben.
Die Kammer in T 728/21 entschied, dass die Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung ausdrücklich auf die Auflösung der eine feste Dispersion enthaltenden Tabletten als Aspekt der offenbarten Erfindung einging und gezielt die beanspruchte Tablettenzusammensetzung als eine Ausführungsform der beanspruchten Erfindung beschrieb. Die durch nachveröffentlichte Beweismittel belegte Wirkung der optimierten Auflösung der fraglichen, in Anspruch 1 des Hauptantrags definierten Tablettenzusammensetzung konnte daher im Einklang mit den in G 2/21 aufgestellten Grundsätzen bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit berücksichtigt werden (s. auch T 1515/20).
In T 873/21 stellte die Kammer fest, dass die in D16 begründete therapeutische synergistische Wirkung aus der ursprünglichen Anmeldung ableitbar war und dass die Daten von D16 lediglich eine Quantifizierung der in der ursprünglichen Anmeldung beschriebenen Verbesserung der Insulinempfindlichkeit lieferten. Dementsprechend war die Kammer der Auffassung, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachte synergistische Wirkung in der technischen Lehre der ursprünglichen Anmeldung im Lichte des allgemeinen Fachwissens enthalten und durch die vorliegende Kombination verkörpert sei, da sie als Kombination in der ursprünglichen Anmeldung eindeutig bevorzugt werde. Im Einklang mit G 2/21 sei die durch die nachveröffentlichten Versuchsdaten in D16 gezeigte technische Wirkung daher bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit zu berücksichtigen.
In T 885/21 stellte die Kammer fest, dass die nachveröffentlichten Versuchsergebnisse in D51 bestätigten, dass Konjugate gemäß dem Hauptantrag – gegenüber Konjugaten, die aus Oxidations-Hydrazon-Ligation bzw. aus der Kopplung eines Azid-modifizierten Zuckers an N-terminales Acetylglucosamin resultierten – tatsächlich Reste ungetrimmter Antikörper, optimierte Eigenschaften unter anderem hinsichtlich Homogenität, verminderter Fc-Gamma-Bindung, verminderter Empfindlichkeit gegenüber Elastase-Spaltung, pharmakokinetischem Profil und In-vivo-Wirksamkeit aufwiesen. Im Hinblick auf die Offenbarung der Erfindung im Patent befand die Kammer, dass die in D51 beschriebenen Wirkungen von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wurden und gemäß den in G 2/21 bestätigten Grundsätzen vom Patentinhaber zum Nachweis erfinderischer Tätigkeit herangezogen werden könnten.
In T 1329/21 merkte die Kammer an, dass das Erreichen einer verbesserten Sensorik in der ursprünglichen Anmeldung bereits als Zielsetzung offenbart wurde. Außerdem wurden verschiedene sensorische Eigenschaften – u. a. die Absorption, die Klebrigkeit und die Öligkeit – beanspruchter Formulierungen im Vergleich zu Formulierungen ohne Cellulose oder mit MCC in den ursprünglichen Beispielen bewertet. Der im nachveröffentlichten Vergleichsversuch berichtete Effekt sei somit von der in der ursprünglichen Anmeldung offenbarten technischen Lehre eindeutig umfasst. Im Lichte der Entscheidung G 2/21 war die Kammer folglich der Meinung, dass der nachveröffentlichte Vergleichsversuch zu berücksichtigen sei.
In T 1891/21 war die angegebene technische Wirkung einer Erhöhung der tatsächlichen anfänglichen Coulomb-Effizienz im Vergleich zum prognostizierten Wert aus dem Streitpatent und der zugrunde liegenden ursprünglich eingereichten Fassung der Anmeldung ableitbar. Das in der Beschwerdeerwiderung des Beschwerdegegners enthaltene Vorbringen, das die Berechnung zusätzlicher Werte einiger der genannten Beispiele umfasste, machte lediglich deutlich, was der Fachmann aus dem Streitpatent abgeleitet hätte. Die Kammer befand, es bestehe kein Zweifel daran, dass das in G 2/21 (Leitsatz II) formulierte Erfordernis erfüllt worden sei.
In T 1445/21 zeigten die nachveröffentlichten Beweismittel nach Auffassung der Kammer eine bessere olfaktive Leistung für die Zusammensetzungen mit 9 Gew.-% oder 8,5 Gew.-% Wasser im Vergleich zu den von der technischen Lehre der ursprünglich offenbarten Erfindung umfassten Zusammensetzungen mit 60 Gew. % Wasser. Der Vergleich sei jedoch im vorliegenden Fall nicht geeignet, eine Verbesserung gegenüber dem Stand der Technik zu substantiieren. Das Vorliegen einer technischen Wirkung in Verbindung mit einer Wassermenge von höchstens 10 Gew. % werde daher durch die Versuchsdaten des Patents und des nachveröffentlichten Versuchsberichts nicht glaubhaft nachgewiesen.
Weitere Entscheidungen, in denen die Kammern entschieden haben, dass der Fachmann – vor dem Hintergrund des allgemeinen Fachwissens und ausgehend von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung – eine behauptete Wirkung als von der technischen Lehre umfasst und von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert ansehen würde, sind T 681/21 und T 1551/22.
ii) Nachveröffentlichte Beweismittel nicht berücksichtigt
In T 258/21 beschrieb Anspruch 1 des Streitpatents ein Arzneimittel, das eine wirksame Menge einer kurzwirksamen Dihydropyridin-Verbindung zur Anwendung in einem Verfahren zur Reduzierung von Schäden nach einem ischämischen Schlaganfall enthielt. Die ursprüngliche Anmeldung enthielt keine Versuchsdaten. Die Kammer befand mit Verweis auf G 2/21 (ABl. 2023, A85), Nr. 2 der Entscheidungsformel, dass die in den nachveröffentlichten Beweismitteln substantiierte Wirkung in der ursprünglichen Anmeldung weder in Betracht gezogen noch vorgeschlagen worden war. Daraus folge, dass die vom Anmelder als darin enthalten angeführte technische Wirkung bei der Beurteilung der erfinderischen Tätigkeit gemäß G 2/21 nicht berücksichtigt werden könne. Selbst wenn die technische Wirkung aus der ursprünglichen Anmeldung ableitbar gewesen wäre, so die Kammer, seien die nachveröffentlichten Beweismittel lediglich Zusammenfassungen der Ergebnisse "laufender" Studien. Diese Dokumente enthielten weder detaillierte Ergebnisse noch Einzelheiten zu den verwendeten Protokollen. Die Sinnhaftigkeit der Heranziehung der in diesen Zusammenfassungen enthaltenen Daten durch den Beschwerdeführer sei daher prima facie fragwürdig.
In T 852/20 befand die Kammer, dass die behauptete, durch nachveröffentlichte Daten belegte technische Wirkung der besseren Wasserlöslichkeit und Bioverfügbarkeit der Form 1 gegenüber der Form 2 in der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nirgendwo offenbart war oder gelehrt wurde. Der Fachmann konnte der ursprünglich eingereichten Anmeldung keineswegs entnehmen, dass eine bestimmte kristalline Form (nämlich die beanspruchte Form 1) eine gute Löslichkeit und Bioverfügbarkeit aufwies, geschweige denn, eine bessere Löslichkeit und Bioverfügbarkeit als eine andere kristalline Form (Form 2). Folglich hätte der Fachmann ausgehend von der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung und dem allgemeinen Fachwissen nicht geschlussfolgert, dass die behauptete technische Wirkung von der technischen Lehre der ursprünglich eingereichten Anmeldung umfasst war, und schon gar nicht, dass sie von derselben ursprünglich offenbarten Erfindung verkörpert wurde.
Eine Erfindung kann nicht ausschließlich auf Wissen gestützt werden, das erst nach ihrem wirksamen Datum zugänglich gemacht worden ist. Nach Auffassung der Kammer in T 887/21 genügt es nicht, dass eine technische Wirkung durch ein Stoffgemisch erzielt werden kann, das in Bezug auf seine technischen Merkmale den Stoffgemischen aus der ursprünglich eingereichten Anmeldung entspricht. Für eine Berücksichtigung bei der Formulierung der objektiven technischen Aufgabe muss die behauptete, angeblich durch die nachveröffentlichen Beweismittel belegte technische Wirkung (im vorliegenden Fall die Hemmung von Salmonellen außerhalb des Kontexts der epithelialen Adhärenz) von der technischen Lehre der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung umfasst sein, d. h. die betreffende technische Wirkung muss in erster Linie in der technischen Lehre der Anmeldungsunterlagen offenbart oder zumindest aus dieser ableitbar sein.
Kapitel II.C.6.8 "Nachveröffentlichte Dokumente" behandelt das Thema der nachveröffentlichten Beweismittel in Bezug auf ausreichende Offenbarung (Art. 83 EPÜ). Siehe auch Kapitel II.C.7.2.2 "Nachweis der therapeutischen Wirkung".
- T 1994/22
Zusammenfassung
In T 1994/22 the respondent (patent proprietor) inter alia had relied on post-published data D32 and submitted that Form II (according to claim 1 of the main request) as claimed had an improved photostability over Form III (comparative).
The respondent relied on the statements made in T 116/18 as regards G 2/21 and submitted that referring to the provision of a novel crystal of compound A (selexipag) and to a pharmaceutical product of "high quality for which constant effect can always be shown and a form which is handled easily industrially", the skilled person would have understood that the effect of improved photostability was implied by or at least related to the technical problem initially suggested in the originally filed application. Therefore, requirement (i) [in T 116/18], as encompassed by the technical teaching, was met. Furthermore, the respondent claimed the skilled person would not have had any legitimate reason to doubt that the improved photostability could be achieved with the claimed polymorphic form of selexipag. Therefore, requirement (ii) [in T 116/18], as embodied by the same originally disclosed invention, was also met in the present case.
In line with T 116/18, the board in the present case acknowledged that the mere fact that photostability or improved photostability was not contained in terms of a positive verbal statement in the application as filed and that the application as filed did not contain any data as regards photostability, as such, did not imply that the effect of improved photostability could not be relied on in terms of G 2/21 or T 116/18.
However, the board did not consider such a sweeping statement regarding "high quality" and "easy industrial handleability", which covers a plethora of potential advantageous properties, to encompass photostability, let alone improved photostability. If such a sweeping statement were sufficient, a reference to high quality would be sufficient to invoke whatever technical effect as being encompassed by an application as filed in the sense of G 2/21. This would essentially render the first criterion of order no. 2 of G 2/21 meaningless. In the present case, the application as filed was in fact directed to particle size, residual solvent content and amount of impurities, properties which are entirely unrelated to photostability. Therefore, based on these properties, having the common general knowledge in mind, the skilled person would by no means have recognised that (improved) photostability was relevant to the claimed subject-matter. Going from these specific properties to the effect of photostability would also clearly change the nature of the invention, contrary to what is required by T 116/18. Hence, the board found the effect of photostability was not encompassed by the teaching of the application as filed.
Furthermore, even if it were wrongly concluded in the respondent's favour that the technical teaching of the application as filed were to encompass photostability in the sense of T 116/18, it would not do so "together with the claimed subject-matter", as required by this decision.
The respondent submitted during the oral proceedings that the present case was also in line with T 1989/19 and that it was not a requirement that the application as filed disclosed improved photostability. In that case, the board held that once the criterion of the derivability of a technical effect in the sense of G 2/21 was fulfilled, this applied equally to the improvement in this effect. The board agreed with the view expressed in T 1989/19; however in the present case, photostability was not encompassed and thus not derivable from the teaching of the application as filed in the sense of G 2/21. Furthermore, unlike in T 1989/19, the application as filed in the present case referred to three polymorphic forms in equal terms, and the present case was not one in which the purported improvement was asserted to be present for the subject-matter of the application as filed over the subject-matter disclosed in the prior art.
It followed that improved photostability of Form II as demonstrated in D32 could not be taken into account in the assessment of the technical effects achieved by the distinguishing feature.