5.2. Prüfungsumfang bei Änderungen
Inwieweit die Einspruchsabteilung oder eine Beschwerdekammer im Rahmen des Art. 101 (3) EPÜ die Klarheit prüfen kann, war Gegenstand von Vorlagefragen, mit denen die Große Beschwerdekammer in G 3/14 (ABl. 2015, A102) befasst wurde. Im zugrunde liegenden Fall (T 373/12 date: 2014-04-02, ABl. 2014, A115) bestand der Anspruch 1 des erstmals im Einspruchsverfahren eingereichten Hilfsantrags 1 aus einer Kombination der Merkmale des Anspruchs 1 der erteilten Fassung und des abhängigen Anspruchs 3 der erteilten Fassung.
Die Große Beschwerdekammer unterschied vorab die folgenden Hauptarten von Änderungen: Zum einen Änderungen, bei denen Elemente aus abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung wörtlich in einen unabhängigen Anspruch übernommen werden (Typ A); dazu gehören Änderungen, bei denen ein abhängiger Anspruch alternative Ausführungsformen enthält, von denen eine mit dem zugehörigen unabhängigen Anspruch kombiniert wird (Typ A i)), und Änderungen, bei denen ein Merkmal aus einem abhängigen Anspruch in einen unabhängigen Anspruch übernommen wird, wobei dieses Merkmal zuvor mit anderen Merkmalen dieses abhängigen Anspruchs verbunden war und nun von ihnen losgelöst ist (Typ A ii)); zum anderen Änderungen, die die wörtliche Übernahme von vollständigen abhängigen Ansprüchen in der erteilten Fassung in einen unabhängigen Anspruch umfassen (Typ B, der Fall, mit dem die vorlegende Kammer befasst war).
Die Große Beschwerdekammer betrachtete ihre frühere Rechtsprechung, d. h. G 1/91 (ABl. 1992, 253), G 9/91 (ABl. 1993, 408) und G 10/91 (ABl. 1993, 420). Unter Verweis auf Nr. 19 der Gründe von G 9/91 und G 10/91, wonach "Änderungen der Ansprüche oder anderer Teile eines Patents, die im Einspruchs- oder Beschwerdeverfahren vorgenommen werden, in vollem Umfang auf die Erfüllung der Erfordernisse des EPÜ […] zu prüfen sind", wies sie daraufhin, dass wenn die Große Beschwerdekammer damals allerdings der Auffassung gewesen wäre, dass die Einspruchsabteilungen und die Beschwerdekammern umfassende Befugnisse zur Prüfung geänderter Ansprüche haben, sie dies auch so geäußert hätte. Folglich ist der oben verwendete Begriff "Änderungen" dahin gehend zu verstehen, dass der zu prüfende Gegenstand in irgendeiner Weise unmittelbar mit der Änderung zusammenhängen muss.
Die Große Beschwerdekammer ging auf die drei Hauptargumentationslinien in der Rechtsprechung der technischen Kammern ein: der "herkömmliche" Ansatz, der auf der Prüfung beruht, ob es durch die Änderung zu einem Verstoß gegen Art. 84 EPÜ kommt, sowie der Grundsatz, dass Art. 101 (3) EPÜ keine auf Art. 84 EPÜ gestützten Einwände zulässt, die nicht auf diese Änderung zurückgehen (s. T 301/87 und T 227/88, die in vielen weiteren Fällen angewandt wurden, s. z. B. T 381/02, T 1855/07, T 367/96 vom 3. Dezember 1997 date: 1997-12-03 und T 326/02). Im Rahmen einer zweiten Argumentationslinie wurde eine weniger restriktive Interpretation vertreten: Danach kann eine mangelnde Klarheit auch untersucht werden, wenn durch die Änderung eine bereits vorher vorhandene Unklarheit hervorgehoben und das Augenmerk darauf gelenkt wird (T 472/88, s. auch T 681/00 und T 1484/07). Die dritte Rechtsprechungslinie bezeichnete sie als "abweichend": Nach T 1459/05 (s. auch T 1440/08 und T 656/07) muss eine Kammer die Klarheit im Rahmen ihres Ermessens von Fall zu Fall prüfen können, wenn das aufgenommene Merkmal das einzige Merkmal ist, durch das sich der beanspruchte Gegenstand vom Stand der Technik unterscheidet. Unter den abweichenden Entscheidungen am weitesten geht T 459/09, wonach geänderte Ansprüche im Einzelfall grundsätzlich und unabhängig von der Art der Änderung auf Klarheit geprüft werden können.
Zur Auslegung des Art. 101 (3) EPÜ hob die Große Beschwerdekammer hervor, dass die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ für die Zwecke des Art. 101 (3) EPÜ zu den "Erfordernissen dieses Übereinkommens" zählen. Allerdings gibt es keinen Anhaltspunkt dafür, dass Sinn und Zweck des Art. 101 (3) EPÜ darin bestünde, eine vollständige Neuprüfung des Patents auf Klarheit oder auf sonstige Erfordernisse des EPÜ zu ermöglichen. Maßgeblich sind vielmehr die Änderung selbst und ihre Auswirkungen für den jeweiligen Einspruchsgrund. Selbstverständlich darf die Änderung selbst keine neuen Einwände aufwerfen.
Der Gesetzgeber – wie aus den vorbereitenden Materialien zum EPÜ 1973 hervorgeht – hat sich ganz bewusst dagegen entschieden, Art. 84 EPÜ zu einem Einspruchsgrund zu machen, weil es unbefriedigend wäre, wenn ein Einsprechender das Verfahren bei jeder Änderung hinauszögern könnte, indem er diverse Einsprüche nach Art. 84 EPÜ erhöbe. Nichtsdestotrotz könnte ein Klarheitsmangel im Einspruchsverfahren relevant sein, weil er unter Umständen die Entscheidung über die Einspruchsgründe nach Art. 100 EPÜ (ausreichende Offenbarung, Neuheit, erfinderische Tätigkeit) beeinflusst, oder sich auf die in einem nationalen Verfahren gegen ein europäisches Patent vorgebrachten Nichtigkeitsgründe auswirkt. Auch wurde bei der Abfassung des EPÜ 2000 keine Änderung im Sinne einer Abkehr von der damaligen ständigen Rechtsprechung vorgeschlagen, d. h. von dem auf T 301/87 basierenden "herkömmlichen" Ansatz. De facto würde Art. 84 EPÜ, wenn die Streichung eines unabhängigen Anspruchs einschließlich der von ihm abhängigen Ansprüche eine Klarheitsprüfung der übrigen Ansprüche ermöglichen würde, in zahlreichen Fällen zu einem Einspruchsgrund – dies liefe der Absicht des Gesetzgebers zuwider. Im Falle einer Kombination von Ansprüchen, bei der im Grunde der ursprüngliche unabhängige Anspruch gestrichen und der vormals abhängige Anspruch entsprechend ausformuliert wird, zu einem anderen Schluss zu gelangen, wäre willkürlich und ungerechtfertigt.
Letztlich schloss sich die Große Beschwerdekammer der mit T 301/87 begründeten herkömmlichen Rechtsprechungslinie an und beantwortete die Vorlagefragen wie folgt:
"Bei der Prüfung nach Art. 101 (3) EPÜ, ob das Patent in der geänderten Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt, können die Ansprüche des Patents nur auf die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ geprüft werden, sofern – und dann auch nur soweit – diese Änderung einen Verstoß gegen Art. 84 EPÜ herbeiführt."
Mit Blick auf die verschiedenen Typen von Änderungen, die in G 3/14 unterschieden wurden, merkte die Kammer in T 1112/12 an, dass eine für alle Änderungstypen zutreffende Grundaussage, die der Entscheidung der Großen Beschwerdekammer zu entnehmen ist, offenbar lautet, dass die Änderung eines Anspruchs durch bloße Streichung oder Ausschließung von Ausführungsformen aus dem beanspruchten Gegenstand nicht zu einer Änderung führt, gegen die ein Einwand nach Art. 84 EPÜ erhoben werden kann (s. auch T 1977/13 und T 260/13). In T 2437/13 enthielten bereits die erteilten Ansprüche Verweise auf Abbildungen und Tabellen; der Verstoß gegen Art. 84 EPÜ in Verbindung mit R. 43 (6) EPÜ wurde daher nicht durch die Änderungen herbeigeführt. Zu weiteren Fällen, in denen der Klarheitsmangel bereits in den erteilten Ansprüchen vorhanden war und der Klarheitseinwand daher zurückgewiesen wurde, s. z. B. T 266/15, T 488/13, T 1905/13, T 1287/14, T 2311/15, T 2321/15, T 2244/19.
Die folgenden Entscheidungen sind Beispiele für Fälle, in denen die strittige Anspruchsänderung weder eine einfache Kombination von erteilten Ansprüchen noch die bloße Streichung oder Ausschließung von Ausführungsformen betraf, sondern vielmehr die Aufnahme eines Merkmals aus der Beschreibung, sodass eine Beanstandung des geänderten Anspruchs wegen mangelnder Klarheit möglich war: T 565/11, T 2321/13, T 842/14, T 315/15, T 1976/19, T 2817/19.
In T 248/13 waren bestimmte mehrdeutige Begriffe schon im erteilten Anspruch 15 enthalten. Durch diese Begriffe wurde der Geschmack des Endprodukts definiert, wohingegen sie sich in Anspruch 1 des Hilfsantrags 1 auf eine zuzugebende Zutat bezogen. Die Kammer befand, dass durch das Herauslösen der Begriffe aus dem Kontext des erteilten Anspruchs 15 und ihre Verwendung im Kontext des Anspruchs 1 des Hilfsantrags 1 eine neue Mehrdeutigkeit geschaffen wurde, die zuvor nicht vorhanden war. Folglich war diese Änderung nach Art. 84 EPÜ zu beanstanden.
In T 1221/19 verwies die Kammer auf G 3/14 (ABl. 2015, A102) und erinnerte daran, dass bei der Prüfung nach Art. 101 (3) EPÜ, ob das Patent in der geänderten Fassung den Erfordernissen des EPÜ genügt, die Ansprüche nur auf die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ geprüft werden können, sofern – und dann auch nur soweit – diese Änderung einen Verstoß gegen Art. 84 EPÜ herbeiführt. Analog dazu, so die Kammer, kann auch die Beschreibung des Patents nur auf die Erfordernisse des Art. 84 EPÜ geprüft werden, sofern – und dann auch nur soweit – die Änderung einen Verstoß gegen Art. 84 EPÜ herbeiführt. Dies entspreche sowohl G 9/91 (ABl. 1993, 408) als auch G 3/14. Im vorliegenden Fall führte die Wiederaufnahme eines fehlerhaften Verweises aus der Anmeldung in der ursprünglich eingereichten Fassung nicht zu Unklarheit oder Mehrdeutigkeit der Offenbarung in den betreffenden Absätzen.
- T 2391/18
Catchword:
On the application of Rule 80 EPC and the findings of the Enlarged Board of Appeal in G 3/14 in case of an alleged discrepancy between the description and a feature stemming from a granted claim, see point 4.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”