1.3. Nationales Verletzungsverfahren
In T 223/11 wies die Kammer auf den international anerkannten Grundsatz hin, wonach die Einreichung eines nationalen Zulassungsantrags für ein Arzneimittel durch ein Generikaunternehmen keine Patentverletzung darstellt (sog. Bolar-Ausnahme). Das vom Patentinhaber begonnene Verfahren vor dem nationalen Verwaltungsgericht – so hinderlich es auch für einen zukünftigen Markteintritt des Produkts des Beitretenden sein mag – stellt kein Verletzungsverfahren dar, und zwar unabhängig davon, ob die Bolar-Regelung in das nationale Recht umgesetzt wurde oder nicht.
In T 1713/11 stellte die Kammer fest, das EPÜ enthalte keine detaillierte Definition, was ein Verletzungsverfahren sei. Ferner sei ein Beitritt eindeutig ein verfahrensrechtlicher Ausnahmefall, der nur durch ein erhebliches begründetes Interesse des vermeintlichen Patentverletzers am Beitritt zum Einspruchsverfahren gerechtfertigt werde. Deshalb erscheine es unwahrscheinlich, dass der Gesetzgeber ein ausgefeiltes und kompliziertes System von Verfahrensbestimmungen für die Zulässigkeit von Beitritten habe schaffen wollen, weshalb auch die Kammer davon Abstand nehmen sollte, durch ihre Rechtsprechung ein solches System zu schaffen sondern lieber das Vorliegen der materiellrechtlichen Bedingungen für die Zulässigkeit eines Beitritts zu prüfen. Weder eine Nichtigkeitsklage gegen das Streitpatent noch ein Beschlagnahmeverfahren erfüllen diese Voraussetzungen (so auch T 305/08). Jedoch ist die Definition von "Verletzungsverfahren" nicht auf Zivilprozessverfahren, auf Verfahren, in denen die Inanspruchnahme bestimmter Rechtsmittel zulässig ist, oder auf Zweiparteienverfahren beschränkt. Die Kammer gelangte daher zu folgendem Schluss: Solange ein Patentinhaber oder eine andere entsprechend befugte Partei ein Verfahren anstrengt, das dazu dient festzustellen, ob ein Dritter in einem unter das Ausschlussrecht des Patentinhabers fallenden Bereich gewerblich aktiv ist, stellt dieses Verfahren eine "Verletzungsklage" im Sinne des Art. 105 EPÜ dar.
In T 1746/15 folgte die Kammer der Entscheidung T 1713/11, wonach es sich bei einer "Verletzungsklage" im Sinne des Art. 105 (1) a) EPÜ um ein Verfahren handelt, in dem festgestellt werden soll, ob ein Dritter in einem unter das Ausschlussrecht des Patentinhabers fallenden Bereich gewerblich aktiv ist. Die Kammer befand, dass das selbstständige Beweisverfahren (auch Beweissicherungsverfahren, § 485 DE-ZPO), das mit Beschluss des Landgerichts Düsseldorf nach deutschem Recht gegen den Beschwerdegegner eingeleitet wurde, keine "Feststellung" einer Verletzung im Sinne der vorstehenden Ausführungen darstellt. Das selbstständige Beweisverfahren nach deutschem Recht ist mit einem "saisie"-Verfahren vergleichbar, z. B. dem Beschlagnahmeverfahren in Frankreich, das nicht als "Verletzungsverfahren" im Sinne des Art. 105 (1) a) EPÜ zu betrachten ist (T 1713/11 und T 305/08).
In T 439/17 hatte der Beschwerdeführer (Einsprechende) während des Einspruchsverfahrens seinen Beitritt erklärt und sich auf ein durch den Patentinhaber eingeleitetes deutsches Beweissicherungsverfahren nach § 485 DE-ZPO berufen. Während des anhängigen Beschwerdeverfahrens hatte der Patentinhaber dann eine ordnungsgemäße Verletzungsklage gegen den Einsprechenden erhoben, die sich auf das Ergebnis des Beweissicherungsverfahrens stützte. Der Beschwerdeführer machte geltend, dass die beiden Verfahren als eine einzige Klage im Sinne von Art. 105 EPÜ anzusehen seien, was durch § 493 DE-ZPO gestützt sei. Die Kammer wies diese Ansicht zurück. Aus § 493 DE-ZPO kann nicht abgeleitet werden, dass die beiden Verfahren als konsolidiert oder anderweitig verfahrensrechtlich verbunden anzusehen sind. Darüber hinaus muss die Zulässigkeit des Beitritts zum Zeitpunkt des Beitritts gegeben sein und kann nicht später rückwirkend (ex tunc) hergestellt werden. Zusammenfassend stellte die Kammer fest, dass ein Beweissicherungsverfahren nach § 485 DE-ZPO und die anschließende Verletzungsklage im Hinblick auf die Anwendung von Art. 105 (1) a) EPÜ als zwei getrennte Verfahren zu betrachten sind. Im Ergebnis war der Beitritt vor der Einspruchsabteilung daher unzulässig.