3.3. Auf die Mitteilung nach Regel 71 (3) EPÜ hin eingereichte Änderungen oder Berichtigungen
Die Kriterien für die Zulassung oder Zurückweisung von Änderungsanträgen nach R. 137 (3) EPÜ (früher R. 86 (3) EPÜ 1973) oder von Berichtigungsanträgen nach R. 139 EPÜ (früher R. 88 EPÜ 1973) haben sich durch die neue Fassung der R. 71 EPÜ (früher R. 51 EPÜ 1973), die am 1. April 2012 in Kraft getreten ist (ABl. 2010, 637), nicht geändert.
Die Entscheidung G 7/93 (ABl. 1994, 775) befasst sich mit den Kriterien für die Beurteilung der Zulässigkeit von verspätet eingereichten Änderungen in der Prüfungsphase. Insbesondere ergibt sich aus der Anwendung der Grundsätze aus G 7/93 auf Änderungen, die in Erwiderung auf die Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ eingereicht werden, dass diese Mitteilung dem Anmelder nicht die Möglichkeit eröffnet, die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens wieder in Frage zu stellen (T 375/90). Die Große Beschwerdekammer wies darauf hin, dass die Beantwortung der Frage, ob eine nach R. 51 (4) EPÜ 1973 abgegebene Einverständniserklärung bindend wird, sobald eine Mitteilung nach R. 51 (6) EPÜ 1973 ergangen ist, vielmehr von der richtigen Auslegung des Art. 123 (1) EPÜ in Verbindung mit der R. 86 (3) EPÜ 1973 abhängt. Die Große Beschwerdekammer gelangte zu dem Schluss, dass eine vom Anmelder nach R. 71 (3) EPÜ (früher R. 51 (4) EPÜ 1973) abgegebene Einverständniserklärung mit der ihm mitgeteilten Fassung des Patents nicht bindend wird. Wie die Prüfungsabteilung ihr Ermessen bei der Zulassung von Änderungen ausübt, muss sich, allgemein gesprochen, nach den Umständen des jeweiligen Einzelfalls und danach richten, in welchem Stadium des Erteilungsverfahrens sich die Anmeldung befindet. Aus dem Wortlaut der Bestimmungen der R. 51 (4) bis (6) EPÜ 1973 geht klar hervor, dass der Mitteilung nach R. 51 (6) EPÜ 1973 der Zweck zugrunde liegt, das Erteilungsverfahren auf der Grundlage der zuvor mitgeteilten und gebilligten Fassung der Anmeldung zum Abschluss zu bringen. Insofern muss die Prüfungsabteilung, wenngleich die Zulassung von Änderungen auch in diesem Stadium des Erteilungsverfahrens noch in ihrem Ermessen liegt, bei der Ausübung dieses Ermessens dem tieferen Zweck der Bestimmung Rechnung tragen.
In T 1064/04 erklärte die Kammer, dass die in G 7/93 (ABl. 1994, 775) formulierten Grundsätze generell auf neue Anträge angewendet werden könnten, die in einem späten Verfahrensstadium eingereicht werden, nachdem der Anmelder bereits mindestens einmal Gelegenheit zur Änderung seiner Anmeldung hatte und die Prüfungsabteilung die Sachprüfung bereits abgeschlossen hat. Im vorliegenden Fall war die Kammer der Ansicht, dass die Prüfungsabteilung ihr Ermessen in vertretbarer Weise und in Einklang mit den geltenden Grundsätzen ausgeübt hat. Mit dem Abschluss der mündlichen Verhandlung war ein spätes Stadium des Prüfungsverfahrens erreicht, und jegliche danach vorgenommenen Änderungen sind nach den aus der Entscheidung G 7/93 herleitbaren Grundsätzen zu beurteilen. In T 1064/04 werden die Grundsätze zusammengefasst, die sich aus der Entscheidung G 7/93 (ABl. 1994, 775) über die Zulassung von Änderungen in einem späten Verfahrensstadium ergeben (s. auch T 1540/11, T 1326/11). Dieser Entscheidung der Großen Beschwerdekammer lassen sich folgende Grundsätze entnehmen:
a) Solange noch kein Erteilungsbeschluss ergangen ist, kann die Prüfungsabteilung nach R. 86 (3) Satz 2 EPÜ 1973 (jetzt R. 137 (3) EPÜ) unabhängig davon, ob der Anmelder bereits sein Einverständnis zu einer Fassung erklärt hat, nach eigenem Ermessen über die Zulassung einer Änderung der Anmeldung in einem späten Stadium befinden (G 7/93, Nr. 2.1 der Gründe).
b) Bei der Ausübung dieses Ermessens muss die Prüfungsabteilung allen rechtserheblichen Faktoren Rechnung tragen; sie muss insbesondere das Interesse des Anmelders an einem in allen benannten Staaten rechtsbeständigen Patent und das seitens des EPA bestehende Interesse, das Prüfungsverfahren zum Abschluss zu bringen, berücksichtigen und gegeneinander abwägen (G 7/93, Nrn. 2.5 der Gründe).
c) Die Zulassung eines Änderungsantrags in einem späten Stadium des Prüfungsverfahrens wird angesichts der Tatsache, dass der Anmelder zuvor mindestens eine Gelegenheit zur Änderung der Anmeldung erhalten hat und dass die Prüfungsabteilung ihre Sachprüfung der Anmeldung bereits abgeschlossen hat, eher die Ausnahme als die Regel sein (G 7/93, Nr. 2.3 der Gründe).
d) Es ist nicht Aufgabe der Beschwerdekammer, die Sachlage des Falls nochmals wie ein erstinstanzliches Organ zu prüfen, um zu entscheiden, ob sie das Ermessen in derselben Weise ausgeübt hätte. Vielmehr sollte sich eine Beschwerdekammer nur dann über die Art und Weise, in der die erste Instanz ihr Ermessen ausgeübt hat, hinwegsetzen, wenn sie zu dem Schluss gelangt, dass die erste Instanz ihr Ermessen nicht korrekt (s. oben b) oder aber in unangemessener Weise ausgeübt hat und damit den ihr eingeräumten Ermessensspielraum überschritten hat (G 7/93, Nr. 2.6 der Gründe).
In T 1399/10 befand die Kammer: Wenn eine Prüfungsabteilung zu der Schlussfolgerung gelangt, dass ein Antrag prima facie nicht gewährbar ist, sondern neue Mängel einführt, kann die Kammer den Antrag nach R. 137 (3) EPÜ zurückweisen.
In T 1326/11 ging es in der angefochtenen Entscheidung nur um die Weigerung der Prüfungsabteilung nach R. 137 (3) EPÜ (2010), den nach Erlass der Mitteilung nach R. 71 (3) EPÜ eingegangenen Antrag zum Verfahren zuzulassen. Im Beschwerdeverfahren musste geklärt werden, ob diese Weigerung eine angemessene Ausübung des der Prüfungsabteilung nach R. 137 (3) EPÜ eingeräumten Ermessens darstellte. Die Kammer ließ sich von den Grundsätzen aus G 7/93 leiten, die in T 1064/04 zusammengefasst sind, und war der Auffassung, dass die Komplexität des Falles ein weiteres Argument war, das für die Entscheidung der Prüfungsabteilung sprach, einen Antrag nicht zuzulassen, der in einem sehr späten Stadium des Verfahrens gestellt worden war, das bereits zwei Mitteilungen der Prüfungsabteilung und eine mündliche Verhandlung beinhaltet hatte. Die Zulassung des Antrags in diesem späten Stadium hätte eine erneute Prüfung erfordert und das Verfahren damit über Gebühr in die Länge gezogen.
In T 246/08 stellte die Kammer fest, dass die noch vor der Einreichung jeglicher Änderungen verweigerte Zustimmung zu Änderungen keine der Billigkeit entsprechende Ermessensausübung nach R. 137 (3) EPÜ (früher R. 86 (3) EPÜ 1973) darstellen konnte. Dies stellte ipso facto einen wesentlichen Verfahrensfehler dar.
Eine Reihe von Entscheidungen, die nachfolgend erörtert werden, bezieht sich auf frühere Fassungen der damaligen R. 51 (4) EPÜ 1973 (jetzt R. 71 (3) EPÜ). Sie können dennoch auch auf die neue R. 71 (3) EPÜ anwendbar sein.
In T 375/90 wies die Kammer auf die von den Beschwerdekammern aufgestellten Bedingungen hin, mit denen das Ermessen bei der Anwendung von R. 86 (3) EPÜ 1973 eingeschränkt wird, wenn der Anmelder auf eine Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ 1973 hin Änderungen vorgeschlagen hat:
(i) Es gibt kein Ermessen bei der Verpflichtung, Änderungen zur Behebung von Mängeln zuzulassen, die Verstöße gegen das Übereinkommen darstellen (s. T 171/85, ABl. 1987, 160, T 609/88).
(ii) In allen anderen Fällen muss das Interesse des EPA an einem schnellen Abschluss des Verfahrens gegen das Interesse des Anmelders an der Erteilung eines Patents mit geänderten Ansprüchen abgewogen werden (s. T 166/86, ABl. 1987, 372, T 182/88; ABl. 1990, 287; T 76/89).
Die Kammer stellte fest, dass nach den Richtlinien die Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ 1973 dem Anmelder nicht die Möglichkeit eröffnet, die Ergebnisse des bisherigen Verfahrens wieder in Frage zu stellen, und dass innerhalb der in R. 51 (4) EPÜ 1973 vorgesehenen Frist nur geringfügige Änderungen zu berücksichtigen sind. Aus den vorangegangenen Erwägungen folgt, dass es der Prüfungsabteilung (oder der im Rahmen ihrer Zuständigkeit tätigen Kammer) bei der Anwendung von R. 86 (3) EPÜ 1973 nicht vollkommen frei steht, eine Prüfung der jeweiligen geänderten Unterlagen grundsätzlich abzulehnen (s. auch T 989/99).
In T 999/93 wurde entschieden, es sei rechtsfehlerhaft gewesen, die Anmeldung nach R. 51 (5) Satz 1 EPÜ 1973 mit der Begründung zurückzuweisen, dass keine gebilligte Fassung der Anmeldung vorliege (Art. 113 (2) EPÜ 1973). Sowohl die Tatsache, dass der Beschwerdeführer seinen Hauptantrag und seinen ersten und zweiten Hilfsantrag nicht zurückgezogen hatte, als auch sein Schreiben (in dem er die für die Patenterteilung vorgeschlagene Fassung missbilligte, aber auf einer Entscheidung über den Hauptantrag bestand) zeigten deutlich, dass er tatsächlich den Text in seinen höherrangigen Anträgen billigte und vorschlug (s. auch R. 51 (5) Satz 2 EPÜ 1973). In der Begründung der Entscheidung hätte man vielmehr auf den Inhalt des Hauptantrags und des ersten und zweiten Hilfsantrags eingehen müssen.
In T 237/96 vertrat die Kammer folgende Auffassung: Die Erweiterung des Schutzbereichs des Anspruchs 1 um ein ursprünglich offenbartes Ausführungsbeispiel, die der Anmelder nach Erhalt des in R. 51 (4) EPÜ 1973 vorgesehenen Bescheids der Prüfungsabteilung beantragt habe, stehe nicht im Einklang mit seiner früheren Einlassung, dieses Ausführungsbeispiel sei nicht Teil der Erfindung, und werfe neue Fragen im Zusammenhang mit der Klarheit und erfinderischen Tätigkeit auf. Auch habe der Anmelder keine Argumente für die Zulässigkeit des geänderten Anspruchs vorgebracht. Die Kammer befand, dass die Prüfungsabteilung ihr Ermessen keineswegs fehlerhaft oder nicht pflichtgemäß ausgeübt habe, als sie gemäß R. 86 (3) EPÜ 1973 ihre Zustimmung zu der Änderung verweigerte. Hätte sie der geänderten Fassung des Anspruchs zugestimmt, so hätte das Prüfungsverfahren neu aufgerollt werden müssen, was angesichts der prima facie erkennbaren mangelnden Klarheit des Anspruchs zu einer erheblichen Verzögerung geführt hätte.
In T 1066/96 erklärte die Kammer, es sei eindeutig, dass weitere Änderungen nicht von vornherein völlig ausgeschlossen werden könnten, dass aber das Ermessen nach R. 86 (3) EPÜ 1973 von Fall zu Fall ausgeübt werden müsse, wobei das Interesse des EPA und das des Anmelders gegeneinander abzuwägen seien (s. G 7/93, ABl. 1994, 775). Daher könne eine Prüfungsabteilung, die ihr Ermessen nach R. 86 (3) EPÜ 1973 negativ ausüben wolle, eine Anmeldung nur zurückweisen, wenn sie vor Erlass ihrer Entscheidung den Anmelder über die Tatsache unterrichtet habe, dass die weiteren beantragten Änderungen nicht zugelassen würden, und dies unter gebührender Berücksichtigung der Gründe des Anmelders für eine solche späte Vorlage weiterer Änderungen begründet habe (s. auch T 2536/17). Halte der Anmelder seinen Antrag aufrecht und erachte die Prüfungsabteilung seine Gegenargumente nicht für überzeugend, so sei die Anmeldung dann nach Art. 97 (1) EPÜ 1973 zurückzuweisen, da sie keine Ansprüche enthalte, mit denen der Anmelder sein Einverständnis erklärt habe.
In T 121/06 stellte die Kammer fest, dass der Erlass einer Mitteilung nach R. 51 (4) EPÜ 1973, in der Änderungen vorgeschlagen wurden, von denen nicht erwartet werden könne, dass der Anmelder sie ohne weitere Erörterung akzeptiere, daher einen wesentlichen Verfahrensfehler darstellte.