5.3. Mehrfachprioritäten oder Teilpriorität für einen Patentanspruch
Das Streitpatent in der Sache T 557/13 vom 17. Juli 2015 date: 2015-07-17 (ABl. 2016, A87) war auf eine Teilanmeldung erteilt worden. Die Einspruchsabteilung war zu dem Schluss gekommen, dass eine Zwischenverallgemeinerung im erteilten Anspruch 1 bezüglich der Offenbarung der Prioritätsunterlage D16 keinen Anlass gebe, eine begrenzte Zahl eindeutig definierter alternativer Gegenstände zu beanspruchen (vgl. G 2/98, ABl. 2001, 413). Obwohl das Patent den Erfordernissen des Art. 76 (1) EPÜ genüge, genieße daher der Gegenstand des Anspruchs 1 nicht die Priorität der Stammanmeldung D1. D1 sei somit Stand der Technik nach Art. 54 (3) EPÜ, und Anspruch 1 sei angesichts der Verwendung des Erzeugnisses aus dem Beispiel 1, das identisch in D16 und D1 offenbart werde, nicht neu. Nach Ansicht der Kammer lautete die konkret zu lösende Frage, ob Anspruch 1 insofern eine Teilpriorität genoss, als die in D16 offenbarte Verwendung des Erzeugnisses aus Beispiel 1 in der allgemeineren Definition des Anspruchs 1 enthalten war, ohne darin ausdrücklich genannt zu sein. Angesichts der unterschiedlichen Ansätze in früheren Kammerentscheidungen beschloss die Kammer, die Große Beschwerdekammer zur Rechtslage im Bereich der Teilpriorität für generische "ODER"-Ansprüche und zur richtigen Auslegung der Bedingung aus G 2/98 (Nr. 6.7 der Gründe) um Klärung zu bitten.
In G 1/15 (ABl. 2017, A82) hat die Große Beschwerdekammer entschieden, dass das Recht auf Teilpriorität für einen Anspruch, der aufgrund eines oder mehrerer generischer Ausdrücke oder anderweitig alternative Gegenstände umfasst (generischer "ODER"-Anspruch), nach dem EPÜ nicht verweigert werden kann, sofern diese alternativen Gegenstände im Prioritätsdokument erstmals, direkt – oder zumindest implizit -, eindeutig und ausführbar offenbart sind. Andere materiellrechtliche Bedingungen oder Einschränkungen finden in diesem Zusammenhang keine Anwendung. Die Große Beschwerdekammer legte ihre Auslegung des Art. 88 (2) und (3) EPÜ dar. Ist ein Anspruch in der späteren Anmeldung breiter als ein im Prioritätsdokument offenbartes Merkmal, dann kann für dieses Merkmal eine Priorität in Anspruch genommen werden. Es ist unerheblich, ob die Teilpriorität nur für ein Merkmal in einem Prioritätsdokument beansprucht wird, für mehrere in einem Prioritätsdokument offenbarte Merkmale (der erste in Art. 88 (3) EPÜ angesprochene Fall), für mehrere in mehr als einem Prioritätsdokument offenbarte Merkmale (der zweite in Art. 88 (3) EPÜ angesprochene Fall) oder für einen Anspruch, der mehrere in mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale umfasst (in Art. 88 (2) Satz 2 EPÜ angesprochener Fall). Es spielt auch keine Rolle, ob ein Anspruch nur ein in einem Prioritätsdokument offenbartes Merkmal umfasst oder mehrere in einem oder mehreren Prioritätsdokumenten offenbarte Merkmale. Die Große Beschwerdekammer sieht diese Auslegung bestätigt durch die Pariser Verbandsübereinkunft und durch das von der FICPI vorgelegte Memorandum C (s. Dokument M/48/I der vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 1973), bei dem davon auszugehen ist, dass es die zugrunde liegende Absicht des Gesetzgebers zum Ausdruck bringt (G 2/98, Nr. 6.4 der Gründe; s. auch Berichte der Münchner Diplomatischen Konferenz von 1973, M/PR/I, "Artikel 86 (88) Inanspruchnahme der Priorität", Nrn. 308 bis 317). Somit enthält das EPÜ keine weiteren Erfordernisse für die Zuerkennung des Prioritätsrechts als das "derselben Erfindung", ob es sich nun um eine einfache, eine Mehrfach- oder eine Teilpriorität handelt; letztere wird als Untergruppe von Mehrfachprioritäten angesehen. Folglich kann die Bedingung aus G 2/98 nicht als weitere Beschränkung des Prioritätsrechts ausgelegt werden.
Bei der Prüfung, ob einem Gegenstand innerhalb eines generischen "ODER"- Anspruchs eine Teilpriorität zukommt, wird zunächst der im Prioritätsdokument offenbarte (in Bezug auf den im Prioritätsintervall offenbarten Stand der Technik) relevante Gegenstand bestimmt. Dafür werden der in der Entscheidungsformel der G 2/98 formulierte Offenbarungstest sowie die vom Anmelder bzw. Patentinhaber zur Stützung seines Prioritätsanspruchs vorgebrachten Erläuterungen herangezogen, um zu zeigen, was der Fachmann dem Prioritätsdokument hätte entnehmen können. Im nächsten Schritt wird geprüft, ob dieser Gegenstand vom Anspruch der Anmeldung bzw. des Patents umfasst wird, für die bzw. das die Priorität in Anspruch genommen wird. Lautet die Antwort ja, wird der Anspruch de facto konzeptionell in zwei Teile geteilt: Der erste Teil entspricht der Erfindung, die im Prioritätsdokument unmittelbar und eindeutig offenbart wurde; beim zweiten handelt es sich um den verbleibenden Teil des späteren generischen "ODER"- Anspruchs, dem diese Priorität nicht zusteht, der aber selbst einen Prioritätsanspruch nach Art. 88 (3) EPÜ begründet. Diese entspricht auch dem im Memorandum beschriebenen System. Die Aufgabe, die relevante Offenbarung des Prioritätsdokuments als Ganzes zu bestimmen sowie zu prüfen, ob der entsprechende Gegenstand vom Patentanspruch in der späteren Anmeldung umfasst wird, ist übliche Praxis im EPA und bei den Nutzern des europäischen Patentsystems und dürfte als solche keine zusätzliche Schwierigkeit bereiten. Sie schafft auch keine Rechtsunsicherheit für Dritte. Die Entscheidungen in den Fällen T 665/00, T 135/01, T 571/10 und T 1222/11 zeigen, dass sie ohne zusätzliche Tests oder Schritte durchgeführt werden kann.