4.3.6 Im erstinstanzlichen Verfahren nicht zugelassenes Vorbringen – fehlerhafte Ermessensausübung – Artikel 12 (6) Satz 1 VOBK 2020
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
Die Prima-facie-Relevanz ist ein anerkanntes Kriterium für die Beurteilung der Zulässigkeit verspätet eingereichter Einwände im erstinstanzlichen Einspruchsverfahren (s. z. B. T 2883/19). In zahlreichen Entscheidungen sind die Kammern zu dem Ergebnis gekommen, dass die Einspruchsabteilung, die das Kriterium der Prima-facie-Relevanz angewendet hat, die richtigen Grundsätze zugrunde gelegt und diese im jeweiligen Fall in vertretbarer Weise angewandt hat (s. z. B. T 3166/19, T 415/20, T 687/20, T 803/21, T 214/20).
T 1161/20 illustriert, wie es wichtig ist zu begründen, warum eine Entscheidung der Einspruchsabteilung, Einwände nicht zuzulassen, falsch war.
(i) Nichteinverständnis eines Beteiligten mit dem Ergebnis der materiellrechtlichen Beurteilung – nicht ausreichend als Nachweis einer fehlerhaften Ermessensausübung
Das bloße Nichteinverständnis eines Beteiligten mit dem Ergebnis der materiellrechtlichen Beurteilung der Einspruchsabteilung ist noch kein ausreichendes Indiz dafür, dass eine Entscheidung ermessensfehlerhaft war, wie z. B. in T 2883/19 betont wurde. In ihrer Entscheidung hob die Kammer außerdem hervor, dass nicht ersichtlich war, dass die Einspruchsabteilung bei ihrer Beurteilung der Prima-facie-Relevanz des betreffenden Einwands der Gegenstandserweiterung von offensichtlich falschen technischen Annahmen ausgegangen war. In Ausübung ihres Ermessens nach Art. 12 (6) VOBK 2020 ließ sie diesen Einwand also nicht zum Beschwerdeverfahren zu.
Auch in T 61/21 ließ die Kammer das Argument des Beschwerdeführers (Einsprechenden) nicht gelten, dass die Einspruchsabteilung bei ihrer Entscheidung, D10 als prima facie nicht relevant nicht zum Verfahren zuzulassen, fälschlicherweise der vermeintlichen Entferntheit dieses Dokuments zu große Bedeutung beigemessen habe. Nach Auffassung der Kammer ging es bei diesem Argument weniger darum zu belegen, dass die Einspruchsabteilung ihr Ermessen unter Nichtbeachtung der richtigen Kriterien oder in willkürlicher Weise ausgeübt habe, sondern darum, warum die Einspruchsabteilung das Dokument D10 – dem Beschwerdeführer zufolge – als prima facie relevant hätte erachten müssen.
In T 307/22 allerdings überprüfte die Kammer die materiellrechtliche Grundlage (gültige Inanspruchnahme der Priorität) einer Nichtzulassungsentscheidung der Einspruchsabteilung. Die Vorinstanz hatte nach Ansicht der Kammer verkannt, dass der beanspruchten Erfindung nur eine Teilpriorität zukam. Die Kammer übte daher eigenes Ermessen aus. Die betreffende Entgegenhaltung D7 ließ sie aber dennoch wegen mangelnder Relevanz für die Neuheit nicht zu. Die Relevanz für die erfinderische Tätigkeit hatte der Beschwerdeführer erstmals in der mündlichen Verhandlung vorgetragen. Dieser Vortrag wurde nach Art. 13 (1), (2) VOBK 2020 nicht zugelassen, weil D7 prima facie für die erfinderische Tätigkeit der Alternativen mit späterem Zeitrang nicht relevant war.
(ii) Fehlerhafte Anwendung des Kriteriums "prima facie nicht relevanter als andere in der Akte befindliche Dokumente"
In T 435/20 erklärte die Kammer, dass die Einspruchsabteilung irrtümlich die zusammen mit den stützenden Dokumenten (D81 bis D90) eingereichte Erklärung eines technischen Sachverständigen und die Argumentation des Vertreters für äquivalent erachtet und diese Tatsache als Rechtfertigung dafür angesehen hatte, die Erklärung und die stützenden Dokumente nicht zuzulassen. Die Kammer betonte, dass vom zugelassenen Vertreter eines Beteiligten vorgetragene Argumente nicht als Beweismittel im Sinne des Art. 117 (1) EPÜ gelten und folglich ein unterschiedliches Gewicht haben können je nachdem, ob sie durch weitere Beweismittel untermauert werden.
(iii) Ungenügend begründete Ermessensentscheidung – fehlerhafte Ermessensausübung
In der Sache T 2055/20 war der Hilfsantrag 1 in der mündlichen Verhandlung vor der Einspruchsabteilung eingereicht worden, die ihn mit der Begründung nicht zugelassen hatte, dass er den gegen den Hauptantrag erhobenen Einwand der mangelnden erfinderischen Tätigkeit prima facie nicht ausräume. Die Kammer befand jedoch, dass die Einspruchsabteilung in ihrer schriftlichen Entscheidung lediglich eine unbegründete Aussage zur Nichtzulassung des Hilfsantrags 1 getroffen hatte. Sie hatte insbesondere nicht begründet, warum dieser Antrag den Einwand prima facie nicht ausräumte. Zudem waren laut der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor der Einspruchsabteilung bei der Erörterung der Zulassung dieses Antrags nur Fragen der Gegenstandserweiterung aufgeworfen und mit den Beteiligten besprochen worden. Die Kammer befand daher, dass die Entscheidung der Einspruchsabteilung das Ergebnis einer fehlerhaften Ermessensausübung war und ließ den Antrag zum Verfahren zu.
In T 1657/20 war für die Kammer nicht nachvollziehbar, ob die mit fehlender Prima-facie-Relevanz begründete Nichtzulassungsentscheidung der Einspruchsabteilung ermessenfehlerfrei war. Die Entgegenhaltung A8 war im Einspruchsverfahren verspätet eingereicht und von der Einspruchsabteilung wegen fehlender Prima-facie-Relevanz nicht zum Verfahren zugelassen worden. Nach Ansicht der Kammer ging aber aus der angefochtenen Entscheidung nicht vollständig hervor, auf welcher Tatsachengrundlage die Einspruchsabteilung ihre Ermessensentscheidung getroffen hatte. Insbesondere begründete diese die fehlende Prima-facie-Relevanz nur im Hinblick auf Anspruch 1 des Hauptantrags, nicht aber hinsichtlich des breiteren Anspruchs 15. Auch blieb fraglich, inwieweit die Einspruchsabteilung eine Prüfung auf Prima-facie-Relevanz für erfinderische Tätigkeit vorgenommen hatte. Die Kammer übte daher ihr eigenes Ermessen aus und ließ A8 nach Art. 12 (4) und (6) VOBK 2020 zum Beschwerdeverfahren zu.