3.2. Versuche zur Lösung des Konflikts
Anknüpfend an T 271/84 (ABl. 1987, 405), T 371/88 (ABl. 1992, 157), T 673/89 und T 214/91 vertrat die Kammer in der Entscheidung T 438/98, die die Berichtigung eines offenkundigen Schreibfehlers betraf, die Auffassung, eine Anspruchsänderung, die der Behebung eines Widerspruchs diene, verstoße nicht gegen Art. 123 (2) oder (3) EPÜ 1973, wenn der berichtigte Anspruch dasselbe zum Ausdruck bringe wie die zutreffende Auslegung des bisherigen Anspruchs aufgrund der Beschreibung.
Die Kammer in T 1018/02 stellte jedoch fest, dass die Beschreibung nicht herangezogen werden kann, um einem beanspruchten Merkmal, das als solches dem Fachmann eine klare, glaubhafte technische Lehre vermittelt, eine andere Bedeutung zu verleihen. Um Übereinstimmung mit der ursprünglichen Offenbarung zu erreichen, hätte das Merkmal gestrichen werden müssen (Art. 123 (2) EPÜ), was jedoch gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen hätte, weswegen die Kammer das Patent widerrief. S. auch T 1202/07.
In T 195/09 hatte der Beschwerdeführer, in Bezug auf den Konflikt zwischen Art. 123 (2) und (3) EPÜ auf T 108/91 verwiesen, wonach eine unrichtige technische Aussage in einem erteilten Anspruch, die mit der Gesamtoffenbarung des Patents offensichtlich unvereinbar ist und gegen die Erfordernisse von Art. 123 (2) EPÜ verstoßen würde, durch die richtige Angabe der betreffenden technischen Merkmale ersetzt werden kann, ohne dass ein Verstoß gegen Art. 123 (3) EPÜ vorliegt. Die Kammer betonte in T 195/09, dass T 108/91 ganz eindeutig von G 1/93 überholt worden ist (s. auch T 1746/10, T 1896/11).
In T 131/15 hätte eine streng geometrische Auslegung der Formulierung "entgegengesetzte Richtung" in Anspruch 1 des erteilten Patents alle beschriebenen Ausführungsformen aus dem Schutzbereich ausgeschlossen und somit dazu geführt, dass der geänderte Anspruch 1 des einzigen Antrags gegen Art. 123 (3) EPÜ verstoßen hätte. Die Kammer kam jedoch in Anbetracht der in G 2/88 (ABl. 1990, 93) unter Bezugnahme auf Art. 69 (1) EPÜ 1973 und das zugehörige Auslegungsprotokoll aufgestellten Grundsätze zu folgendem Schluss: Wenn eine Formulierung in einem erteilten Anspruch bei wörtlicher und isolierter Auslegung bewirkt, dass alle offenbarten Ausführungsformen aus dem Schutzbereich ausgeschlossen werden, sich aber aus dem Patent selbst eine Definition dieser Formulierung herleiten lässt, der zufolge die offenbarten Ausführungsformen (oder zumindest einige davon) unter den Anspruch fallen würden, so sollte der Schutzbereich bei der Beurteilung, ob die Erfordernisse des Art. 123 (3) EPÜ erfüllt sind, in der Regel so ausgelegt werden, dass er zumindest das umfasst, was gemäß dieser Definition – sofern sie angesichts der normalen Bedeutung der in der Formulierung verwendeten Worte nicht offensichtlich sinnwidrig ist – unter den Anspruch fallen würde. Da die Beschreibung eine Grundlage für eine weniger strikte Auslegung der Formulierung "entgegengesetzte Richtung" bot, verstieß die Wiederaufnahme in Anspruch 1 des einzigen Antrags eines ursprünglich offenbarten Teil des betreffenden Merkmals, der im Anspruch in der erteilten Fassung weggelassen worden war, nicht gegen Art. 123 (3) EPÜ.
Entgegen der Ansicht des Beschwerdeführers (Patentinhabers) entschied die Kammer in T 1127/16, dass T 131/15 einen vom vorliegenden Fall völlig verschiedenen Sachverhalt betraf. Ihrer Auffassung nach ging es in T 131/15 – unabhängig davon, dass der dort vorgeschlagene umfangreiche und komplizierte Test für Dritte vermutlich einen unzumutbaren Aufwand bei der Ermittlung des "wahren" (d. h. angestrebten) Schutzumfangs des erteilten Patents bedeuten würde – darum, dass es im Fall einer wörtlichen Lesart der betreffenden Formulierung überhaupt keine Übereinstimmung zwischen der Beschreibung und dem Anspruch in der erteilten Fassung gegeben hätte. Dies war mit dem vorliegenden Fall nicht vergleichbar, wo das betreffende – wenn auch nicht offenbarte – Merkmal, so wie es die Kammer auslegte, eine eindeutige und glaubhafte technische Lehre enthielt, die sowohl mit dem Anspruch in der erteilten Fassung als auch mit der beschriebenen Ausführungsform kompatibel war und somit nicht vollständig außerhalb des Schutzbereichs lag. Folglich verstieß Anspruch 1 des zweiten Hilfsantrags gegen Art. 123 (3) EPÜ, was zu einer unentrinnbaren Falle führte.