3. Vom EPA erteilte Auskünfte
Hat das EPA eine an eine Bedingung geknüpfte und deshalb ungültige Erklärung zunächst so behandelt, als läge eine gültige Verfahrenshandlung vor, so darf es seinem diesbezüglichen Verhalten, das der Anmelder seiner Entscheidung über das weitere Vorgehen zugrunde legt, später nicht zuwiderhandeln, da dies gegen das allgemein anerkannte Verbot des "venire contra factum proprium" verstieße – so die Kammer in J 27/94 (ABl. 1995, 831) (s. auch T 1825/14).
Im Verfahren J 14/94 (ABl. 1995, 824) hatte der Anmelder es versäumt, die dritte Jahresgebühr zu entrichten. Dennoch setzte das EPA das Prüfungsverfahren über mehrere Jahre fort, ohne den Anmelder von einem Rechtsverlust in Kenntnis zu setzen. Die Kammer gelangte hier zu dem Schluss, dass, wenn das EPA die Beteiligten und die Öffentlichkeit durch sein Verhalten über längere Zeit hinweg in dem begründeten Glauben lasse, dass kein Rechtsverlust eingetreten sei, es sich später nicht auf einen mehrere Jahre zurückliegenden Rechtsverlust berufen könne, ohne gegen das Verbot des "venire contra factum proprium" und damit gegen den Grundsatz des Vertrauensschutzes zu verstoßen. Sofern das EPA den Anmelder nicht auf die noch ausstehende Zahlung hingewiesen, spätere Jahresgebühren anstandslos angenommen und das Prüfungsverfahren mehrere Jahre lang fortgesetzt habe, könne unter solchen Umständen die verspätete Zahlung einer Jahresgebühr ausnahmsweise als rechtzeitig bewirkt angesehen werden.
In J 1/08 gelangte die Juristische Beschwerdekammer zu der Auffassung, dass der Anmelder nicht schon allein aufgrund der Tatsache, dass das EPA sich zugegebenermaßen extrem lange (von August 2004 bis März 2007) nicht mit seiner Anmeldung befasst hatte, darauf vertrauen durfte, dass die Anmeldung vom EPA als noch anhängig angesehen wurde. Der Sachverhalt, mit dem sich die Kammer vorliegend zu befassen hatte, unterschied sich somit von demjenigen in J 14/94, in dem das EPA das Prüfungsverfahren mehrere Jahre lang aktiv fortgesetzt hatte (s. auch J 19/16).
In J 18/96 (ABl. 1998, 403) erkannte die Kammer den beanspruchten Anmeldetag aufgrund des Grundsatzes des Vertrauensschutzes zu, obwohl ein Erfordernis des Art. 80 EPÜ 1973 (R. 40 EPÜ) für die Zuerkennung eines Anmeldetags nicht erfüllt war. Denn die Eingangsstelle habe durch Absenden einer Mitteilung nach R. 85a EPÜ 1973 (gestrichen mit EPÜ 2000) den Eindruck erweckt, es liege eine rechtswirksame Anmeldung vor (s. auch J 5/89).
In T 926/09 behandelte die Kammer die betreffenden Ansprüche, als seien sie ursprünglich mit der Anmeldung eingereicht worden, obwohl sie de facto erst im Zeitraum vor dem Erhalt des europäischen Recherchenberichts eingingen und damit ein Verstoß gegen R. 86 (1) EPÜ 1973 (R. 137 (1) EPÜ) vorlag. Hier konnte sich der Beschwerdeführer auf die Mitteilung der Eingangsstelle verlassen, dass der Anspruchssatz zugelassen worden sei.
In T 2364/12 hob die Kammer die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf, wonach der Einspruch unzulässig sei, weil er nicht fristgerecht eingelegt worden sei. Die Kammer befand, dass der Einsprechende auf der Grundlage des Bescheids der Einspruchsabteilung, die Einspruchsgebühr gelte als fristgerecht entrichtet, davon ausgehen konnte, dass der Einspruch rechtswirksam eingelegt wurde. S. auch Kapitel III.B. "Rechtliches Gehör".
In T 2246/13 befand die Kammer, dass der Beschwerdeführer schon aufgrund des Schreibens, mit dem das EPA die mündliche Verhandlung absagte und ankündigte, dass das Verfahren schriftlich fortgesetzt werde, darauf vertrauen konnte, Gelegenheit zur Einreichung von Stellungnahmen zu haben, und sei es nur, um auf die geänderte Sachlage infolge der Zurücknahme des Antrags auf mündliche Verhandlung durch den anderen Beteiligten zu reagieren. Daher konnte der Beschwerdeführer nicht davon ausgehen, dass am gleichen Tag eine Entscheidung auf Widerruf des Patents ergehen würde. Die Kammer hob die Entscheidung der Einspruchsabteilung auf. S. auch T 1423/13.
In J 8/18 war die Beschwerdegebühr zweimal entrichtet worden: einmal mit dem ermäßigten Betrag (für KMU) und einmal mit dem regulären Betrag. Letzterer wurde zurückgezahlt. Eine Mitteilung des EPA legte nahe, dass es für die Inanspruchnahme der ermäßigten Beschwerdegebühr ausreicht, wenn der Beschwerdeführer spätestens zum Zeitpunkt der Entrichtung der ermäßigten Gebühr einfach erklärt, ein KMU zu sein. Auch wenn die Mitteilung für die Juristische Beschwerdekammer nicht bindend war, konnte sie doch den Beschwerdeführer nach dem Grundsatz des Vertrauensschutzes in seiner Annahme stützen, dass seine Beschwerde nach der Rückzahlung der regulären Beschwerdegebühr als eingereicht oder zulässig galt, bevor die Akte an die Beschwerdekammern überging. S. auch J 10/20, wo die Kammer befand, dass sich die Nutzer auf die Auskünfte zur Verlängerung von Fristen in den Mitteilungen des EPA verlassen könnten, ohne dass ihnen Nachteile entstünden. Dies gelte unabhängig davon, ob die Zustellung oder Übermittlung der Post aufgrund von COVID-19 tatsächlich im Sinne von R. 134 EPÜ (auf der die betreffende Mitteilung basierte) gestört war.