6. Verfahrenstechnische Behandlung von Anträgen auf Wiedereinsetzung
Über den Antrag entscheidet das Organ, das über die versäumte Handlung zu entscheiden hat (R. 136 (4) EPÜ, Art. 122 (4) EPÜ 1973).
Über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der Beschwerde befinden die Beschwerdekammern (Art. 108 EPÜ), denn die Entscheidung, ob die Beschwerde wegen eines Verstoßes gegen Art. 108 EPÜ unzulässig ist, liegt nach R. 101 (1) EPÜ bei der Beschwerdekammer (T 1973/09; T 808/03 vom 12. Februar 2004 date: 2004-02-12; T 949/94 vom 24. März 1995 date: 1995-03-24; T 473/91 date: 1992-04-09, ABl. 1993, 630). Die Beschwerdekammern entscheiden daneben auch über den Antrag auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Einreichung der schriftlichen Beschwerdebegründung (T 624/96).
Diese Befugnis, über die Zulässigkeit einer Beschwerde zu entscheiden, wird zwar durch die Ausnahme in Art. 109 (1) EPÜ (Abhilfe) eingeschränkt, doch gewähre dieser dem erstinstanzlichen Organ nur eine begrenzte Befugnis, die eigene Entscheidung aufzuheben, wenn es die Beschwerde für zulässig und begründet erachte (T 808/03 date: 2004-02-12, T 1973/09). Die im Rahmen des Art. 109 EPÜ zu klärende Frage der Zulässigkeit einer Beschwerde fällt nur dann in die Zuständigkeit der Erstinstanz, wenn sie unmittelbar anhand des bloßen Beschwerdevorbringens (Beschwerdeschrift und Beschwerdebegründung, Zeitpunkt der Entrichtung der Beschwerdegebühr) entschieden werden kann. Für einen Antrag auf Wiedereinsetzung in eine die Beschwerde selbst betreffende Frist ist demnach ausschließlich die Beschwerdekammer zuständig (T 473/91 date: 1992-04-09, T 949/94 date: 1995-03-24, T 65/11 date: 2011-11-16).
In W 3/93 date: 1993-10-21 (ABl. 1994, 931) entschied die Kammer, dass sie für die Prüfung des Wiedereinsetzungsantrags zuständig sei, weil sie auch über den Widerspruch zu entscheiden habe (Art. 122 (4) EPÜ 1973).
In T 555/08 trat der Rechtsverlust (Fiktion der Rücknahme der Anmeldung wegen Nichtentrichtung einer Jahresgebühr) während des laufenden Beschwerdeverfahrens ein. Mit der Einleitung eines Beschwerdeverfahrens geht die Zuständigkeit für den Fall von der ersten Instanz auf die Beschwerdekammern über (sogenannter Devolutiveffekt, vgl. dazu T 473/91 date: 1992-04-09, ABl. 1993, 630). Die Beurteilung des vorliegenden Wiedereinsetzungsgesuchs fällt daher in die Zuständigkeit der mit dem anhängigen Beschwerdeverfahren befassten Beschwerdekammer (vgl. T 191/82 date: 1985-04-16, ABl. 1985, 189; T 936/90 vom 22. Juli 1993 date: 1993-07-22; T 708/08; T 1935/08; T 1426/14).
In T 1381/11 verwies die Kammer auf T 555/08 und befand, dass das Beschwerdeverfahren bei einem Rechtsverlust wegen Nichtentrichtung von Jahresgebühren automatisch beendet ist. Ob eine Beschwerde anhängig war oder nicht, hing also unmittelbar von dem im Beschwerdeverfahren eingereichten Wiedereinsetzungsantrag bezüglich der Nichtentrichtung der Jahresgebühr ab. Der Formalsachbearbeiter hätte deshalb im Namen der Beschwerdekammer handeln müssen und nicht im Namen der Prüfungsabteilung, bei der die Sache nicht mehr anhängig war. Die Kammer vertrat daher die Auffassung, dass sie gemäß Art. 111 (1) Satz 2 EPÜ befugt war, über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden (s. auch T 649/13).
In T 1815/15 stellte der Beschwerdeführer (Patentinhaber) einen Antrag auf Wiedereinsetzung wegen Fristversäumung nach R. 82 (3) EPÜ. Im Einklang mit der Begründung von G 1/90 und unter Berufung auf das ihr mit Art. 111 (1) EPÜ eingeräumte Ermessen erklärte die Kammer, sie werde über den Antrag auf Wiedereinsetzung entscheiden, der eingereicht wurde, als die Beschwerde bereits anhängig war.
In J 22/86 (ABl. 1987, 280) stellte die Juristische Kammer fest, dass für die Entscheidung bei Nichtentrichtung der Erteilungs- und der Druckkostengebühr und bei Nichteinreichung der Übersetzung zunächst die Prüfungsabteilung zuständig ist. Unter den besonderen Umständen des vorliegenden Falls hat die Juristische Kammer jedoch gemäß Art. 111 (1) EPÜ 1973 beschlossen, im Rahmen der Zuständigkeit der Prüfungsabteilung über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden (s. auch J 9/86).
In T 26/88 (ABl. 1991, 30) kam der Beschwerdeführer der Aufforderung nach R. 58 (5) EPÜ 1973 nicht nach, innerhalb von drei Monaten nach Zustellung der Aufforderung die Druckkostengebühr zu entrichten und eine Übersetzung der Ansprüche einzureichen. Die Kammer hielt den der Entscheidung J 22/86 zugrunde liegenden Fall für ganz anders gelagert als den hier vorliegenden; deshalb sei es auch gerechtfertigt gewesen, dass die Kammer damals ausnahmsweise im Rahmen der Zuständigkeit der Prüfungsabteilung über den Wiedereinsetzungsantrag entschieden habe. Zuständig sei im vorliegenden Fall der Formalsachbearbeiter der Einspruchsabteilung (vgl. auch T 522/88).
In J 10/93 (ABl. 1997, 91) hatte die Rechtsabteilung nicht nur eine Entscheidungen getroffen die die Übertragung von Rechten an einer europäischen Patentanmeldung, für die sie nach Art. 20 (1) EPÜ 1973 zuständig ist, sondern auch den Antrag des Beschwerdeführers auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand, den sie als unzulässig zurückwies. Da das Versäumnis darin bestand, dass der Anmelder einen gemäß Art. 96 (2) EPÜ 1973 ergangenen Bescheid der Prüfungsabteilung nicht beantwortet hatte, war das Organ, das über den Wiedereinsetzungsantrag zu entscheiden hatte, die Prüfungsabteilung (Art. 122 (4) EPÜ 1973). Die Juristische Kammer hob die Entscheidung auf und gelangte zu dem Schluss, dass die Rechtsabteilung in diesem Punkt ihre Befugnisse überschritten habe. Dies könne nicht mit der Begründung gerechtfertigt werden, man habe vor der Prüfung des Eintragungsantrags zuerst über die Wiedereinsetzung entscheiden müssen.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”