3.3.3 Erzeugnisansprüche auf Pflanzen oder Pflanzenmaterial
Am 4. April 2019 legte der Präsident des Europäischen Patentamts der Großen Beschwerdekammer Rechtsfragen zur Auslegung von Art. 164 (2) EPÜ und der Beurteilung von R. 28 (2) EPÜ im Licht besagter Vorschrift vor.
In ihrer Stellungnahme G 3/19 analysierte die Große Beschwerdekammer zunächst Umfang und Schwerpunkt der Vorlage und stellte fest, dass die beiden zugrunde liegenden Fragestellungen zusammenhingen und in einer einzigen Frage zusammengefasst werden konnten:
"Könnte unter Berücksichtigung der Entwicklungen, die nach einer Entscheidung der Großen Beschwerdekammer eingetreten sind, bei der eine Auslegung des Umfangs des Patentierbarkeitsausschlusses von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren in Art. 53 b) EPÜ getroffen wurde, dieser Ausschluss negative Auswirkungen auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen oder Product-by-Process-Ansprüchen haben, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert?"
Auslegung des Art. 53 b) EPÜ und spätere Übereinkunft oder Übung der Vertragsstaaten
Hinsichtlich des Art. 53 b) EPÜ für sich genommen, d. h. ohne Bezugnahme auf R. 28 (2) EPÜ, bestätigte die Große Beschwerdekammer ihre früheren Entscheidungen G 1/98, G 2/07 und G 1/08 sowie G 2/12 und G 2/13. Sie fand keine spätere Übereinkunft oder Übung im Sinne von Art. 31 (3) a) und b) des Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge zur früheren Auslegung.
Dynamische Auslegung im Lichte der Regel 28 (2) EPÜ
Nach Auffassung der Großen Beschwerdekammer führt die Anwendung der verschiedenen Auslegungsmethoden nach Art. 31 und 32 des Wiener Übereinkommens, bei der auch die späteren Entwicklungen in den Vertragsstaaten berücksichtigt werden, nicht zu der Feststellung, dass der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen" in Art. 53 b) EPÜ klar und eindeutig so zu verstehen wäre, dass er sich auf Erzeugnisse erstreckt, die durch solche Verfahren definiert oder gewonnen werden. Sie bestätigte daher ihre diesbezüglichen Schlussfolgerungen in G 2/12. Gleichzeitig räumte die Große Beschwerdekammer jedoch ein, dass Art. 53 b) EPÜ einem solchen umfassenderen Verständnis des Verfahrensausschlusses auch nicht entgegensteht. Außerdem erkannte sie an, dass sich die der Entscheidung G 2/12 zugrunde liegende Rechts- und Sachlage mit dem Erlass der R. 28 (2) EPÜ wesentlich geändert hat. Diese Änderung stellt einen neuen Aspekt dar, der sich seit der Unterzeichnung des EPÜ ergeben hat und Grund zu der Annahme geben kann, dass eine grammatische und restriktive Auslegung des Wortlauts des Art. 53 b) EPÜ in Widerspruch zu den vom Gesetzgeber verfolgten Zielen steht, während eine dynamische Auslegung zu einem vom Wortlaut der Vorschrift abweichenden Ergebnis führen könnte. Die Große Beschwerdekammer befand, dass der Patentierbarkeitsausschluss von Erzeugnissen, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, nicht mit dem Wortlaut des Art. 53 b) EPÜ unvereinbar ist, der diese breitere Auslegung des Begriffs "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" nicht ausschließt. Sie kam zu dem Ergebnis, dass die Aufnahme der R. 28 (2) EPÜ angesichts der eindeutigen gesetzgeberischen Absicht der im Verwaltungsrat vertretenen Vertragsstaaten und im Hinblick auf Art. 31 (4) des Wiener Übereinkommens eine dynamische Auslegung des Art. 53 b) EPÜ zulässt und sogar verlangt. Die Große Beschwerdekammer gab deshalb die in G 2/12 getroffene Auslegung des Art. 53 b) EPÜ auf und befand im Lichte der R. 28 (2) EPÜ, dass der Begriff "im Wesentlichen biologische Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren" in Art. 53 b) EPÜ so zu verstehen und anzuwenden ist, dass er sich auf Erzeugnisse erstreckt, die ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen werden, oder auf Fälle, in denen das beanspruchte Verfahrensmerkmal ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definiert.
Auf dieser Grundlage beantwortete die Große Beschwerdekammer die Vorlagefrage schließlich wie folgt:
"Unter Berücksichtigung der Entwicklungen nach den Entscheidungen G 2/12 und G 2/13 der Großen Beschwerdekammer wirkt sich der Patentierbarkeitsausschluss von im Wesentlichen biologischen Verfahren zur Züchtung von Pflanzen oder Tieren in Art. 53 b) EPÜ negativ auf die Gewährbarkeit von auf Pflanzen, Pflanzenmaterial oder Tiere gerichteten Erzeugnisansprüchen und Product-by-Process-Ansprüchen aus, wenn das beanspruchte Erzeugnis ausschließlich durch ein im Wesentlichen biologisches Verfahren gewonnen wird oder die beanspruchten Verfahrensmerkmale ein im Wesentlichen biologisches Verfahren definieren. Diese negative Auswirkung gilt nicht für vor dem 1. Juli 2017 erteilte europäische Patente und für anhängige europäische Patentanmeldungen, die vor diesem Tag eingereicht wurden und noch anhängig sind."