E. Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit nach Artikel 57 EPÜ
Eine weitere Voraussetzung der gewerblich anwendbaren Erfindung im Sinne des Art. 57 EPÜ ist, dass die in der Anmeldung nach Art. 83 EPÜ offenbarte technische Lehre ausführbar ist.
In T 718/96 stellte die Kammer fest, dass die Ausführbarkeit in erster Linie an Art. 83 bzw. Art. 100 b) EPÜ 1973 zu messen ist, wonach die Erfindung so offenbart sein muß, dass sie von einem Fachmann ausgeführt werden kann. Die mangelnde Ausführbarkeit könnte zwar auch nach Art. 57 EPÜ 1973 beanstandet werden, denn eine nicht ausführbare Erfindung ist auch gewerblich nicht anwendbar; als rechtliche Grundlage einer Beanstandung ist jedoch stets die speziellste anwendbare Vorschrift heranzuziehen. Feststellungen zur Ausführbarkeit gelten aber gleichermaßen für die gewerbliche Anwendbarkeit nach Art. 57 EPÜ denn eine nicht ausführbare Erfindung ist auch gewerblich nicht anwendbar.
Die Kammer stellte in T 1450/07 fest, dass die Informationen in der Anmeldung in der eingereichten Fassung die Identität der beanspruchten Verbindung erscheinen lassen sollten. So könnte die Verbindung z. B. einer bekannten Molekülfamilie zugeordnet werden, indem ihre Primärstruktur mit der von aus dem Stand der Technik bekannten Molekülen verglichen wird. Anschließend könnten ihre mutmaßlichen Funktionen offenbart werden. Versuchsdaten müssten nicht unbedingt enthalten sein. Es könnten einige plausible Annahmen getroffen werden, wobei die bekannten Funktionen anderer Familienmitglieder und beispielsweise die Verteilung der beanspruchten Verbindung im Körper berücksichtigt werden könnten. Die genannten Behandlungen waren dem Molekül gemessen an der Funktion plausibel zugeordnet. Nachträglich veröffentlichte Beweismittel, die diese Annahmen stützen, seien immer willkommen, wobei auch die Qualität der Informationen maßgebend sei. Die Kammer betonte, dass jeder Fall gesondert betrachtet werden müsse. Im vorliegenden Fall entschied sie, dass das Erfordernis der gewerblichen Anwendbarkeit erfüllt sei.
In T 18/09 erklärte die Kammer, dass die enge Wechselbeziehung zwischen Art. 83 und 57 EPÜ bereits in früheren Entscheidungen thematisiert wurde (u. a. T 898/05). Im Hinblick auf Art. 83 EPÜ besagt die ständige Rechtsprechung der Beschwerdekammern, dass gegen ein Patent nur dann der Einwand mangelnder Offenbarung erhoben werden kann, wenn ernsthafte, durch nachprüfbare Fakten erhärtete Zweifel bestehen (T 19/90, ABl. 1990, 476). Die Kammer erachtete es als ungerechtfertigt und unbillig, bei Art. 57 EPÜ einen anderen Beweismaßstab anzulegen.
In T 541/96 bestand der Kern der Erfindung in der Herbeiführung einer Kernfusion zwischen leichten Kernen und schweren instabilen Kernen bei niedriger Temperatur mittels eines elektrischen Felds. Die Kammer stellte fest, dass eine Erfindung oder Patentanmeldung für eine angebliche Erfindung, die nicht den allgemein anerkannten physikalischen Gesetzen entspreche, nicht im Einklang mit den Erfordernissen der Art. 57 und Art. 83 EPÜ 1973 stehe, da sie nicht benutzt werden könne und somit nicht gewerblich anwendbar sei.
Zwar schließe das Übereinkommen "revolutionäre" Erfindungen nicht von der Patentierung aus. Jedoch sei nach Art. 83 EPÜ 1973 die für eine ausreichende Offenbarung einer Erfindung erforderliche Menge an Informationen in einem gewissen Maße davon abhängig, welcher Art die Erfindung tatsächlich sei. Scheine eine Erfindung jedoch zumindest anfänglich gegen die allgemein anerkannten physikalischen Gesetze und bekannten Theorien zu verstoßen, müsse die Offenbarung ausführlich genug sein, um dem mit den Hauptströmungen der Wissenschaft und Technik vertrauten Fachmann zu belegen, dass die Erfindung tatsächlich durchführbar (d. h. gewerblich anwendbar) sei. Dazu gehöre u. a. die Bereitstellung aller Daten, die der Fachmann benötige, um die beanspruchte Erfindung auszuführen, da von diesem Fachmann, der ja solche Daten nicht aus einer allgemein anerkannten Theorie ableiten könne, nicht erwartet werden könne, dass er die Lehre der Erfindung nur durch Herumexperimentieren verwirkliche.
Der Beschwerdeführer hatte weder Versuchsdaten noch eine verlässliche theoretische Grundlage geliefert, die den Fachmann in die Lage versetzen würden, die Ausführbarkeit der Erfindung zu beurteilen; die Beschreibung beruhte im Wesentlichen auf allgemeinen Aussagen und Spekulationen, die sich nicht als klare und umfassende technische Lehre eigneten. Es war somit unerheblich, ob die in der Beschreibung genannten Fusionsreaktionen theoretisch möglich wären oder unter bestimmten Bedingungen tatsächlich eintreten könnten.