3.1. Offenbarung der in der Nachanmeldung beanspruchten Erfindung in der Voranmeldung
Laut G 2/98 (ABl. 2001, 413) kann gemäß Art. 4 H PVÜ die Priorität nicht deshalb verweigert werden, weil bestimmte Merkmale der Erfindung, für welche die Priorität beansprucht wird, nicht in den Patentansprüchen der Anmeldung enthalten sind, deren Priorität in Anspruch genommen wird, sofern nur die Gesamtheit der Anmeldung diese Merkmale deutlich offenbart. Die Priorität für einen Anspruch ist anzuerkennen, wenn der Gegenstand des Anspruchs – implizit oder explizit – in den die Offenbarung betreffenden Anmeldungsunterlagen deutlich offenbart ist, insbesondere in Form eines Patentanspruchs, einer in der Beschreibung der Prioritätsanmeldung genannten Ausführungsart oder eines dort aufgeführten Beispiels. Art. 88 (4) EPÜ entspricht fast wörtlich Art. 4 H PVÜ.
In früheren Entscheidungen wurde ebenfalls festgestellt, dass es nach Art. 88 (4) EPÜ genügt, wenn die Anspruchsmerkmale der Nachanmeldung vom Gesamtinhalt der Voranmeldung offenbart werden (T 184/84, T 497/91, T 359/92).
Enthält die Prioritätsunterlage keine Ansprüche, so heißt dies nicht, dass die Erfordernisse des Art. 88 (4) EPÜ nicht erfüllt wären. Art. 88 (4) EPÜ kann nicht dahin gehend ausgelegt werden, dass eine Prioritätsunterlage Ansprüche aufweisen muss, um eine vorschriftsmäßige nationale Anmeldung im Sinne des Art. 87 (3) EPÜ darzustellen, die ein Prioritätsrecht begründen kann (T 469/92). Auch wenn es in diesem Fall möglicherweise schwieriger festzustellen ist, ob die Prioritätsunterlage dieselbe Erfindung offenbart, finden die Grundsätze von G 2/98 hier ebenfalls Anwendung (T 1437/10). S. auch beispielsweise die Sache T 525/13, bei der eine auf der Grundlage einer vorläufigen US-Anmeldung beanspruchte Priorität für ungültig befunden wurde.
In T 515/00 betonte die Kammer, dass der Vergleich des Anspruchs mit dem entsprechenden Anspruch der früheren Anmeldung kein zulässiges Vorgehen sei (s. auch Zusammenfassung in diesem Kapitel II.D.3.2.).
Der Fall T 409/90 (ABl. 1993, 40) zeigt, dass ein weiter Anspruch in der Voranmeldung nicht unbedingt eine taugliche Grundlage für ein Prioritätsrecht ist. Bei der Beurteilung dessen, was in einem Anspruch eines Prioritätsdokuments offenbart ist, muss der Zweck des Anspruchs, nämlich die Definition des Schutzbegehrens, berücksichtigt werden. Die Tatsache, dass ein Anspruch in einem Prioritätsdokument so breit ist, dass er konkrete Gegenstände, die erstmals in einer späteren Anmeldung eingereicht werden, einschließt, ist an sich noch kein ausreichender Beweis dafür, dass der später eingereichte Gegenstand bereits in dem Prioritätsdokument offenbart war oder dass spätere Ansprüche, die auf diesem Gegenstand beruhen, noch dieselbe Erfindung definieren, die bereits Gegenstand des Prioritätsdokuments war (s. auch Zusammenfassung von T 77/97 in diesem Kapitel II.D.3.1.8).
Auch in den Zeichnungen können Erfindungsmerkmale offenbart werden (T 169/83, ABl. 1985, 193; T 837/13; ebenso T 1434/13, wo die Zeichnungen des Prioritätsdokuments nicht alle Alternativen von Anspruch 1 zeigten).
In T 449/04 wies die Kammer darauf hin, dass "dieselbe Erfindung" im Sinne von Art. 87 (1) EPÜ 1973 nicht die Vergleichsbeispiele umfasst, die in einer früheren Anmeldung des Anmelders klar und eindeutig vom Umfang der Erfindung ausgeschlossen sind (s. ausführliche Zusammenfassung in diesem Kapitel II.D.4.1.).