7.3.4 Rechtsprechung zu mündlichen Verhandlungen nach G 1/21 und vor dem Ende der Pandemiemaßnahmen vor den Beschwerdekammern
Dieser Abschnitt wurde aktualisiert, um die Rechtsprechung und Gesetzänderungen bis 31. Dezember 2023 zu berücksichtigen. Die vorherige Version dieses Abschnitts finden Sie in "Rechtsprechung der Beschwerdekammern", 10. Auflage (PDF). |
In T 2817/19 wurde der Antrag des Beschwerdegegners auf Durchführung der mündlichen Verhandlung als Präsenzverhandlung unter Berufung auf die Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 der Großen Beschwerdekammer abgelehnt, in der diese die Durchführung der mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz in einem allgemeinen Notfall auch ohne das Einverständnis aller Beteiligten für zulässig befunden hatte.
T 1197/18 ist ein weiteres Beispiel für eine Entscheidung, die zu einem Zeitpunkt erging, als nur die Entscheidungsformel von G 1/21 date: 2021-07-16 verfügbar war. In T 1197/18 kam die Kammer zu dem Schluss, dass die Pandemie ein allgemeiner Notfall ist und in einem solchen der Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 zufolge die Durchführung der mündlichen Verhandlung vor der Kammer in Form einer Videokonferenz mit dem EPÜ vereinbar ist, auch wenn der Beschwerdeführer nicht damit einverstanden war.
Die Kammer in T 2474/17 stellte fest, dass ihre Entscheidung, die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen, mit Art. 15a (1) VOBK 2020 und mit der Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 in Einklang steht. Der Begründung der Großen Beschwerdekammer zufolge ist die Pandemie ein allgemeiner Notfall, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, persönlich an einer mündlichen Verhandlung in den Räumlichkeiten des EPA teilzunehmen, und somit ein "guter Grund", die mündliche Verhandlung als Videokonferenz durchzuführen, obwohl sich der Beschwerdeführer ausdrücklich für eine Präsenzverhandlung ausgesprochen hatte. Die dauernde Vertagung mündlicher Verhandlungen während der Pandemie war ein weiterer Grund, dem Wunsch eines Beteiligten nach einer mündlichen Präsenzverhandlung nicht nachzukommen (zum Argument einer dauernden Vertagung s. auch T 934/18, T 541/17, T 1296/17). Die Kammer vertrat auch die Auffassung, dass die Komplexität des Falls nicht dergestalt war, dass eine Videokonferenz unangemessen gewesen wäre (zum Argument betreffend den Inhalt einer Sache s. auch z. B. T 934/18 und T 541/17).
In T 1791/19 beschloss die Kammer, die mündliche Verhandlung angesichts der COVID-19-Pandemiesituation, des seinerzeit bestehenden Lockdowns und der allgemeinen Reisebeschränkungen als Videokonferenz durchzuführen. Kurz bevor die Kammer die Entscheidungsformel verkündete, machte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) geltend, dass er nie sein Einverständnis mit einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz gegeben habe. Die Kammer befand, dass es Sache des Beschwerdegegners sei, rechtzeitig Fragen aufzuwerfen und Anträge zu stellen, sodass diese gebührend berücksichtigt werden könnten. Andernfalls könnte ein Beteiligter mit dem Vorbringen eines Einwands so lange warten, bis er mit einer abschlägigen Entscheidung konfrontiert sei, aber keinen Einwand vorbringen, wenn die Entscheidung zu seinen Gunsten ausfalle. Dies erschien der Kammer unbillig. Die Kammer befand, dass die Anordnung, die Anhörung als Videokonferenz durchzuführen, im Rahmen ihres Ermessens nach Art. 15a VOBK 2020 erfolgte, wie es in der Entscheidung G 1/21 date: 2021-07-16 dargelegt sei.
In der Sache T 250/19 beantragte der Beschwerdeführer (Einsprechende) während der als Videokonferenz durchgeführten mündlichen Verhandlung eine Vertagung derselben, damit die Beteiligten physisch anwesend sein könnten. Die Kammer verwies auf Art. 15a (1) VOBK 2020 und insbesondere G 1/21 date: 2021-07-16, wonach es im Ermessen der Kammer liegt, über das Format der mündlichen Verhandlung zu entscheiden. Die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz ist eine "anmessene" Alternative zur Durchführung als Präsenzverhandlung, wenn sie den Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör wahrt (G 1/21 date: 2021-07-16, Nrn. 33-43 der Entscheidungsgründe). Ob eine als Videokonferenz durchgeführte mündliche Verhandlung den Anspruch eines Beteiligten auf rechtliches Gehör nach Art. 113 EPÜ wahrt, hängt nicht davon ab, ob dieser Beteiligte einer Durchführung der mündlichen Verhandlung als Videokonferenz zugestimmt hat, sondern nur davon, ob dieser Beteiligte ausreichend Gelegenheit hatte, sich zu äußern und seinen Fall darzulegen (s. auch T 1624/20).
In T 934/18 wies die Kammer den Antrag des Beschwerdeführers 2 auf eine mündliche Präsenzverhandlung zurück. Die Kammer befand, dass "gute Gründe" vorlagen, aus denen Beteiligten laut G 1/21 date: 2021-07-16 Präsenzanhörungen verweigert werden konnten, da die COVID-19-Pandemie noch nicht vorbei war und es immer noch Einschränkungen und Beeinträchtigungen gab wie etwa Quarantäneauflagen, Zugangsbeschränkungen in den EPA-Gebäuden und andere gesundheitsbezogene Maßnahmen. Zudem hielt die Kammer fest, dass die mündliche Verhandlung in der vorliegenden Sache bereits einmal verlegt worden war. Eine weitere Vertagung sei zu vermeiden, um die Entscheidung über die Beschwerde nicht nochmals zu verzögern. Im Übrigen war die Kammer nicht der Meinung, dass es in der Sache um Angelegenheiten ging, die eine Präsenzverhandlung erforderten (zu ähnlichen Begründungen betreffend den Inhalt einer Sache s. auch z. B. T 2474/17 und T 541/17).
In T 2791/19 entschied die Kammer, die mündliche Verhandlung in Form einer Videokonferenz ohne die Zustimmung des Beschwerdeführers durchzuführen. Zur Begründung führte die Kammer aus, dass die Möglichkeit, eine mündliche Verhandlung – auch von Amts wegen – als Videokonferenz durchzuführen, explizit im Art. 15a VOBK 2020 vorgesehen ist. Darüber hinaus sei eine als Videokonferenz abgehaltene Verhandlung als mündliche Verhandlung im Sinne des Art. 116 EPÜ anzusehen, wie die Große Beschwerdekammer in G 1/21 date: 2021-07-16 entschieden habe. Nach Auffassung der Kammer rechtfertigten die Umstände im vorliegenden Fall (steigende Anzahl der Neuinfektionen in der Region München), die mündliche Verhandlung nicht als Präsenzverhandlung durchzuführen. Somit habe die Kammer entschieden, ihr Ermessen zum Schutz aller Beteiligten dahin gehend auszuüben, die mündliche Verhandlung auch ohne Zustimmung des Beschwerdeführers als Videokonferenz durchzuführen.
In T 1158/20 wurde die mündliche Verhandlung ohne Zustimmung des Beschwerdeführers als Videokonferenz durchgeführt. Die Kammer stellte fest, dass es dem Worlaut von Art. 15a (1) VOBK 2020 zufolge klar in ihrem Ermessen lag, die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz zu beschließen. Sie sah im Übrigen keinen Konflikt mit G 1/21 date: 2021-07-16. Gleichwohl beurteilte die Kammer auch, ob die mündliche Verhandlung als Videokonferenz als gleichwertige Alternative zu einer Präsenzanhörung betrachtet werden könne (die in G 1/21 date: 2021-07-16 als "Goldstandard" bezeichnet wird). Die Kammer kam zu dem Schluss, dass selbst in Anbetracht von G 1/21 date: 2021-07-16 eine mündliche Verhandlung als Videokonferenz in diesem Fall nicht nur geeignet war, sondern auch eine gleichwertige Alternative zu einer Präsenzverhandlung darstellte. Weitere Argumente in T 1158/20 zu Videokonferenz als "gleichwertige Alternative" siehe in diesem Kapitel III.C.7.3.4 d); Argumente zur Pandemiesituation siehe in diesem Kapitel III.C.7.3.4 c) und Argumente zu technischen Aspekten von Videokonferenzen siehe in diesem Kapitel III.C.7.3.4 e).
Ein Großteil der Argumentation in T 758/20 ist vergleichbar mit der in T 1158/20 (oben). Darüber hinaus betonte die Kammer, dass sie G 1/21 date: 2021-07-16 nicht dahin gehend auslege, dass es Sache des Beteiligten sei, das Format der mündlichen Verhandlung zu wählen. Die Entscheidung, ob gute Gründe es rechtfertigen, nicht auf die von einem Beteiligten bevorzugte Durchführung als mündliche Präsenzverhandlung einzugehen, sei dem Ermessen der zur mündlichen Verhandlung ladenden Beschwerdekammer anheimgestellt. Die Entscheidungsformel in G 1/21 date: 2021-07-16 könne nicht so verstanden werden, als werde die Möglichkeit, gegen den Willen eines Beteiligten eine mündliche Verhandlung als Videokonferenz anzuberaumen, auf das Vorliegen eines allgemeinen Notfalls beschränkt. Weitere Argumente hierzu siehe in diesem Kapitel III.C.7.3.4 b), III.C.7.3.4 c) und III.C.7.3.4 d).
In T 1624/20 wandelte die Kammer die mündliche Verhandlung angesichts der seinerzeit bestehenden Pandemiesituation (COVID-19) in eine Videokonferenz um. Der Beschwerdeführer rügte das neue Format und machte insbesondere geltend, dass der mit COVID-19 verbundene Notfall beendet sei, dass es keine offizielle Erklärung seitens einer Regierungsbehörde gegeben habe und dass Art. 15a VOBK 2020 nicht herangezogen werden könne, weil er in der vorliegenden Sache im Widerspruch zu G 1/21 date: 2021-07-16 stehe. Die Kammer verwies auf den Wortlaut von Art. 15a VOBK 2020 und erklärte, dass die Videokonferenz im vorliegenden Fall nicht im Widerspruch zu G 1/21 date: 2021-07-16 stand. Laut Nummer 50 der Entscheidungsgründe von G 1/21 date: 2021-07-16 muss die Kammer beurteilen, ob ein allgemeiner Notfall vorliegt, der die Möglichkeit der Beteiligten einschränkt, an einer Präsenzverhandlung teilzunehmen. Es gab besondere Umstände, die es rechtfertigten, keine mündliche Präsenzverhandlung durchzuführen.
In T 2526/19 änderte die Kammer angesichts der damaligen Pandemieentwicklung in Bayern das Format der mündlichen Verhandlung von einer Präsenzverhandlung in eine Videokonferenz. Das für alle Teilnehmer bestehende Risiko einer Infektion sei abzuwägen gegen die Vorbehalte des Beschwerdegegners gegen eine mündliche Verhandlung als Videokonferenz, die Komplexität des Falls und die Eignung der Sache für eine Verhandlung in diesem Format. Die Kammer gelangte zu dem Schluss, dass eine Anhörung als Videokonferenz nach Art. 15a (1) VOBK 2020 tatsächlich geeignet war. Im Übrigen sei die Vereinbarkeit von Art. 15a VOBK 2020 von der Großen Beschwerdekammer in G 1/21 date: 2021-07-16 nicht infrage gestellt worden, unabhängig davon, ob ein "allgemeiner Notfall" vorlag oder nicht. Somit bleibe Art. 15a VOBK 2020 ohne Einschränkung anwendbar auf das vorliegende und auf künftige Beschwerdeverfahren.
- R 12/22
Zusammenfassung
Der Antrag auf Überprüfung in R 12/22 wurde darauf gestützt, dass die angefochtene Entscheidung in mehrfacher Hinsicht mit einem schwerwiegenden Verfahrensmangel behaftet sei, und – ebenfalls in mehrfacher Hinsicht – ein schwerwiegender Verstoß gegen Art. 113 EPÜ vorliege.
Die Große Beschwerdekammer (GBK) erörterte zunächst, dass ein Verstoß gegen die Begründungspflicht nach R. 102 g) EPÜ nicht von Art. 112a (2) d) EPÜ erfasst sei. Sie verwies auf die in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Grundsätze zum Umfang der Begründungspflicht. Die von der Antragstellerin zitierte Aussage aus der Kommentarliteratur, das Korrelat zum Äußerungsrecht nach Art. 113 (1) EPÜ bilde die Pflicht, die Entscheidungen zu begründen, müsse im Einklang mit diesen Grundsätzen stehen. Eine Behandlung des Geäußerten in den Entscheidungsgründen sei nur unter den in R 10/18 und R 10/20 dargelegten Voraussetzungen vom Recht auf rechtliches Gehör gefordert. Hingegen beinhalte das Recht auf rechtliches Gehör neben dem Äußerungsrecht das Recht auf Berücksichtigung des Geäußerten. Wenn ein Schlagwort zur Charakterisierung dieser Beziehung als nützlich empfunden werden sollte, dann würde sich der Kammer zufolge der Begriff "Korrelat" hier eignen.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) d) EPÜ, stellte die GBK fest, dass die Antragstellerin sich weder auf das Übergehen eines Antrags auf mündliche Verhandlung (R. 104 a) EPÜ) noch eines sonstigen relevanten Antrags im Verfahren (R. 104 b) EPÜ) berufen hatte, weshalb der Überprüfungsantrag diesbezüglich für unbegründet befunden wurde.
Zu den geltend gemachten Verfahrensmängeln gemäß Art. 112a (2) c) EPÜ, befand die GBK unter anderem Folgendes:
G 1/21 habe klargestellt, dass die Durchführung einer mündlichen Verhandlung in Form einer Videokonferenz grundsätzlich keinen Verstoß gegen das Recht auf rechtliches Gehör bedeute. Die Auffassung der Antragstellerin, eine nur theoretische Möglichkeit verschlechterter Kommunikation und Austauschmöglichkeit stelle bereits einen Verstoß gegen Art. 113 (1) EPÜ dar, stehe in diametralem Gegensatz zu G 1/21. In Bezug auf Art. 15a VOBK betonte die GBK, dass eine unzutreffende Ermessensausübung zugunsten der Durchführung einer mündlichen Verhandlung als Videokonferenz mangels Einfluss auf das Recht auf rechtliches Gehör keinen Verstoß gegen dieses Recht begründen könne, wenn ein konkreter praktischer Mangel weder behauptet noch ersichtlich sei.
In Bezug auf die beanstandete Zulassung des Vortrags einer Begleitperson stellte die GBK klar, dass es auf einen abstrakten Verstoß gegen die in G 4/95 aufgestellten Zulassungsvoraussetzungen bei der Prüfung eines Verstoßes gegen das Recht auf rechtliches Gehör nicht ankommen könne. Denn letzteres Recht beziehe sich auf die Möglichkeit, auf den Inhalt konkreter Äußerungen angemessen reagieren zu können, nicht auf das Recht, diesen Inhalt durch eine zum umfassenden Vortrag berechtigte und von einem zugelassenen Vertreter hierbei beaufsichtigte Begleitperson präsentiert zu bekommen.
In Bezug auf den geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge der kurzfristigen Umbesetzung der zuständigen Beschwerdekammer stellte die GBK unter anderem fest, dass aus dem Recht auf rechtliches Gehör kein Recht eines Beteiligten auf einen Nachweis folge, dass ein Kammermitglied ausreichend vorbereitet ist, weder im Falle einer kurzfristigen Einwechslung noch generell. Denn die Ausübung eines solchen Rechts würde gegen die Unabhängigkeit des betroffenen Beschwerdekammermitglieds verstoßen.
Zu dem geltend gemachten Verstoß gegen Art. 113 EPÜ infolge einer "fehlerhaften und widersprüchlichen Beurteilung" des streitpatentgemäßen Gegenstands, stellte die GBK klar, dass dies nur dann beanstandet werden könnte, wenn die Widersprüche gleichbedeutend damit wären, dass die Kammer das Vorbingen in den Entscheidungsgründen nicht behandelt hätte und dieses objektiv betrachtet entscheidend für den Ausgang des Falles gewesen wäre. Dass die widersprüchliche Begründung gleichbedeutend mit einer Nicht-Begründung ist, müsse sich aufdrängen.
Der Antrag auf Überprüfung wurde folglich als offensichtlich unbegründet verworfen.