3.8. Zurücknahme einer Anmeldung
R. 139 EPÜ gestattet die Berichtigung von sprachlichen Fehlern, Schreibfehlern und Unrichtigkeiten in beim EPA eingereichten Dokumenten. Betrifft der Antrag auf Berichtigung jedoch die Beschreibung, die Patentansprüche oder die Zeichnungen, so muss die Berichtigung derart offensichtlich sein, dass sofort erkennbar ist, dass nichts anderes beabsichtigt sein konnte als das, was als Berichtigung vorgeschlagen wird.
In J 1/11 hielt die Juristische Kammer fest, dass sowohl das Europäische Patentregister (nach Art. 127 EPÜ) als auch das Europäische Patentblatt (nach Art. 129 a) EPÜ) offizielle Informationsquellen der Öffentlichkeit seien. Nichts lasse darauf schließen, dass eine der beiden Quellen offizieller, zuverlässiger oder maßgeblicher wäre. Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers seien Eintragungen im Patentblatt ebenso wenig "in Stein gemeißelt" wie Eintragungen im Register; sie könnten entweder nach R. 140 EPÜ oder mit einer Entscheidung berichtigt werden. Was die Funktion der Unterrichtung der Öffentlichkeit betreffe, könne die Kammer aber keinen grundlegenden Unterschied zwischen Register und Patentblatt herleiten. Die Juristische Kammer entschied, dass der Antrag des Beschwerdeführers, die Zurücknahme seiner Anmeldung im Wege einer Mängelberichtigung nach R. 139 EPÜ zu widerrufen, zurückzuweisen ist. Die Juristische Kammer führte aus, dass die explizite Zurücknahme einer anhängigen Patentanmeldung von höchster Bedeutung für den Anmelder ist, weil er damit sämtliche Rechtswirkungen der Anmeldung wie etwa die Begründung eines vorläufigen Schutzrechts endgültig aufgibt. Angesichts dieser Folgen ist deshalb bei der Erklärung der Zurücknahme einer Anmeldung äußerste Vorsicht geboten. Eine Berichtigung von Mängeln in den beim EPA eingereichten Unterlagen nach R. 139 EPÜ ist nur unter genau definierten Bedingungen möglich. Im vorliegenden Fall war der Antrag auf Widerruf der Zurücknahme über einen Monat nach der Zurücknahme und nach deren Eintragung im Europäischen Patentregister beim EPA eingegangen. Jedoch kann die Zurücknahme nicht widerrufen werden, nachdem sie der Öffentlichkeit offiziell mitgeteilt wurde. Im weiteren Sinne spiegelt sich dies auch in dem – in den Zivilrechtssystemen zahlreicher EPÜ-Vertragsstaaten verankerten – Grundsatz wider, dass eine Absichtserklärung nur widerrufen werden kann, wenn der Widerruf den Adressaten vor oder gleichzeitig mit der Erklärung erreicht. S. auch J 2/15.
In J 2/15 hatte der Anmelder auf eine "grundlegende Unstimmigkeit" zwischen den Entscheidungen in den Fällen J 10/87 und J 4/97 einerseits und J 25/03 und J 1/11 andererseits hingewiesen. Die Juristische Kammer erkannte an, dass die Argumentation in den jüngsten Entscheidungen aufgrund der Entwicklung der technischen Mittel zu einer geänderten Rechtsprechung geführt hat. Dies könne aber nicht als Unstimmigkeit in der Rechtsprechung angesehen werden in dem Sinne, dass denselben Sachverhalt betreffende Fälle, die gleichzeitig entschieden würden, zu unterschiedlichen Ergebnissen führten und unterschiedlich begründet seien. Die Juristische Kammer war der Ansicht, dass diese Unstimmigkeit umfassend in J 1/11 behandelt worden sei, und sah deshalb keine Veranlassung, dies weiter zu vertiefen.
In J 19/03 erachtete die Juristische Kammer es als offensichtlich, dass eine Berichtigung von Verfahrenshandlungen mit ex-tunc-Wirkung potenziell gravierende Auswirkungen für eine Anmeldung haben kann, insbesondere wenn sie deren territoriale Ausdehnung oder die Frage betrifft, ob die Anmeldung überhaupt anhängig ist, und wenn sie ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Rechtssicherheit nicht nur der Anmelder gegenüber dem EPA, sondern auch der Öffentlichkeit begründet. Deshalb geht die Rechtsprechung der Beschwerdekammern davon aus, dass der Anmelder grundsätzlich durch seine dem EPA mitgeteilten Verfahrenshandlungen gebunden ist, sofern die Verfahrenserklärung eindeutig und vorbehaltlos war (vgl. J 11/87, ABl. 1988, 367; J 27/94, ABl. 1995, 831), und dass er diese Handlungen nicht rückgängig machen kann, als wären sie niemals vorgenommen worden (J 10/87, ABl. 1989, 323; J 4/97; s. auch J 2/15). Andererseits interpretieren die Beschwerdekammern R. 88 EPÜ 1973 (R. 139 EPÜ) als Anerkennung der weiteren rechtlichen Maxime, dass in Rechtsverfahren unter entsprechenden Umständen die wirkliche – und nicht die mutmaßliche – Absicht eines Beteiligten zu berücksichtigen ist (T 824/00, ABl. 2004, 5). In Anbetracht des Widerspruchs zwischen diesen beiden Rechtsgrundsätzen interpretiert die Rechtsprechung R. 88 Satz 1 EPÜ 1973 so, dass es in das Ermessen der zuständigen Instanz gestellt wird, die Berichtigung von Mängeln zu erlauben, weil es in dieser Regel nur heißt, dass entsprechende Fehler berichtigt werden "können". Die Juristische Kammer entschied, dass die Mitteilung über die Zurücknahme keine relevanten Fehler oder Unrichtigkeiten enthielt, die gemäß R. 88 Satz 1 EPÜ 1973 berichtigt werden könnten. Sie befand, dass es nach R. 88 Satz 1 EPÜ 1973 nicht ausreicht nachzuweisen, dass zwischen der eigentlichen Absicht des Anmelders und der von seinem Vertreter eingereichten Erklärung eine Abweichung besteht; vielmehr muss diese Abweichung darüber hinaus durch einen Fehler der Person verursacht worden sein, die befugt war, die Entscheidung über die Verfahrenshandlung vor dem EPA zu treffen. In Fällen, in denen der Beteiligte durch einen zugelassenen Vertreter vertreten wird, muss der Fehler daher nach R. 88 EPÜ 1973 grundsätzlich darin bestehen, dass dieser Vertreter seine eigenen Absichten fehlerhaft äußert.
In J 10/08 ging es um den Antrag des Beschwerdeführers, eine solche Zurücknahme nach R. 139 EPÜ zu widerrufen, weil sie laut Beschwerdeführer irrtümlich erfolgt sei. Der Fehler war nicht sachlicher, sondern gedanklicher Art. Deshalb galt es zu prüfen, ob auch ein solcher Fehler nach R. 139 EPÜ berichtigt werden kann. Die Juristische Kammer stellte fest, dass sich die Beschwerdekammern mit dieser Frage bereits in vielen Entscheidungen befasst haben. Eine dieser Entscheidungen über einen möglichen Widerruf einer Verfahrenserklärung ist J 10/87 (ABl. 1989, 323), in der auf frühere Entscheidungen verwiesen wird. In dieser Entscheidung hat die Juristische Kammer die Bedingungen herausgearbeitet, unter denen der Berichtigung einer Verfahrenserklärung zugestimmt werden kann, nämlich dass die Zurücknahme der Öffentlichkeit vom EPA noch nicht offiziell bekanntgegeben worden ist, die irrtümliche Zurücknahme einem entschuldbaren Versehen zuzuschreiben ist, die beantragte Berichtigung zu keiner wesentlichen Verzögerung des Verfahrens führt und die Interessen Dritter, die möglicherweise durch Akteneinsicht Kenntnis von der Zurücknahme erhalten haben, ausreichend geschützt sind. Die mit der vorliegenden Sache befasste Kammer erkannte an, dass der Beschwerdeführer nicht beabsichtigt hatte, die Anmeldung zurückzunehmen, sondern dies auf ein Missverständnis zwischen den verschiedenen Vertretern des Beschwerdeführers zurückzuführen war, die den Fall bearbeiteten. Die Juristische Kammer gelangte zu dem Schluss, dass die Öffentlichkeit durch die im Europäischen Patentregister veröffentlichten Angaben nicht fehlinformiert oder irregeführt worden war (der Antrag auf Widerruf der Zurücknahme war vor dem Tag eingegangen, an dem die Öffentlichkeit als offiziell über die Zurücknahme informiert gelten konnte) und dass die Zurücknahme der Anmeldung durch Berichtigung nach R. 139 EPÜ widerrufen werden könne.
In T 1673/07 argumentierte der Beschwerdeführer, dass es im Rahmen von R. 88 EPÜ 1973 (entspricht R. 139 EPÜ) zulässig sein sollte, die Zurücknahme der Benennung von Deutschland und Frankreich zu widerrufen, weil sie auf einer irrigen Annahme erfolgte. Dagegen erklärte die Kammer, dass eine Voraussetzung für einen solchen Widerruf nach der ständigen Rechtsprechung der Beschwerdekammern darin besteht, dass der betreffende Antrag gestellt wird, bevor die Zurücknahme der Öffentlichkeit offiziell bekannt gegeben wurde (s. z. B. J 15/86, ABl. 1988, 417; J 25/03, ABl. 2006, 395). Dies dient der Rechtssicherheit und der Abwägung der Interessen des Anmelders gegenüber denen Dritter und insbesondere dem Interesse, sich auf offizielle Bekanntmachungen verlassen zu können, und ist ein objektives Kriterium, das unabhängig von den eigentlichen Absichten oder Vorstellungen der Person gilt, die die betreffende Erklärung abgegeben hat. Im vorliegenden Fall war die Zurücknahme der Benennungen etwa ein halbes Jahr vor der erstmaligen Anfechtung ihrer Rechtsgültigkeit im Europäischen Patentblatt veröffentlicht worden. Abschließend wurde befunden, dass die Zurücknahme der Benennung rechtsgültig war und nicht widerrufen werden konnte.
In J 6/19 stellte die Juristische Kammer fest, dass der Antrag auf Zurücknahme, den der Anmelder widerrufen wollte, uneingeschränkt, eindeutig und bedingungslos gewesen und somit wirksam war. Unter Berufung auf J 25/03, in der vom Hinweis auf die Zurücknahme im Europäischen Patentregister bis zur Aufnahme des Antrags auf Widerruf der Zurücknahme in die Akte vier Tage vergangen waren (s. dieses Kapitel IV.B.3.8.3), befand sie daher, dass es für ihre Entscheidung nicht relevant war, dass der Antrag auf Widerruf am selben Tag eingegangen war, an dem die Zurücknahme veröffentlicht wurde. Das Zeiterfordernis der R. 139 EPÜ war nicht erfüllt.
In J 7/19 entschied die Kammer mit Verweis auf die Rechtsprechung der Beschwerdekammern zu R. 139 EPÜ (J 8/80, ABl. 1980, 293; J 4/82, ABl. 1982, 385), dass Unrichtigkeiten, die zu einer Diskrepanz zwischen der tatsächlichen und der erklärten Absicht des Beteiligten führen, nach R. 139 EPÜ berichtigungsfähig sind. Vorliegend hatte der Anmelder auf der Grundlage dieser irrigen Annahme beschlossen, die Anmeldung fallen zu lassen. Die Kammer stellte zwischen der tatsächlichen und der erklärten Absicht des Beteiligten keine Diskrepanz fest und wies die Beschwerde zurück. Nach der Rechtsprechung der Kammern sind nur Unrichtigkeiten in Bezug auf die Erklärung, ihren Inhalt oder ihre Übermittlung eine Unrichtigkeit im Sinne der R. 139 EPÜ. Die Kammer führte gute rechtspolitische Gründe für diese Beschränkung an. Würde man den Begriff der Unrichtigkeit auf ein Szenario ausdehnen, in dem die Erklärung die Absichten eines Beteiligten richtig wiedergibt, aber auf falschen Annahmen beruht, würde jede irrige Beurteilung der Offenbarung der Anmeldung, der Patentierbarkeit der Erfindung, des Prioritätsanspruchs, der gesetzlichen Bestimmungen oder der einschlägigen Rechtsprechung eine Zurücknahme potenziell berichtigungsfähig machen. Dies wäre der Rechtssicherheit abträglich. Ein Anmelder, der eine Entscheidung über die Zurücknahme getroffen hat, ohne alle relevanten Umstände zu berücksichtigen, muss die Folgen tragen.
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