4. Bestimmung der Offenbarung des einschlägigen Stands der Technik
Die Rechtsprechung der Beschwerdekammern geht von einem engen Neuheitsbegriff aus, d. h., der Offenbarungsgehalt der Entgegenhaltung umfasst keine Äquivalente zu den explizit oder implizit offenbarten Merkmalen; Äquivalente werden erst bei der Prüfung auf erfinderische Tätigkeit berücksichtigt (T 517/90). Der Äquivalente ausklammernde enge Neuheitsbegriff ist insbesondere im Bereich des Art. 54 (3) EPÜ von Bedeutung. In T 167/84 (ABl. 1987, 369) wird dazu ausgeführt: Kollidierende Anmeldungen im Sinne des Art. 54 (3) EPÜ 1973 sind von ihrem Gesamtinhalt ("whole contents") her neuheitsschädlich. Um die aus der Anwendung des "Whole-Contents-Grundsatzes" entstehenden Härten zu mildern, wird er nur bei der Neuheitsprüfung angewandt. Hier gilt seit jeher die Forderung, dass bei der Beurteilung der Neuheit strenge Maßstäbe angelegt werden müssen, um das Risiko einer "Eigenkollision" gering zu halten. Aus diesem Grund wurde in den Richtlinien ausdrücklich festgestellt, dass es nicht richtig ist, "die Lehre eines Dokuments bei der Prüfung auf Neuheit dahin gehend auszulegen, dass sie allgemein bekannte Äquivalente, die in dem Dokument nicht offenbart sind, einschließt; dies gehört in die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit" (s. Richtlinien G‑VI, 2 – Stand März 2022). Auch nach der Rechtsprechung der Beschwerdekammern umfasst der Gesamtinhalt des früheren Dokuments nicht die Merkmale, die zu den in diesem Dokument genannten äquivalent sind (s. auch T 928/93, T 1387/06). T 167/84 und T 517/90 wurden in T 1657/14 angewandt.
In T 652/01 vertrat der Beschwerdeführer die Meinung, dass ein bestimmtes Merkmal zwar nicht explizit im relevanten Dokument aus dem Stand der Technik erwähnt sei, bei analoger Anwendung dieses Dokuments aber daraus hergeleitet werden könne. Er verwies auf die Entscheidung T 952/92 (ABl. 1995, 755), deren erster Leitsatz besagt, dass "Zugänglichkeit" im Sinne des Art. 54 (2) EPÜ 1973 nicht nur die Zugänglichkeit der Offenbarung bedeutet, sondern auch die "Zugänglichkeit von Informationen, die sich daraus erschließen und herleiten lassen". Damit wären "herleitbare Äquivalente" mit eingeschlossen. Die Kammer erklärte aber, dass bei der Lektüre des Zitats aus T 952/92 im Kontext dieser Entscheidung klar sei, dass der Ausdruck "herleiten" in der Bedeutung "durch chemische Analyse eines Musters erhalten" und mit denselben Beschränkungen verwendet worden sei, die auch in G 1/92 (ABl. 1993, 277) dargelegt seien, nämlich, dass sich etwas "unmittelbar" und "eindeutig" herleiten lassen müsse.