5.5.2 Spät eingereichte Anträge
Nach Art. 15 (6) VOBK 2007 sollte die Sache am Ende der mündlichen Verhandlung vor der Kammer zur Entscheidungsreife führen, sofern nicht besondere Umstände vorlagen. Eine Änderung in einem späten Stadium (und insbesondere in der mündlichen Verhandlung) war dann gerechtfertigt, wenn sie eine angemessene Reaktion auf unvorhersehbare Entwicklungen im Verfahren darstellt – z. B. wenn sie auf Bemerkungen oder Einwände eingeht, die erstmals im Verfahren vorgebracht wurden (T 391/11, T 2385/11, in beiden ex parte Fällen wurde die Sache nach Zulassung der Anträge zur weiteren Entscheidung an die erste Instanz zurückverwiesen; siehe auch die Inter-Partes-Sache T 1869/10, in der die Kammer allerdings das Vorliegen einer unerwarteten Entwicklung verneinte). Zur jetzigen Rechtslage nach der VOBK 2020, siehe Kapitel V.A.4.5. "Dritte Stufe des Konvergenzansatzes – Vorbringen nach Zustellung der Ladung oder Ablauf der in einer Regel 100 (2) EPÜ-Mitteilung gesetzten Frist – Artikel 13 (2) VOBK 2020".
Die Reaktion auf eine unvorhergesehene Entwicklung muss zum frühest möglichen Zeitpunkt erfolgen (T 1990/07, T 1354/11, T 2072/16). Die Kammer in T 2072/16 stellte fest, dass die Tatsache, dass sie in der mündlichen Verhandlung nach Anhörung der Beteiligten ihre vorläufige Einschätzung bestätigt hatte, nicht überraschend kam und nicht als unvorhergesehene Entwicklung gelten konnte (s. z. B. T 2219/12, T 1033/10).
Der allgemeine Grundsatz lautet, dass ein in der mündlichen Verhandlung verspätet eingereichter geänderter Anspruch nur dann zulässig war, wenn er offensichtlich gewährbar ist aufgrund einer offensichtlich zulässigen Änderung (T 1273/04, T 1311/05, T 2238/09, T 1714/14). Für die Kammer muss sofort und ohne größeren Ermittlungsaufwand ersichtlich sein, dass die Änderungen den aufgeworfenen Fragen erfolgreich Rechnung tragen, ohne ihrerseits neue Fragen aufzuwerfen (T 5/10, T 1912/09, T 2219/12). Nach T 1315/08 (ex parte) ist bei neuen Anträgen, die erst in der mündlichen Verhandlung vorgelegt werden, ein besonders strenger Maßstab anzulegen. Sie sind im Prinzip nur zuzulassen, wenn durch sie noch geringfügige Einwände in einem ansonsten als gewährbar angesehenen Anspruch ausgeräumt werden, oder wenn es sich um eine Reaktion auf die Diskussionen in der mündlichen Verhandlung handelt, vor allem dann, wenn der Anspruch als Reaktion weiter eingeschränkt wird.
In T 183/09 erläuterte die Kammer in Bezug auf mehrere erst in der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsanträge, dass diese – sofern sie nicht durch Entwicklungen im Beschwerdeverfahren gerechtfertigt sind – nur zugelassen werden, wenn sie den durch die angefochtene Entscheidung und die Beschwerdebegründung vorgegebenen Umfang oder Rahmen der Diskussion nicht erweitern und zudem eindeutig zulässig sind. Daraus leitete die Kammer ab, dass die Verfahrensökonomie, d. h. die Notwendigkeit, Verfahren zügig abzuschließen und so Rechtssicherheit zu schaffen, zum Ende eines Beschwerdeverfahrens hin immer wichtiger wird. So kann sie in den letzten Phasen eines Beschwerdeverfahrens durchaus schwerer wiegen als alle anderen Aspekte des Interessenausgleichs, den die Kammer bei der Entscheidung über die Zulassung neuer Anträge oder neuer Tatsachen und Beweismittel schaffen muss (T 1993/07, T 532/08, T 562/09, T 1227/10, T 1354/11).
Die Zulassung neuer Anträge, die trotz eines im Ladungsbescheid zur Einreichung solcher Anträge bestimmten Zeitpunkts vom Patentinhaber erst in der mündlichen Verhandlung eingereicht werden, erfährt im Beschwerdeeinspruchsverfahren durch R. 116 EPÜ (R. 71a (2) EPÜ 1973) und Art. 13 (3) VOBK 2007 eine deutliche Einschränkung. Diese Hilfsanträge können auf der Grundlage von R. 116 EPÜ als verspätet zurückgewiesen werden, soweit sie nicht wegen einer Änderung des dem Verfahren zugrunde liegenden Sachverhalts zuzulassen sind (T 1105/98, T 913/03, T 494/04).
In T 1617/08 befand die Kammer, dass der Zweck einer mündlichen Verhandlung im Beschwerdeverfahren darin besteht, den Beteiligten Gelegenheit zu geben, ihre Argumente vorzutragen, und nicht darin, es dem Beschwerdeführer (Patentinhaber) zu ermöglichen, seine Anträge so oft zu ändern, bis ein akzeptabler Anspruchssatz gefunden ist. Sie ließ daher die in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge nicht zu (Art. 13 (1) VOBK 2007).
In T 1790/06 berücksichtigte die Kammer bei der Ausübung ihres Ermessens auch das Verhalten des Beschwerdegegners (Patentinhabers) während der mündlichen Verhandlung. Sie wies darauf hin, dass es auch zu der prozessualen Sorgfaltspflicht eines Beteiligten gehört, durch sein Verhalten die effiziente Durchführung einer mündlichen Verhandlung nicht zu beeinträchtigen. Eine mündliche Verhandlung diene nicht dazu, beliebig Anträge vorzulegen, sie zurückzuziehen und sie später wieder vorzulegen. Ein solches Verhalten sei weder den anderen Beteiligten, noch der Kammer zumutbar. Auch in der Sache T 2540/12 behinderte das Verhalten des Beschwerdegegners die effiziente Durchführung der mündlichen Verhandlung; hier entschied die Kammer, dass dies allein schon einen ausreichenden Grund darstellt, um den neuen Hilfsantrag nicht zuzulassen.
(i) Geänderte Anträge wurden nicht zugelassen – Beispiele
In T 162/12 wurde der während der mündlichen Verhandlung eingereichte Hilfsantrag 1 nicht zugelassen, nachdem sich die Diskussion in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen auf den in der Anlage zur Ladung der Kammer erhobenen Einwand beschränkt hatte, ohne dass neue Fragen zur Sprache gekommen wären, die den Beschwerdeführer mit einer neuen Situation hätten konfrontieren können. Mit seinem Vorgehen hatte der Beschwerdeführer sozusagen all seine Karten zurückbehalten, während die Kammer in der Anlage zur Ladung ihre Karten auf den Tisch gelegt hatte. Dies konnte nicht als für ein effizientes Verfahren förderlich angesehen werden.
In T 831/92 entschied die Kammer, dass es grundsätzlich dem Prinzip der Fairness im Verfahren widerspreche, wenn während einer mündlichen Verhandlung vor einer Beschwerdekammer ein Hilfsantrag gestellt werde. Für einen Einsprechenden sei es schwierig, auf einen nicht rechtzeitig vor der mündlichen Verhandlung eingereichten Antrag einzugehen. In T 667/04 stellte die Kammer fest, dass keine außergewöhnlichen Umstände genannt wurden, die die verspätete Einreichung des Antrags gerechtfertigt hätten. Seine Zulassung hätte gegen den Grundsatz der Verfahrensgerechtigkeit verstoßen (s. auch T 233/05 und T 1333/05).
In T 156/15 richtete der Beschwerdeführer (Patentinhaber) seine Strategie, d.h. seine weiteren Hilfsanträge, jeweils nach den Beratungsergebnissen der Kammer, was es für den Beschwerdeführer (Einsprechenden) schwer machte, darauf zu reagieren. Bei der Entscheidung über die Zulassung solch verspätet eingereichter Anträge kann es die Wahrung des Grundsatzes eines fairen Verfahrens von vornherein gebieten, die Anträge nicht zuzulassen, auch ohne Berücksichtigung spezieller Kriterien für die Ermessenausübung der Kammer, wie z. B. der Prima-facie-Gewährbarkeit.
In T 14/02 bat der Beschwerdegegner (Patentinhaber) während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer darum, weitere Anträge einreichen zu dürfen, um den beanspruchten Gegenstand enger eingrenzen zu können. Die Kammer wies dieses Gesuch aus zwei Gründen zurück: Zum einen war die Notwendigkeit eines weiteren Antrags schon vor der mündlichen Verhandlung aus der vorläufigen Stellungnahme der Kammer ersichtlich gewesen; zum zweiten würde der Gegenstand der Anträge weitere Recherchen durch die andere Partei erforderlich machen und zu einer eventuellen Zurückverweisung führen.
In T 236/11 sah die Kammer die Beanspruchung einer neuen Merksmalskombination, die im bisherigen Verfahren noch nicht beansprucht worden war, als überraschend an, so dass weder die Kammer noch der Beschwerdeführer in der Lage waren, diesen Antrag ohne Verlegung der mündlichen Verhandlung bzw. Zurückverweisung an die erste Instanz zu behandeln.
Im Ex-parte-Verfahren T 732/11 reichte der Beschwerdeführer seinen einzigen Antrag während der mündlichen Verhandlung vor der Kammer ein, nachdem die Kammer verkündet hatte, dass der frühere Antrag ihrer Auffassung nach gegen Art. 123 (2) EPÜ verstoße. Die Gründe für diese Auffassung hatte sie dem Beschwerdeführer bereits in ihrer Mitteilung zur Kenntnis gebracht. Sie befand, dass der Beschwerdeführer die Einreichung aus taktischen Gründen hinausgezögert hatte und außerdem die Möglichkeit (und sogar die Pflicht) gehabt hätte, den Antrag vor der mündlichen Verhandlung vorzubereiten, statt die Kammer zu zwingen, die mündliche Verhandlung zu unterbrechen.
In T 656/16 erfolgte die Vorlage der Hilfsanträge 8A, 8B erst in der mündlichen Verhandlung vor der Kammer. Die beiden Hilfsanträge wurden nicht zugelassen, da sie u. a. nicht eindeutig gewährbar waren. Nach der Nicht-Zulassung dieser beiden Hilfsanträge reichte der Beschwerdegegner (Patentinhaber) einen weiteren Hilfsantrag 8C ein. Dem Beschwerdegegner war aber bereits mit der Vorlage der Hilfsanträge 8A und 8B Gelegenheit gegeben worden, die bereits vor der Vorlage dieser Anträge geäußerten Bedenken der Kammer im Hinblick auf die im Verfahren befindlichen Anträge auszuräumen. Diese Gelegenheit hatte der Beschwerdegegner bewusst nicht genutzt und es vorgezogen, den von der Kammer geäußerten Bedenken nur scheibchenweise Rechnung zu tragen. Das war aus Gründen der Verfahrensgerechtigkeit, Fairness und Verfahrensökonomie weder der Kammer noch den anderen Verfahrensbeteiligten zuzumuten. Ähnlich auch T 2046/14.
(ii) Geänderte Anträge wurden zugelassen – Beispiele
In T 1067/03 (inter partes) betrachtete die Kammer die Präzisierung im Hilfsantrag als eine Reaktion auf die vorausgegangene Erörterung in der mündlichen Verhandlung. Die Änderung war auch nicht so komplex, dass sie eine abschließende Beurteilung während der mündlichen Verhandlung unmöglich gemacht hätte.
In T 1045/08 war die Kammer der Auffassung, dass die in der mündlichen Verhandlung eingereichten Hilfsanträge eine Antwort auf die gegen die früheren Anträge erhobenen Einwände darstellten und insbesondere durch die neu eingeführten Dokumente veranlasst waren. Reicht ein Beteiligter kurz vor der mündlichen Verhandlung ein relevantes Dokument ein, dann muss er akzeptieren, dass die Gegenseite unter Umständen in der mündlichen Verhandlung ebenfalls geeignete neue Anträge einreichen wird, die Fragen aufwerfen können, die im Verfahren bislang nicht zur Sprache gekommen sind.
In T 2097/10 räumte die vorgenommene Änderung die erhobenen Einwände durch Streichung von Anspruch 1 aus. Des Weiteren war der nun verbleibende unabhängige Anspruch bereits im Hilfsantrag 1 vorhanden auch prima facie gewährbar. Da die vorgenommenen Änderungen sich auf die Streichung eines Anspruchs beschränkten, wurde das Verfahren dadurch nicht unnötig verzögert.
In T 1589/11 hatte die Kammer keine Einwände gegen die Einführung neuer, in der Beschwerdebegründung nicht enthaltener Argumente des Einsprechenden. Dem Patentinhaber wurde erst in der mündlichen Verhandlung klar, dass die Kammer diese neuen Argumente für überzeugend hielt. Unter diesen Umständen befand es die Kammer für billig, dem Patentinhaber zu gestatten, daraufhin eine Erwiderung zu formulieren, zumal der neue Antrag nicht übermäßig zur Komplexität des Falls beitrug.
In T 2284/12 (ex parte) erkannte die Kammer an, dass die Hilfsanträge in Reaktion auf ihre ausführlichen Erläuterungen und Einwände eingereicht wurden, die in der mündlichen Verhandlung diskutiert worden waren. Die vorgenommenen Änderungen konnten als Versuch des Beschwerdeführers betrachtet werden, alle offenen Einwände auszuräumen. Sie warfen keine besonders komplexen neuen Fragen auf und trugen zielführend zur Diskussion bei. S. auch die ähnlichen Fälle T 2485/10, T 391/11, T 1306/11 und T 1995/12.