7.2.4 Neuheit der therapeutischen Anwendung
In T 2003/08 vom 31. Oktober 2012 date: 2012-10-31 gewährte die Kammer einen Anspruch, der auf eine neue Verwendung einer "Säule" für eine extrakorporale Behandlung gerichtet war. Der Beschwerdeführer (Einsprechende) argumentierte gestützt auf die Entscheidungen T 227/91 (ABl. 1994, 491), T 775/97 und T 138/02, in denen die Kammern den Begriff "Arzneimittel" definiert haben, dass der Anspruch 1 eine Voraussetzung nicht erfülle, um als Anspruch auf eine zweite medizinische Verwendung zu gelten, nämlich die Verwendung eines "Arzneimittels" bei der Behandlung. Das bei der Behandlung verwendete Mittel sei eine "Säule", was kein "Arzneimittel", sondern eine "Vorrichtung" sei. Nach Auffassung der Kammer ging aus der gesamten Argumentation der Entscheidung G 1/83 hervor, i) dass die Große Beschwerdekammer den besonderen Schutz für die zweite medizinische Verwendung nur für Anwendungen im medizinischen Bereich zulassen wollte, die einen "Stoff" oder ein "Stoffgemisch" betreffen, ii) dass die medizinische Wirkung durch den "Stoff" bzw. das "Stoffgemisch" erzielt wird und iii) dass sich die Begriffe "Stoff" bzw. "Stoffgemisch" zumindest auf Erzeugnisse beziehen, die chemische Substanzen oder Gemische aus chemischen Substanzen sind. Im vorliegenden Fall bestand die medizinische Wirkung, auf der die Behandlung nach Anspruch 1 beruhte, in der Entfernung von Immunoglobulin aus dem Plasma von Patienten, die an dilatativer Kardiomyopathie litten. Erzielt wurde diese Wirkung durch den "speziellen Liganden für menschliches Immunoglobulin", der unbestritten eine chemische Substanz ist. Die "Säule" diente nur als Träger für den Liganden und war für die therapeutische Wirkung nicht ausschlaggebend. Die Kammer befand deshalb, dass das zur Behandlung nach Anspruch 1 verwendete Mittel als "Stoff" bzw. "Stoffgemisch" im Sinne der Entscheidung G 1/83 zu sehen war.
In der Sache T 1758/15 betraf das Patent biologisch kompatibles, biologisch abbaubares injizierbares Füllmaterial (z. B. Kollagen oder Hyaluronsäure) zur Verwendung in einem spezifischen Verfahren. Die Verwendung umfasste die Injektion des Füllstoffs in einen Raum zwischen einem ersten Gewebe eines Körpers und einem zweiten Gewebe, wobei das erste Gewebe mit Strahlung behandelt wird, wobei der Füllstoff in dem Raum die Strahlenbelastung des zweiten Gewebes vermindert. Der Füllstoff "menschliches Kollagen" war im Stand der Technik bekannt. Bei der Auslegung des Begriffs "Stoffe oder Stoffgemische" verwies die Kammer auf die Entscheidungen G 1/83 (ABl. 1985, 60) und T 2003/08 date: 2012-10-31, in denen dieser Begriff so ausgelegt wurde, dass er der "Wirkstoff" der bestimmten konkreten medizinischen Verwendung sei. Dementsprechend sei Folgendes zu klären: a) mit welchem Mittel die therapeutische Wirkung erzielt werde und b) ob es sich dabei um eine chemische Substanz oder ein Gemisch aus chemischen Substanzen handele. Im vorliegenden Fall sei die Wirkung der Verwendung des Füllmaterials die Minderung der durch die Strahlenbehandlung bedingten Nebenwirkungen für empfindliche Organe. Diese Wirkung werde beständig der physischen Verdrängung des empfindlichen Gewebes zugeschrieben, d. h. der im Körper erzielten 3-D-Struktur. Die angesammelte Masse des Füllmaterials gelte aber nicht als chemische Substanz oder als Gemisch aus chemischen Substanzen im Sinne der Entscheidung G 1/83. Aus diesem Grund sei das Füllmaterial kein Stoff oder Stoffgemisch im Sinne des Art. 54 (5) EPÜ, und seine spezifische Verwendung könne nicht als Unterscheidungsmerkmal angesehen werden. Das unbestritten kommerziell verfügbare Kollagen sei damit neuheitsschädlich.
In T 773/10 war Anspruch 1 auf die Verwendung einer Dialysemembran zur Behandlung von multiplem Myelom gerichtet. Unstrittig war, dass alle strukturellen Merkmale der Dialysemembran bereits im Dokument D1 offenbart waren. Art. 54 (5) EPÜ besagt, dass Art. 54 (2) EPÜ die Patentierbarkeit von aus dem Stand der Technik bekannten Stoffen oder Stoffgemischen zur Anwendung in einem in Art. 53 c) EPÜ genannten Verfahren nicht ausschließt, wenn diese Anwendung nicht zum Stand der Technik gehört. Die Kammer erklärte, dass mit Art. 54 (5) EPÜ eine besondere Neuheitsbeurteilung für zweckgebundene Merkmale eingeführt worden sei. Dem Vorbringen des Beschwerdeführers zufolge war die in Anspruch 1 beanspruchte spezielle Verwendung der Dialysemembran zur Behandlung multipler Myelome, d. h. ein Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen Körpers, nicht aus dem Stand der Technik bekannt. Somit galt es zu entscheiden, ob die besondere Form der Neuheitsbeurteilung gemäß Art. 54 (5) EPÜ auf diese Membran anwendbar sein könnte und ob die beanspruchte Membran als "Stoff oder Stoffgemisch" im Sinne des Art. 54 (5) EPÜ aufgefasst werden sollte. Bezugnehmend auf die vorbereitenden Arbeiten zum EPÜ 2000 stellte die Kammer nicht infrage, dass die Entscheidung G 1/83 auf neue Anwendungen von Verbindungen oder "Stoffen" abstellt, d. h. von Erzeugnissen der pharmazeutischen Industrie, die gemeinhin als "Medikamente" oder "Arzneimittel" bezeichnet werden. Die Einlassung, dass sich der Gesetzgeber in der Entstehungsgeschichte nicht mit neuen Anwendungen anderer medizinischer Erzeugnisse als Verbindungen oder "Stoffe" befasst habe, also nicht mit den gemeinhin als "Medikamente" oder "Arzneimittel" bezeichneten pharmazeutischen Erzeugnissen, kann nicht als Beweis dafür dienen, dass er diese Erzeugnisse in den "Stoffen oder Stoffgemischen" inbegriffen wissen wollte. Die Kammer kam zu dem Ergebnis, dass sich der Begriff "Stoffe oder Stoffgemische" in Art. 54 (5) EPÜ nicht auf alle Erzeugnisse zur spezifischen Anwendung in einem in Art. 53 c) EPÜ genannten Verfahren erstreckt. Sie verwies auf T 2003/08 date: 2012-10-31 (s. oben), wo ein Anspruch gewährt worden war, der eine neue Anwendung einer "Säule" zur extrakorporalen Behandlung betraf. In dieser Entscheidung war jedoch nicht die Säule an sich als "Stoff oder Stoffgemisch" angesehen worden, deren neue Anwendung dem Erfindungsgegenstand gemäß Art. 54 (5) EPÜ Neuheit verleihen kann, sondern ein in der Säule enthaltener Ligand, der als Wirkstoff den therapeutischen Effekt bewirkte. Nach Auffassung der Kammer war der vorliegende Fall jedoch anders gelagert: die beanspruchte Dialysemembran enthielt keinen weiteren Stoff bzw. kein weiteres Stoffgemisch, der oder das als Wirkstoff im Sinne der Entscheidung T 2003/08 date: 2012-10-31 angesehen werden könnte. Folglich war die besondere Form der Neuheitsbeurteilung gemäß Art. 54 (5) EPÜ für die beanspruchte Dialysemembran nicht anwendbar. Die Anmeldung wurde zurückgewiesen.
In T 2369/10 war der unabhängige Anspruch als zweckgebundener Erzeugnisanspruch formuliert, insbesondere für eine Vorrichtung zur Verwendung in einem Verfahren zur therapeutischen Behandlung des menschlichen oder tierischen Körpers. Zu klären war hauptsächlich, ob eine zweite (oder weitere) medizinische Verwendung einer bekannten Vorrichtung Neuheit verleihen kann. Die Kammer war der Auffassung, dass die gewöhnliche Bedeutung von Art. 54 (4) und (5) EPÜ angesichts seines Wortlauts nicht über das hinaus ausgedehnt werden sollte, was der Artikel ausdrücklich einschließt. Sie sah folglich keine Grundlage für Überlegungen, dass Erzeugnissen, bei denen es sich nicht um Stoffe oder Stoffgemische handelt, durch die Bestimmungen von Art. 54 (4) und (5) EPÜ Neuheit verliehen werden könnte.
In T 264/17 stellte die Kammer fest, dass das beanspruchte Schmiermittel zum Ersatz der Synovialflüssigkeit in erkrankten Gelenken als Stoff oder Stoffgemisch im Sinne von Art. 54 (4) und (5) EPÜ gilt. Die therapeutische Wirkung der beanspruchten perfluorierten Polyether bestand darin, einen Ersatz für die Synovialflüssigkeit in erkrankten Gelenken darzustellen. Nach Ansicht der Kammer wurde diese Wirkung durch die stofflichen Eigenschaften der beanspruchten Schmiermittel erzielt.
- T 468/20
Catchword: No protection according to Article 54(5) EPC for a device