4.3. Begriff der "Verspätung"
Der Ermessensspielraum nach Art. 114 (2) EPÜ bezieht sich auf verspätet vorgebrachte Tatsachen und Beweismittel (s. z. B. T 502/98, T 986/08, T 66/14; s. auch T 1022/09, wonach mit der Einspruchsschrift eingereichte Dokumente, deren Einreichung begründet ist, automatisch Teil des Einspruchsverfahrens sind). Der Begriff der Verspätung, wie in Art. 114 (2) EPÜ aufgeführt, ist auslegungsbedürftig.
Insbesondere die Parteien im mehrseitigen Verfahren trifft eine Pflicht zur sorgfältigen und beförderlichen Verfahrensführung. Dazu gehört es, alle relevanten Tatsachen, Beweismittel, Argumente und Anträge so früh und so vollständig wie möglich vorzulegen (s. z. B. T 1955/13; s. auch T 1768/17, allerdings im Kontext der Einreichung von Anträgen). Dieses Prinzip findet Ausdruck in den Vorschriften des EPÜ, die die Behandlung von verspätetem Vorbringen regeln: generell Art. 114 (2) EPÜ (der laut den vorbereitenden Dokumenten darauf abzielt, eine nachlässige Verfahrensführung zu verhindern, T 122/84), im Erteilungsverfahren R. 137 EPÜ, im Einspruchsverfahren R. 76 (2) c) EPÜ und R. 80 EPÜ; R. 116 (1) EPÜ regelt den Zeitpunkt, bis zu dem Schriftsätze zur Vorbereitung der mündlichen Verhandlung eingereicht werden können (zum Beschwerdeverfahren s. die revidierte Fassung der Verfahrensordnung der Beschwerdekammern (VOBK 2020), ABl. 2021, A35, s. Kapitel V.A.4 "Neues Vorbringen im Beschwerdeverfahren – Rechtsprechung zur VOBK 2020" und insbesondere Kapitel V.A.4.1.2 "Vorrangiges Ziel des Beschwerdeverfahrens und Konvergenzansatz hinsichtlich Änderungen des Beteiligtenvorbringens).
Die Beschwerdekammern betonen, dass es grundsätzlich notwendig ist, dass der Einsprechende alle Einwände während der Einspruchsfrist vorbringt und ausführlich und vollständig darlegt (T 117/86, ABl. 1989, 401). Nach R. 76 (2) c) EPÜ muss die Einspruchsschrift eine Erklärung darüber enthalten, in welchem Umfang gegen das europäische Patent Einspruch eingelegt und auf welche Einspruchsgründe der Einspruch gestützt wird, sowie die Angabe der zur Begründung vorgebrachten Tatsachen und Beweismittel. In T 2165/10 stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdeführer (Einsprechende) die später vorgebrachte angebliche offenkundige Vorbenutzung in seiner Einspruchsschrift hätte erwähnen und alle sich damals in seinem Besitz befindlichen Beweismittel hätte nennen/vorlegen müssen. Das Argument des Beschwerdeführers, dass die Dokumente, über die er zum Zeitpunkt der Einspruchseinlegung verfügte, seiner Auffassung nach für eine lückenlose Beweiskette nicht ausreichten, akzeptierte sie nicht.
Ungeachtet der obigen Ausführungen gilt die "fristgerechte" Einreichung gemäß der Rechtsprechung der Beschwerdekammern nicht nur für die Tatsachen und Beweismittel, die der Einsprechende innerhalb der neunmonatigen Einspruchsfrist vorbringt, und diejenigen, die der Patentinhaber möglicherweise in seiner Stellungnahme zu den Einspruchsgründen innerhalb der hierfür vorgesehenen Frist von vier Monaten (s. Richtlinien D‑IV, 5.2, Stand März 2022) anführt.
In T 1364/12 stellte die Kammer fest, dass die von der Einspruchsabteilung nicht zugelassenen Dokumente vom Beschwerdeführer (Patentinhaber) fristgerecht in Antwort auf die Mitteilung nach R. 79 (1) EPÜ eingereicht worden waren und somit Basis des Einspruchsverfahrens hätten bilden müssen. Die Einspruchsabteilung hätte sich die Frage, ob sie die Dokumente im Rahmen einer Ermessensausübung unter dem Aspekt der Prima-facie-Relevanz zum Verfahren zulässt, nicht stellen dürfen, und es lag insoweit eine fehlerhafte Ermessensausübung vor.
Auch das Vorbringen von Tatsachen und Beweismitteln innerhalb der nachfolgenden Zeiträume kann "fristgerecht" sein, wenn es in Einklang mit dem Grundsatz der Verfahrensökonomie geschieht, wenn also die vorbringende Partei in angemessenem Maße die im Verfahren gebotene Sorgfalt hat walten lassen (T 502/98 unter Verweis auf T 201/92, T 238/92, T 532/95 und T 389/95; zitiert in T 568/02; s. auch z. B. T 574/02).
Die Vorlage neuer Tatsachen und Beweismittel würde demnach als fristgerecht gelten, wenn die Einreichung durch ein Argument oder einen von einem anderen Beteiligten angesprochenen Punkt oder durch die angefochtene Entscheidung veranlasst wurde, sodass unter diesen Umständen die neuen Tatsachen, Dokumente und/oder Beweismittel nicht früher vorgebracht werden konnten. Laut T 502/98 kann dies z. B. der Fall sein, wenn bestimmte Tatsachen oder Beweismittel erst relevant werden, nachdem ein Beteiligter unvorhersehbare Änderungen in den Ansprüchen oder neue Versuchsdaten eingereicht hat oder erstmalig das Vorhandensein eines einschlägigen allgemeinen Fachwissens bestreitet. In solchen Fällen ist ein sorgfältiger Beteiligter in der Regel nicht verpflichtet, entsprechende Tatsachen und Beweismittel schon vor einer derartigen Handlung des anderen Beteiligten zu suchen und vorzubringen (z. B. in T 986/08 angeführt). S. auch T 623/93, wo die Kammer befand, dass es bei geänderten Ansprüchen, die im Einspruchsverfahren eingereicht werden, nicht zu beanstanden sei, dass der Einsprechende neue Entgegenhaltungen und neue Argumente vorbringe, die gegen die neuen Ansprüche gerichtet seien (unter Verweis auf G 9/91, ABl. 1993, 408, Nr. 19 der Gründe).
Daher wurde die Einreichung neuer Tatsachen und Beweismittel als direkte Reaktion auf neue Vorbringen des anderen Beteiligten (T 389/95, T 320/08, T 1698/08, T 1949/09) bzw. zum frühestmöglichen Zeitpunkt im Verfahren (T 468/99, T 2551/16) oder sofort, nachdem ihre Relevanz deutlich geworden ist (T 201/92, T 502/98, T 568/02, T 574/02, T 986/08, T 998/17), als "fristgerecht" befunden (s. auch T 156/84, ABl. 1988, 372, aber auch z. B. die Entscheidungen T 1734/08 und T 733/11, in denen Vorbringen, die außerhalb der Frist nach Art. 99 (1) EPÜ eingereicht wurden, als verspätet angesehen wurden, ohne dass berücksichtigt wurde, ob die im Verfahren gebotene Sorgfalt beachtet wurde).
In T 117/02 stellte die Kammer fest, dass rechtliches Gehör zu gewähren ist, bevor verspätetes Vorbringen (hier: ein neuer Einspruchsgrund sowie neue Argumente und Beweismittel), dessen Einführung beantragt wird, zurückgewiesen wird.
Einem Einsprechenden muss Gelegenheit zu einer angemessenen Erwiderung gegeben werden, wenn sich – etwa aufgrund einer Änderung – der dem Verfahren zugrunde liegende Sachverhalt verändert hat. Je nach Art der Änderung kann dies die Einreichung weiterer Dokumente beinhalten (T 366/11).