5.12. Kriterien für die Berücksichtigung geänderter Ansprüche
In etlichen Entscheidungen wurde darauf hingewiesen, dass nicht substantiierte Hilfsanträge im Beschwerdeverfahren nicht zu berücksichtigen bzw. nicht zulässig sind (s. z. B. T 667/18).
Gemäß Art. 12 (2) VOBK 2007 (auf welchem im Art. 12 (4) VOBK 2007, der nach Art. 25 (2) VOBK 2020 in bestimmten Fällen noch anwendbar sein kann, verwiesen wird) müssen die Beschwerdebegründung und die Erwiderung den vollständigen Sachvortrag der Beteiligten enthalten. Es ist insbesondere anzugeben, aus welchen Gründen beantragt wird, die angefochtene Entscheidung abzuändern oder zu bestätigen. Der VOBK 2007 ist in ihrer Gesamtheit zu entnehmen, dass das Beschwerdeverfahren primär ein schriftliches ist, wobei Art. 12 (2) VOBK 2007 festlegt, dass das vollständige Vorbringen der Beteiligten bereits zu Beginn des Verfahrens zu erfolgen hat. Zweck dieser Bestimmung ist es, ein faires Verfahren für alle Beteiligten sicherzustellen und es der Kammer zu ermöglichen, ihre Arbeit auf der Basis eines vollständigen Vorbringens beider Seiten zu beginnen. Im zweiseitigen Verfahren sollen sowohl die Rechte als auch die Pflichten zwischen den Parteien gleich verteilt sein, sodass die Kammer ihre unabhängige richterliche Funktion wahrnehmen kann (T 217/10, T 1732/10, T 1890/09).
Laut T 2598/12 gibt es keine zeitliche Beschränkung für das Erfordernis gemäß Art. 12 (2) und (4) VOBK 2007, wonach ein im Beschwerdeverfahren eingereichter Antrag ordnungsgemäß substanziiert sein muss. Folglich gilt das Erfordernis entsprechend für neue Anträge, die in Erwiderung auf eine Mitteilung der Kammer eingereicht werden.
In T 217/10 wurde ausgeführt, dass nicht nur der Beschwerdeführer seine Beschwerde substantiiert zu begründen hat, sondern dass gleichermaßen auch der Beschwerdegegner zu einem frühen Verfahrensstadium darzulegen hat, weshalb die in der Beschwerdebegründung vorgebrachten Einwände nach seiner Ansicht nicht greifen. Wenn Hilfsanträge vorgelegt werden, erfordert dies in der Regel auch eine Begründung inwiefern diese Einwände hierdurch ausgeräumt werden (zumindest wenn dies anhand der hierin eingefügten Änderungen nicht offensichtlich ist). S. auch T 420/14.
In T 1732/10 befand die Kammer, dass es als Verfahrensmissbrauch anzusehen ist, wenn auf die Beschwerde des Einsprechenden in der Sache nicht reagiert und erst die vorläufige Stellungnahme der Kammer abgewartet wird, bevor eine inhaltliche Erwiderung eingereicht wird. Dies gilt erst recht, wenn alle Anträge, die nach dem Versenden der Ladung zur mündlichen Verhandlung eingereicht wurden, erst kurz vor der mündlichen Verhandlung vor der Kammer begründet werden. Die Kammer betrachtet solche Anträge – die nicht aus sich heraus verständlich sind – als erst an dem Tag eingereicht, an dem sie begründet werden.
Auch in T 1836/12, T 1784/14, T 2288/12, T 2101/14 und T 319/18 bestätigten die Kammern, dass nicht aus sich heraus verständliche Anträge erst an dem Tag als eingereicht gelten, an dem sie begründet werden.
Reicht ein Patentinhaber mit der Beschwerdebegründung oder Erwiderung Hilfsanträge ein, gibt aber nicht an, aus welchen Gründen, die angefochtene Entscheidung abzuändern bzw. das Patent aufrechtzuerhalten ist, können diese Hilfsanträge nicht zum Verfahren zugelassen werden (T 2355/14).
In T 568/14 befand die Kammer, dass Hilfsanträge, wenn sie ohne jegliche Erklärung eingereicht werden, als unzulässig oder nicht wirksam eingereicht angesehen werden können (s. z. B. T 253/06). Dies trifft jedoch nicht zu, wenn die Einreichung keiner Erklärung bedarf, weil die Änderungen selbsterklärend sind. Diese Voraussetzung war im vorliegenden Fall erfüllt. Nicht selbsterklärend war die Begründung in T 687/15. Der Beschwerdeführer hatte lediglich angeführt, dass die neuen Anträge als Auffangpositionen gedacht seien.
Auch in den folgenden Fällen gaben die Beschwerdeführer (Patentinhaber/Anmelder) keine (ausreichende) Begründung an und waren die Voraussetzungen des Art. 12 (2) VOBK 2007 daher nicht erfüllt.
In T 1533/13 stellte die Kammer fest, dass der Beschwerdeführer mit der Beschwerdebegründung zehn Hilfsanträge eingereicht hatte, die diverse Parameter enthielten, ohne in der Beschwerdebegründung auszuführen, warum all diese Parameter eingeführt wurden und welcher Einwand der Einspruchsabteilung damit ausgeräumt werden sollte. Durch das bloße Einreichen geänderter Ansprüche wurde der Beschwerdeführer nicht von seiner Verpflichtung befreit, in der Beschwerdebegründung ausdrücklich anzugeben, inwiefern diese Änderungen dazu dienten, die der angefochtenen Entscheidung zugrunde liegenden Einwände auszuräumen (T 933/09). Bestätigt in T 319/18.
In T 2077/13 betonte die Kammer, dass die Einreichung eines den Beteiligten bereits bekannten Antrags in einem vorgerückten Stadium des Beschwerdeverfahrens, den Beschwerdeführer nicht von seiner Verpflichtung entbindet, die Gewährbarkeit dieses Antrags zumindest in irgendeiner Form zu substanziieren.
In T 946/16 hatte der Patentinhaber in seiner Beschwerdeschrift lediglich erklärt, dass die im Hauptantrag entwickelte Argumentation zur erfinderischen Tätigkeit auch auf alle Hilfsanträge zutreffe. Dabei war nicht einmal implizit angegeben, inwiefern die im fraglichen Hilfsantrag enthaltenen Änderungen die Argumentation gegen die von der Einspruchsabteilung festgestellte mangelnde erfinderische Tätigkeit des Patents in der erteilten Fassung stützen sollten. S. auch T 2682/16.
Siehe zur Thematik der mangelnden Substantiierung auch die Entscheidungen T 1890/09, T 1836/12, T 1134/11, T 162/12, T 122/13, T 964/13, T 940/14 und T 1323/17.
- T 1842/18
Catchword: Entscheidungsgründe 4
- T 750/18
Catchword:
The requirement under Article 12(2) RPBA 2007 to present a complete case does not imply that an appellant/opponent, impugning a decision to maintain a patent in granted or amended form, has to raise objections against all dependent claims (point 4.2 of the reasons).
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”
- Jahresbericht: Rechtsprechung 2022
- Zusammenfassungen der Entscheidungen in der Verfahrensprache