4.5.4 Aufzeigen durch den Beteiligten von stichhaltigen Gründen für das Vorliegen außergewöhnlicher Umstände
Gemäß Art. 13 (2) VOBK 2020 setzt die Berücksichtigung neuen Vorbringens in der dritten Stufe des Konvergenzansatzes voraus, dass der Beteiligte stichhaltige Gründe dafür aufzeigt, dass außergewöhnliche Umstände vorliegen (s. z. B. T 1107/16, T 2486/16, T 482/19). In T 552/16 beispielsweise ließ die Kammer ein verspätet eingereichtes Dokument nicht zu, weil außergewöhnliche Umstände für seine verspätete Einreichung im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 weder vorgebracht wurden noch den Akten zu entnehmen waren (s. auch T 48/17). Die Kammer in T 1294/16 befand allerdings, dass stichhaltige Gründe dann nicht vom Beteiligten aufgezeigt werden müssen, wenn sich Umstände der Kontrolle des Beteiligten entziehen und die Kammer in Anbetracht des Zweckes des Konvergenzansatzes von Amts wegen die Umstände für außergewöhnlich hält (s. auch T 1790/17).
Außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 betreffen in der Regel neue oder unvorhergesehene Entwicklungen im Beschwerdeverfahren selbst, wie etwa von der Kammer oder einem anderen Beteiligten erhobene neue Einwände (T 2329/15, s. auch T 1702/18), während der gewöhnliche Verlauf verspätete Einreichungen nicht zu rechtfertigen vermag (siehe z. B. T 1870/15, T 2214/15, T 2539/16).
Außergewöhnliche Umstände wurden beispielsweise anerkannt, wenn die Einreichung neuer Anträge eine gerechtfertigte und fristgerechte Erwiderung auf einen von der Kammer erhobenen neuen Einwand (in ihrer Mitteilung nach Art. 15 (1) VOBK 2020, siehe z. B. T 1255/18, oder in der mündlichen Verhandlung, s. z. B. T 1561/15) darstellte. Neuer Einwand bedeutet in diesem Zusammenhang, dass dieser nicht unter die zuvor von der Kammer oder von einem Beteiligten erhobenen Einwände fällt (T 2610/16, T 42/17).
Wenn hingegen ein Einwand bereits von der erstinstanzlichen Abteilung oder einem Beteiligten erhoben worden war, wurden das Erheben dieser Einwände durch die Kammer (z. B. T 1187/16; auch im Falle einer Meinungsänderung der Kammer, z. B. T 752/16, T 995/18) oder von Einwänden, die lediglich eine Präzisierung oder Weiterentwicklung des ursprünglich erhobenen Einwands darstellten (z. B. T 2539/16, T 1080/15), oder von Einwänden gegen erfolglose Versuche, bereits erhobene Einwände auszuräumen (T 2214/15), als normale Entwicklung des Beschwerdeverfahrens angesehen und konnte die Einreichung neuer Anträge nicht rechtfertigen.
Ebenso wurden Dokumente oder neue Angriffslinien nicht zugelassen, die in Reaktion auf die vorläufige Einschätzung der Kammer, die ausschließlich auf früheren Vorbringen der Beteiligten basierte, eingereicht wurden (T 908/19).
Mehrere Entscheidungen behandeln die Frage, ob ein kausaler Zusammenhang zwischen den außergewöhnlichen Umständen und der verspäteten Einreichung der neuen Vorbringen bestehen muss (s. Kapitel V.A.4.5.4 b)). In T 2486/16 beispielsweise verlangte die Kammer der Beteiligte müsse erklären, warum die Umstände unmittelbar zur Folge hatten, dass der Beteiligte seine Anträge nicht früher einreichen konnte.
In einigen Entscheidungen legten die Kammern "außergewöhnliche Umstände" weiter aus. In T 713/14 beispielsweise berücksichtigte die Kammer bei der Einschätzung, ob außergewöhnliche Umstände vorlagen, den gesamten Hintergrund des Falls (u. a. die Tatsache, dass der Klarheitseinwand von der Einspruchsabteilung für ungerechtfertigt befunden worden war, dass der Fall lange vor Inkrafttreten der VOBK 2020 anhängig war, sowie die und die störenden Auswirkungen der COVID-19-Pandemie) sowie die Tatsache, dass der Fall durch die Änderungen auf Ausführungsformen beschränkt wurde, die in den erteilten Patentansprüchen explizit vorhanden waren, und dass der Beschwerdeführer umfassend Gelegenheit gehabt hatte, gegen alle beanspruchten Ausführungsformen Einwände zu erheben. In T 545/18 erkannte die Kammer an, dass angesichts der großen Bedeutung des vom Beschwerdeführer geltend gemachten Rechts (rechtliches Gehör) und der Tatsachen, dass von der verspäteten Einreichung kein anderer Beteiligter betroffen war und dass die Kammer in der Lage war, eine Entscheidung zu treffen, ohne die mündliche Verhandlung verlegen zu müssen, im vorliegenden Fall außergewöhnliche Umstände im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 vorlagen .
In T 1294/16 stellte die Kammer fest, dass das in den Erläuterungen in CA/3/19 angeführte Beispiel für außergewöhnliche Umstände (nämlich ein von der Kammer erhobener neuer Einwand) nahelegt, dass die Außergewöhnlichkeit nicht notwendigerweise damit verknüpft ist, dass Ereignisse in dem Sinne außergewöhnlich sind, dass sie nicht den Erwartungen entsprechen, sondern auch durch Erwägungen bezüglich des Rechtsrahmens, nämlich der Grundsätze der Verfahrensordnung, bedingt sein kann. Art. 12 und 13 VOBK 2020 setzen den "Konvergenzansatz" um, wofür die Verfahrensökonomie des Beschwerdeverfahrens die vorrangige Motivation war. Daraus leitete die Kammer ab, dass es, wenn die Zulassung (verspäteten) Vorbringens nicht die Verfahrensökonomie beeinträchtigt, angemessen ist zu akzeptieren, dass "außergewöhnliche Umstände" im Sinne von Art. 13 (2) VOBK 2020 vorliegen, sofern dies keine nachteiligen Auswirkungen für den anderen Beteiligten hat. Im betreffenden Fall ließ die Kammer die drei verspätet eingereichten Hilfsanträge zu, da sie im Ex-parte-Verfahren eingereicht worden waren und die Kammer die Änderung unverzüglich während der mündlichen Verhandlung behandeln konnte. Siehe auch z. B. T 195/20 und T 1598/18 (von derselben Kammer) sowieT 1857/19 (in der die Kammer befand, dass die Tatsache, dass eine Änderung die Verfahrensökonomie erheblich verbessert, indem sie bestehende Einwände eindeutig ausräumt, ohne neue Fragestellungen aufzuwerfen, als außergewöhnliche Umstände angesehen werden könne).
- T 2295/19
Catchword:
Änderung eines Anspruchssatzes durch Streichung von Ansprüchen. Zur Frage seiner Zulassung unter Artikel 13 (2) RPBA 2020 siehe Entscheidungsgründe Nr. 3.4.1 bis 3.4.14
- T 339/19
Catchword:
"Exceptional circumstances" in Rule 13(2) RPBA interpreted as those that compromise neither the procedural rights of the other party, nor procedural economy.
- T 2920/18
Catchword:
Amendment of a set of claims by deletion of claims. Admittance of said amended set of claims pursuant to Article 13(2) RPBA 2020: see points 3.1 to 3.16 of the Reasons for the Decision.
- T 2632/18
Catchword:
That a "new" objection was raised by a board in appeal proceedings cannot per se amount to "exceptional circumstances" within the meaning of Article 13(2) RPBA 2020 (see point 4.3 of the Reasons).
- T 988/17
Catchword:
Weder Artikel 13(2) VOBK 2020 noch die erläuternden Bemerkungen dazu in CA/3/19 enthalten eine Erklärung, wie allgemein zu bestimmen ist, ob die Umstände "außergewöhnlich" sind. Die Erläuterungen der VOBK 2020 nennen als Beispiel für solche "außergewöhnlichen" Umstände allerdings den Fall, dass die Kammer einen Einwand erstmals in einer Mitteilung erhoben hat. In diesem Fall rechtfertige die veränderte Grundlage des Beschwerdeverfahrens ein verändertes Vorbringen. Die Frage, ob umgekehrt durch geändertes Vorbringen auch die Grundlage des Beschwerdeverfahrens verändert wird, stellt somit ein mögliches Kriterium dar, das für die Beurteilung der Außergewöhnlichkeit der Umstände heranzuziehen ist (Punkt 6.3 der Entscheidungsgründe).- T 2482/22
Zusammenfassung
In T 2482/22 the appellant (opponent) raised for the first time during the oral proceedings before the board an objection of lack of novelty over D1. The appellant's representative justified the late submission by arguing that he took over the case from a colleague, who had overlooked the novelty objection when he drafted the grounds of appeal. The appellant also argued that, because this concerned a European patent, it was of utmost importance that there be no doubts concerning validity. None of these arguments convinced the board of the existence of exceptional circumstances under Art. 13(2) RPBA.
As regards the meaning of the term "exceptional circumstances", according to the board it was established jurisprudence of the boards that such circumstances concerned new or unforeseen developments in the appeal proceedings, such as new objections raised by the board or another party.
In the present case, the appellant had already overlooked that objection when they drafted the notice of opposition, which was signed by the appellant's present representative. Thus, the fact that another representative of the appellant overlooked the novelty objection when drafting the grounds of appeal was not a development of the appeal proceedings, let alone a new or unforeseen one. The appellant alone had to bear the responsibility for any such errors and mistakes.
The board understood the appellant's further argument as implying that the legitimacy of the European patent system depended on the strength of validity of patents issued by it, and that therefore any concerns of validity had to trump any other considerations, e.g. those of procedural economy and transparency or the nature of appeal proceedings as a judicial review. The board pointed out that the legislator had seen this differently, as was evident from Art. 12(2) RPBA as adopted by Decision of the Administrative Council of 26 June 2019, according to which the primary object of the appeal proceedings is to review the decision under appeal and a party should direct their appeal case at the requests, facts, objections, arguments and evidence on which the decision under appeal is based. As a consequence, the possibility of a party to change its case or add to it was very limited, increasingly so as the appeal procedure progressed (see document CA/3/19, points 47 and 48, explaining the convergent approach underlying Art. 12 and 13 RPBA, as well as the explanatory remarks to these articles, reproduced in OJ 2020, Supplementary publication 2).
The board further explained that Art. 12 and 13 RPBA lay out the criteria by which the boards have to exercise their discretion when considering amendments to a party's appeal case. Art. 12(4) and 13(1) RPBA do still include criteria that could be seen as reflecting on the merits or relevance of new submissions (e.g. suitability to address issues), albeit subject to justifying reasons. Indeed, and following established case law (G 7/95, OJ 1996, 626), at an early appeal stage it might still be possible to consider novelty, even if not raised before, vis-a-vis a closest prior art already cited against inventive step, but only in the context of assessing inventive step. The board pointed out, however, that such criteria are entirely absent from the wording Art. 13(2) RPBA which was purposely chosen to express the much more stringent criterion applicable at this last stage of the appeal proceedings. The board rejected the approach according to which merit or relevance were somehow subsumed in the sole criterion of "exceptional circumstances". As was clear from the examples, these only concerned circumstances that arose from the way the proceedings had developed, i.e. from the procedure itself and not its subject.
- Sammlung 2023 “Abstracts of decisions”